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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

826–828

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Moser, Ulrich

Titel/Untertitel:

Identität, Spiritualität und Lebenssinn. Grundlagen seelsorglicher Begleitung im Altenheim.

Verlag:

Würzburg: Echter 2000. 383 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 42. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-02214-2.

Rezensent:

Anne Steinmeier

Ziel der sehr differenzierten und präzisen Untersuchung "ist es, auf dem Hintergrund einer Pastoral im Lebenszusammenhang", wie Moser sie von seinem Lehrer J. Müller übernimmt, "nach dem Beitrag der Seelsorge für ein gelingendes Altern in Alten(pflege)heimen zu fragen, wobei die Identität des älteren Menschen im Mittelpunkt steht" (18). Die Arbeit zeichnet sich aus durch unerbittliche Wirklichkeitsnähe, hohe seelsorgliche Sensibilität und Tiefgang in einem theologischen Urteilen, das nicht nur im katholischen Horizont Beachtung verdient.

Ausgangspunkt ist die sog. demographische Überalterung. Die interdisziplinär arbeitende neue Wissenschaft der Gerontologie hat vielschichtige Phänomene des Alterns zu klären und eine "Kultursphäre" zu schaffen, in der Altern als ein Prozess gelingen kann, der sich nicht nur in "biologischen Abbauprozessen" (27) vollzieht, sondern ebenso ein von "psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Prozessen" (24) beeinflusstes Phänomen ist. Neben Forschungen aus dem deutschsprachigen Raum (Thomae, Lehr, Kruse, Baltes) legt M. besonderes Augenmerk auf die immer noch führenden Arbeiten aus den USA. Hier werden unter dem Stichwort "kritische Gerontologie" (Moody im Anschluss an Habermas) gegen eine "einseitige Sicht des Alterns als praktisches (instrumentelles) Problem" (30) in der "Praxis der Freiheit durch emanzipatorisches Wissen" (31) neben aller nicht zu übersehenden Negativität ("Ageism", vgl. 38 ff.) positive Ideale und Sinnperspektiven für das Alter aufgezeigt. Keine der unterschiedlichen Alternstheorien (Disengagement, Aktivitäts, Kontinuitätstheorie, "Erfolgreiches Altern") entspricht nach M. dessen Multidimensionalität (44 ff.). Wichtige Modelle der Persönlichkeitsentwicklung (Erikson, Peck und Thomae, vgl. 56 ff.) verstehen die älteren Menschen - zumindest potentiell - als ihre Entwicklung vor allem durch kognitive Prozesse aktiv mitprägende Subjekte.

Liegt die Auseinandersetzung mit Belastungen, vor allem der Krise durch Verluste, im Zentrum gerontologischer Fragestellungen, wird die Frage nach Sinngebung kaum direkt, aber sehr wohl implizit in der Behandlung des Selbstverständnisses des älteren Menschen und seiner kognitiven Konstruktionen thematisiert, die nach M. "letztlich Sinnkonstruktionen" (102) sind, deren der Mensch als sich seiner selbst bewusst bedarf. "Als wichtigstes Ergebnis darf daraus gefolgert werden, daß Altern nicht generell mit einem Abbauprozeß gleichzusetzen ist, wie das im zeitgeschichtlichen Rückblick eine gängige Auffassung war, sondern von interindividueller Variabilität und interpersoneller Plastizität geprägt ist." (104) Für M. ist entscheidend, ob die sich hieraus ergebenden Chancen der Entwicklung im Alter auch in einem Alten(pflege)heim möglich sind.

Die Heimübersiedlung wird als grundlegender Wohnungswechsel wahrgenommen, der einschneidenden Einfluss auf das Leben der Menschen hat. Die Konzeption der kritischen Lebensereignisforschung konkretisiert diese als Anpassungsleistung, die eine "Neuorientierung und Neudefinition des Selbst" (154) verlangt. Neben äußeren Konflikten, die durch zwischenmenschliche bzw. ungünstige Heimstrukturen bedingt sind, bestimmen körperliche Beeinträchtigungen und psychische Erkrankungen das Leben der Menschen. "Depressive Hoffnungslosigkeit" (ebd.) ist nicht selten Ausdruck einer fehlenden Sinnperspektive. Der "Lebensort" Altenheim ist zugleich der Ort je individuellen Sterbens (140 ff.). M.s kritische Differenzierung manch verklärender Sichtweisen des Sterbeprozesses ist herauszuheben (151, auch 153 in Bezug auf die "Lebensbilanzierung").

In der Frage des Glaubens und seiner Entwicklung im Alter weist M. nach, dass Religiosität in ihren unterschiedlichsten Ausdrucksformen einen wichtigen Beitrag zu einem sinnvollen Altern leistet, weil sie Menschen Bewältigungshilfen in Belastungssituationen (Coping) geben kann, in denen sie sich selbst und ihre Situation verstehen und kreativ handelnd antworten können. Dieser Zusammenhang ist vor allem für das Auftreten depressiver Episoden bei Frauen empirisch bestätigt (188 ff.). Deutlich ist M.s grundlegendes Verständnis des Menschen "als sinnsuchendes Subjekt ..., für das es existenzbestimmend ist, Sinn und Bedeutung sowohl in seinen konkreten Lebensvollzügen als auch in seinem Lebensentwurf als Ganzem zu finden." (205) Im Anschluss an die theologische Wirkungsanalyse Werbicks und ihre Frage nach der ",Funktion' des Glaubens", nach "den befreienden Wirkungen, die der Glaube - und nur er" für eine "wahrhaft humane Lebenspraxis" "aus sich entläßt" (207), interessiert M. genauer, "welche Rolle christlicher Glaube für eine ,wahrhaft menschliche Lebenspraxis' im Leben alter Menschen spielen kann, besonders in der Situation eines Lebens im Alten(pflege)heim" (210). Ebenfalls im Anschluss an Werbick untersucht er dies in Bezug auf die Identitätsthematik, weil sie "besonders geeignet scheint, menschliche Grundsituationen in ihren positiven und negativen Aspekten in Blick zu nehmen" (ebd.). M. stellt die Identitätsdiskussion der klassischen Theorie von Mead über Berger, Luckmann, Krappmann, Habermas und Erikson dar, um vor dem Hintergrund dieses Versuches, "Antwort auf die Frage des neuzeitlichen Menschen nach sich selbst zu geben" (232), eine Theologie des Alterns zu entwickeln. Im Altern lassen die Erfahrungen von Grenzen die Frage nach sich selbst "in ganz besonderer, radikalisierter Weise" (232 f.) aufbrechen, was die Menschen nach M. "in besonderer Weise zu ... ,Hörer[n] der Botschaft'" (233) werden lässt.

Im Anschluss an H. Luther und Werbick zeigt M. die mögliche Verbindung von Glaube und Identität auf. Beschreibt Luther "die Bearbeitung der Erfahrung von Grenzen geradezu als die ,Mitte der Praktischen Theologie'" (234), stellt sich mit Werbick die Frage, wie in der Situation der Grenze "christlicher Glaube als ,identitätsbezogenes Wissen' zur Sprache gebracht werden" (235) kann. Im Gegensatz zu den Ansätzen von Berger und Luckmann führt die Deutung von Grenzerfahrungen in Luthers kritischem Identitätsbegriff des "Fragments" (239 f.) nicht zur Routine des Alltags zurück, sondern hin zu einer Erweiterung des eigenen Selbstverständnisses (vgl. 234). Für M.s Fragestellung ist im Anschluss daran der wesentliche "Beitrag des Glaubens zur Lösung der Identitätsproblematik im Alter" (239) zu begründen: In der Fragmentarität seiner Biographie ist der Mensch als "Wesen der Transzendenz" (247) in einen größeren Sinnzusammenhang aufgenommen, womit das konkrete Leben gerade nicht aufgehoben, sondern als individuelles qualifiziert ist.

Die theologische Aussage bewährt sich darin, dass sie mit ihrem Gegenteil, der "Sinnlosigkeit" als dem "stärkste[n] Einwand gegen Gott" (254), konfrontiert wird. Das Symbol des Kreuzes befreit, so M. im Anschluss an Rahner, zu einer Haltung des "Glaubens ohne Lösung" als "Annahme des menschlichen Daseins auch in seiner unbegreifliche[n] Negativität und in der Gefährdung all dessen, was dem Menschen wichtig und bedeutsam ist" (257). Der Glaube ist gerade darin identitätsstiftend, dass "er vom Zwang befreit, Sinn herstellen zu müssen, sondern darauf verweist, daß von Gott her dem Menschen schon immer und bleibend in der Gottebenbildlichkeit Sinn geschenkt ist" (285). Wesentliche Bedeutung kommt hier der Gemeinde zu, "- stellvertretend - für Gottes unbedingte Treue einzustehen" (268).

In der Konsequenz des bisher Entfalteten hat Seelsorge im Alten(pflege)heim die Aufgabe, Menschen in ihrer Suche nach ganzheitlicher Lebenserfüllung durch den Prozess des Wandels hindurch zu unterstützen. Dabei soll im Zentrum dieser Bemühung "die gelebte Spiritualität des alternden Menschen" (286) stehen, "eben seine Antwort auf die auf Grund seiner Geistigkeit gestellten Fragen nach dem Woher, Warum und Wohin seines Lebens" (288). So sollen "auf der Grundlage einer sicheren und zuverlässigen Beziehung" ältere Menschen seelsorglich darin begleitet werden, sich mit ihrer "Situation auseinanderzusetzen und - wenn möglich - aus [ihrem] bisherigen Glauben heraus nach neuen Lebensmöglichkeiten zu suchen" (358).