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Ausgabe: | Juli/August/2001 |
Spalte: | 817 f |
Kategorie: | Systematische Theologie: Dogmatik |
Autor/Hrsg.: | Grau, Karin |
Titel/Untertitel: | "Healing Power" - Ansätze zu einer Theologie der Heilung im Werk Paul Tillichs. |
Verlag: | Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 251 S. gr.8 = Tillich-Studien, 4. Kart. DM 49,80. ISBN 3-8258-4529-X. |
Rezensent: | Gunther Wenz |
In der vierten Strophe seines Liedes "Nun laßt uns Gott dem Herren / Dank sagen und ihn ehren" bekennt der 1532 im thüringischen Mühlhausen geborene Philosophieprofessor und Dichter Ludwig Helmbold, der seit 1571 als Pfarrer und nachmaliger Superintendent in seiner Heimatstadt wirkte, im Chor der christlichen Gemeinde: "Ein Arzt ist uns gegeben, / der selber ist das Leben; / Christus, für uns gestorben, / der hat das Heil erworben." (Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen Nr. 320) Das Bekenntnis zu Jesus Christus als Arzt hat am neutestamentlichen Zeugnis einen unmittelbaren Anhalt: "Kaum ein Bild hat sich der urchristlichen Überlieferung so tief eingeprägt, wie das von Jesus als dem großen Wunderarzt." (ThWNT III, 204) Auch als Selbstbezeichnung Jesus klingt die Vokabel "Arzt" gelegentlich an, etwa in dem Parabelwort Mk 2,17 par sowie in Lk 4,23. Trotz dieses exegetischen Befunds hat die Vorstellung vom ärztlichen Helfer und Heiland Jesus Christus in der systematischen Theologie der Moderne vielfach nicht die ihr gebührende Berücksichtigung gefunden. Eine Ausnahme hiervon bildet Paul Tillich: In seinem Denken nimmt der Problemkreis von Krankheit und Heilung eine zentrale Stellung ein.
Es ist das erklärte Ziel der im WS 1998/99 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommenen Untersuchung, Tillichs Heilungstheologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung unter Berücksichtigung christologischer, soteriologischer, pneumatologischer, eschatologischer sowie insbesondere anthropologischer Gesichtspunkte zur Darstellung zu bringen. Dieses Ziel ist in bemerkenswerter Weise erreicht worden. G.s Studie erbringt nicht nur einen wesentlichen Beitrag zu einem bisher eher vernachlässigten Aspekt der Tillichforschung, sondern eröffnet zugleich wichtige Einsichten für ein Christentumsverständnis, das am Menschen als einer differenzierten Leib-Seele-Einheit orientiert ist. Ihre praktischen Erfahrungen als Krankenhausseelsorgerin kamen der Vfn. hierbei sicherlich zugute.
Die Darstellung von Tillichs Theologie der Heilung folgt einem diachronen Verfahren. Den Einsatzpunkt markiert die Marburger Dogmatik von 1925, in der das Thema erstmals angesprochen, jedoch noch nicht im Detail verhandelt wird. Wichtig sind die auf das Frühwerk konzentrierten Analysen gleichwohl, da sie Bezüge zur augustinischen Selbsterforschung, zur Motivik Kierkegaards und insbesondere zur Systemanlage der Philosophie Schellings im Allgemeinen und des späten Schelling im Besonderen herausarbeiten. Mitte der 40er Jahre tritt die Thematik von Krankheit und Heilung in den Vordergrund von Tillichs Werk. U. a. in dem Vortrag "The Relation of Religion and Health" von 1946 nehmen sein spezifisches "Salvation"-Konzept und sein Verständnis der Theologie als einer therapeutischen Disziplin klare Konturen an. Ließen sich schon in den 20er Jahren starke, wenngleich eher indirekte Affinitäten Tillichs zur jugendbewegten Körperkultur und vergleichbaren Entwicklungen beobachten, so öffnet sich sein Theoriesystem in der Neuen Welt der Vereinigten Staaten von Amerika direkt und in expliziter Weise Einflüssen etwa des "Mental Hygiene Movements" oder des pfingstlerischen "faith healing", ohne darüber die nötige Reflexionsdistanz zu verlieren. "Salvation" wird als ein Individuum, Gesellschaft und Natur integrierender und zu integrer Ganzheit anleitender Akt kosmischen Heilens verstanden.
Angesichts der Weite dieses Horizonts mag es verwundern und vielleicht auch enttäuschen, wie nüchtern und vergleichsweise zurückhaltend Tillich das "Salvation"-Konzept in das opus magnum seiner "Systematischen Theologie" eingefügt hat. Man kann darin allerdings auch einen Vorzug entdecken und das umso mehr, als Tillich sein Heilungsverständnis mit einem eindeutigen christologischen Kriterium versieht. Es ist das Bild des Heilandes, an welchem sich christliche Heilungs- und Heilserwartungen ausschließlich zu orientieren haben. Die Vfn. hat das deutlich herausgearbeitet und dabei erhellende Zusammenhänge zwischen der christologischen Chiffre vom "Neuen Sein" und einer auf dem Gedanken "accepting acceptance" basierenden Reformulierung der traditionellen reformatorischen Rechtfertigungslehre aufgewiesen. Für das Spätwerk Tillichs ist sodann vor allem der pneumatologische Aspekt und das Verhältnis von Heilung und Heiligem Geist bedeutsam geworden. Auch in diesem Kontext bietet G. eindringliche Interpretationen, die auch dann ungeteilte Aufmerksamkeit verdienen, wenn man der These einer fortschreitenden Intellektualisierung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes bei Tillich und einer dichotomischen bzw. trichotomischen Zergliederung und Hierarchisierung ursprünglicher anthropologischer Ganzheit skeptisch begegnet und den Erwägungen zu einer rezeptionsästhetischen Christologie im Schlussteil der Arbeit, der sich Tillichs interreligiösem Vermächtnis und dessen Implikationen für eine Theologie der Heilung widmet, nur bedingt zu folgen bereit ist. Ein wichtiger Vorzug der lesenswerten Studie besteht nicht zuletzt darin, biographische und werkgeschichtliche Gesichtspunkte simultan in den Blick zu nehmen und neben der wissenschaftlichen Literatur insbesondere Tillichs Predigten die nötige Beachtung zu schenken.
In dieser Perspektive legt sich eine erneute Reminiszenz an den eingangs erwähnten Liederdichter Helmbold nahe. Der ebenso fromme wie gelehrte Mann starb im Jahre 1598 an der Pest. Heilung und Heil gehören zusammen und sind theologisch doch zugleich sorgsam zu unterscheiden, damit dann, wenn keine Medizin mehr zu helfen vermag, der Blick auf jenen Arzt erschlossen wird, von dem Helmbold bekannte: "Sein Wort, sein Tauf, sein Nachtmahl /dient wider alles Unheil; / der Heilig Geist im Glauben / lehrt uns darauf vertrauen. // Durch ihn ist uns vergeben / die Sünd, geschenkt das Leben. / Im Himmel solln wir haben, / o Gott, wie große Gaben!"