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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

813–816

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

(1) Diederich, Martin (2) Schlenke, Dorothee

Titel/Untertitel:

(1) Schleiermachers Geistverständnis. Eine systematisch-theologische Untersuchung seiner philosophischen und theologischen Rede vom Geist.
(2) "Geist und Gemeinschaft". Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit.

Verlag:

(1) Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999. 375 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 88. Kart. DM 104. ISBN 3-525-56295-0.
(2) Berlin-New York: de Gruyter 1999. XII, 480 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 86. Lw. DM 218,-. ISBN 3-11-015720-9.

Rezensent:

Andreas Arndt

Die hier anzuzeigenden Arbeiten besetzen ein von der Schleiermacher-Forschung weitgehend vernachlässigtes Feld, denn der Geistbegriff Schleiermachers ist bisher (vgl. Diederich, 20 ff.) nur von vier Autoren zum Gegenstand spezieller Untersuchungen gemacht worden. Dies dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass Schleiermachers Verständnis von "Geist", wie auch andere Geistbegriffe der nachkantischen Philosophie, philosophisch im Schatten Hegels steht. Zum anderen ist Schleiermachers Geistbegriff im 20. Jh. theologisch dem Verdikt der Dialektischen Theologie ausgesetzt gewesen, die darin nur Ungeist (Brunner) und - wegen des verfehlten Gegensatzes von Geist und Natur - eine Irrlehre (Barth) zu erkennen vermochte. In seiner philosophischen Bedeutung unterscheidet sich Schleiermachers Geistbegriff - trotz aller Parallelen, die sich etwa zwischen Schleiermachers Ethik und der Hegelschen Geistesphilosophie ziehen ließen - speziell von demjenigen Hegels dadurch, dass ,Geist' bei ihm nicht (um eine von Odo Marquard in diesem Zusammenhang eingeführte Unterscheidung zu zitieren) Fundamentalbegriff, sondern Komplementärbegriff ist, d. h. der ,Geist' bleibt notwendig auf ein Gegenüber verwiesen und damit der Sphäre der Endlichkeit und des Gegensatzes verhaftet; er kommt nicht, wie dies bei Hegel der Fall ist, aus der Natur so zu sich selbst zurück, dass er sich in sich selbst völlig durchsichtig wird und als reine Selbstbezüglichkeit realisiert. Der Geist bleibt demnach bei Schleiermacher Moment einer übergeordneten, absoluten Einheit, die weder als geistige bezeichnet noch geistig zureichend erfasst werden kann; ,Geist' ist Moment der Erscheinung des Absoluten, nicht das Absolute selbst. Hierin begründen sich auch die spezifisch theologischen Schwierigkeiten einer Rede vom Geist unter den Vorzeichen einer negativen Theologie. Zugespitzt erscheinen diese Schwierigkeiten in derjenigen Struktur, die nach Schleiermacher den höchsten Punkt des individuellen geistigen Lebens darstellt, dem unmittelbaren Selbstbewusstsein als Gefühl, das als nichtreflexives Bewusstsein der eigenen Endlichkeit zugleich Innewerden des Absoluten und darin sowohl einer philosophischen Auslegung (wie in der Dialektik) als auch einer theologischen (wie in der Glaubenslehre) fähig sein soll. Schleiermachers Geistbegriff führt daher, wiewohl er bei ihm nicht als Fundamentalbegriff konzipiert ist, unmittelbar in die zentralen philosophischen und theologischen Problematiken Schleiermachers hinein und erzwingt eine Auseinandersetzung mit dessen systematischem Ansatz im Ganzen.

Dieser Aufgabe stellen sich beide Arbeiten in unterschiedlicher Weise. Martin Diederich geht entwicklungsgeschichtlich vor, indem er bei den Reden ,Über die Religion' und den ,Monologen' ansetzt (freilich in umgekehrter, der Chronologie nicht entsprechender Reihenfolge, weil er die ,Reden' in einer m. E. fragwürdigen Weise einseitig der Religionstheorie zuordnet, während die ,Monologen' den philosophischen Anfang repräsentieren), um dann auf die Philosophie und Theologie Schleiermachers in der Zeit seines Wirkens an der Berliner Universität zu sprechen zu kommen. Hierbei finden auf Seiten der Philosophie vor allem die Ethik und Psychologie Beachtung, auf Seiten der Theologie die Christliche Sittenlehre und die Glaubenslehre. Auffällig ist, dass D. die Dialektik fast ganz ausklammert, was sich zwar dadurch begründen lässt, dass in ihr in der Tat der Geistbegriff keine tragende Rolle spielt; gleichwohl wäre für die systematische Bestimmung des Ortes der Schleiermacherschen Rede vom Geist in philosophischer Hinsicht ein Rückgang auf diese grundlegende Disziplin m. E. unabdingbar gewesen, zumal der Vf. selbst in seiner Wertung dieser Rede völlig zu Recht auf deren transzendentale Voraussetzungen rekurriert und diesen auf Grund einer fehlenden immanenten Negativität geradezu einen Mangel an Dialektik vorwirft. Wenig einleuchtend ist auch, dass die Entwicklungsabschnitte, welche die beiden Teile der Untersuchung bilden, in den "jungen" und "reifen" Schleiermacher unterteilt werden. Abgesehen davon, dass diese Merkmale äußerlich bleiben, entfallen hierbei nicht nur Jugendschriften im engeren Sinne, sondern vor allem auch die entwicklungsgeschichtlich bedeutenden Schriften der Zeit zwischen 1800 und 1810, in denen sich allererst dasjenige System formiert, das im zweiten Teil als "reif" apostrophiert wird.

Im Unterschied zu Diederich wählt Schlenke einen streng systematischen Zugang, der Schleiermachers Dogmatik in den Mittelpunkt rückt, diese jedoch nicht nur auf ihre wissenschaftssystematischen Voraussetzungen im engeren Sinne bezieht (d. h. die Kurze Darstellung, Kap. 1), sondern vor allem auch auf die "(inter)subjektivitäts-theoretischen Grundlagen der Frömmigkeitstheorie" (Kap. 2), wobei Schleiermachers Psychologie, Dialektik und Ethik ausführlich zur Sprache kommen. Hierbei stützt sich Sch. auf die von ihrem Doktorvater Eilert Herms vertretene These, dass bei Schleiermacher die Psychologie eine "subjektivitätstheoretische Basiswissenschaft" bilde, welche auch für die Dialektik und die philosophische Ethik "fundierend" sei (22; vgl. 26, Anm. 17). Die ganze Arbeit kann (auch) als der Versuch gelesen werden, diese forcierte These in Bezug auf das philosophische und theologische Denken Schleiermachers insgesamt durchzuführen und zu bewähren. Auch wenn man diesen Versuch - wie der Rez. - als notwendig gescheitert ansieht, so gelingt es der Vfn. doch, ausgehend von der Frömmigkeitstheorie (Kap. 3) den systematischen Aufbau der materialen Dogmatik durchsichtig zu machen (Kap. 4). Auf dieser Grundlage wendet sich die Vfn. dann im zweiten Teil ihrer Arbeit dem "Bildungsgang des christlich frommen Bewußtseins in der Glaubenslehre" (229) zu, und zwar zunächst der Schöpfungs- und Urstandslehre (Kap. 5), der Sündenlehre (Kap. 6) und schließlich der Gnadenlehre (Kap. 7), welche sich auf die "positive Konstitution des christlich frommen Bewußtseins" (282) bezieht. Diesem Kapitel kommt im Blick auf das Thema ,Pneumatologie' entscheidende Bedeutung zu, sofern hier die "systematische Leitthese" zu bewähren ist, dass in Schleiermachers Konzeption des Heiligen Geistes als kirchlichem "Gemeingeist" die "Funktion (frommer) Intersubjektivität für den reallebensweltlichen Aufbau individueller (frommer) Subjektivität zum Ausdruck gebracht werden soll" (7). Entsprechend dieser Aufgabe ist das 7. Kapitel auch proportioniert: Es umfasst mehr als ein Drittel des Buches (282-449). Im Ergebnis ihrer eindringenden Interpretation konstatiert die Vfn. eine für sie überzeugende "systematische Geschlossenheit" der dogmatischen Pneumatologie Schleiermachers, hält aber auch "sachliche Verkürzungen des traditionellen Themenbestandes der Pneumatologie und innere Unstimmigkeiten in der Durchführung" fest, so in der Trinitätslehre und im eschatologischen Wirken des Geistes (vgl. 452). Stimmig sei Schleiermachers dogmatische Pneumatologie aber dennoch und vor allem deshalb, "weil bereits die traditionelle Pneumatologie, insbesondere in ihrer lutherischen Fassung, eine Theorie der Bildung christlich frommer Subjektivität darstellt" (452 f.).

Zu einem wesentlich kritischeren Urteil gelangt Diederich, indem er zunächst das Verhältnis des theologischen zum philosophischen Geistverständnis bei Schleiermacher dahingehend bestimmt, dass der theologische Geistgedanke den philosophischen "umgekehrt" in sich aufnehme, indem der menschliche Geist sich nicht nur im Individuum und der Geschichte zur höchsten Vollkommenheit bilde, sondern "zugleich von seiner in Christus schon gegebenen Vollendung her" komme (355). In dem Festhalten an dieser Einsicht und der Reflexion ihrer wissenschaftlichen Verständnisbedingungen sieht der Vf. "das bleibende Verdienst von Schleiermachers Pneumatologie". Indessen habe Schleiermacher "die immanente Dialektik des Geistgedankens unzureichend durchgeführt" (ebd.): Er denke den Geist nicht als lebendigmachenden auch vom Tode Christi her, weil er in seinem Gottesgedanken "nicht über seine philosophischen Voraussetzungen hinausgeht und dem Einheitsgedanken keine theologisch begründete Negativität in ihm selber zuerkennt"; durch diese fehlende Negativität komme Schleiermacher nur zu einer "unterschiedslose[n] Einheit", in welcher "das Gegenüber von Mensch und Gott" in sich zusammenfalle und sich über Gott nichts mehr aussagen lasse, "was über seine Gegenwart im Geist hinausginge" (356). Im Unterschied zu Sch. hebt D. damit - m. E. völlig zu Recht - auf die transzendentalen Voraussetzungen der Schleiermacherschen Rede vom ,Geist' ab, welche auch die Voraussetzung und den Rahmen der Subjektivitätstheorie bilden, die Sch. in den Mittelpunkt stellt. Nicht nachvollziehbar ist dem Rez. jedoch, welche spezifisch theologische, über die philosophischen Voraussetzungen hinausgehende Negativität D. anmahnen möchte. Entweder bliebe sie bloße Behauptung jenseits des geistig Nachvollziehbaren und wäre damit in jeder Hinsicht gleichgültig, oder sie müsste auch philosophisch einzuholen sein.

Tatsächlich scheint der Vf. jedoch - unter Berufung auf den ,jungen' Schleiermacher - dazu zu neigen, jenseits des dem philosophischen Begreifen entzogenen transzendentalen Grundes einen nur der religiösen Erfahrung zugänglichen Grund anzusetzen (vgl. 67, Anm. 31), von dem aus sich der endlich-menschliche Geist (und mit ihm das philosophische Geistverständnis) in die konkrete, d. h. in sich selbst unterschiedene Gegenwärtigkeit eines als ,Gott' apostrophierten Absoluten aufheben ließe. Dem entsprechend sieht der Vf. in den Reden eine Tendenz, den Heiligen Geist als "religiöse Negativität des menschlichen Geistes selber" (80), als "Selbstunterscheidung des menschlichen Geistes in ihm" (81) zu bestimmen, d. h. aus dem Endlichen durch dessen Selbsttranszendierung immanent hervorgehen zu lassen. Dem stehe freilich die Tendenz entgegen, dass der Geist trotz aller dialektischen Negativität nur "vor die Tore der Erfahrung der undialektischen Ursprungserfahrung" führe, "in welcher das Endliche dann nicht mehr unterschieden, sondern ,vernichtet' ist und die Polarität des Geistes in die absolute Einheit zusammenfällt" (81). Letztlich mahnt D. hiermit eine andere Auffassung von Dialektik an, welche das Endliche mit einem in sich selbst unterschiedenen Absoluten vermittelt. Eine solche Dialektik, die sich anders als die Schleiermachersche den Rekurs auf unmittelbare Ursprungserfahrungen versagt, könnte freilich auch nur schwerlich auf das Begreifen des Endlichen restringiert werden: Die religiöse Rede vom Geist wäre eher in die philosophische aufgehoben als umgekehrt. Mit seinen Überlegungen dringt der Vf. in das systematische Zentrum Schleiermachers überhaupt ein, ohne das Problem systematisch erschöpfend zu behandeln. Hierzu hätte er m. E. die transzendentalen, d. h. dialektischen Voraussetzungen Schleiermachers weiter verfolgen und vielleicht auch - um der von ihm angemahnten Negativität Profil zu geben - die vielfach angedeutete Konfrontation mit Hegel durchführen müssen.

Gegenüber dem zwiespältigen Befund, zu dem D. gelangt, wirkt Sch.s Arbeit eher systematisch glättend, indem sie im Ausgang von den subjektivitätstheoretischen Voraussetzungen Schleiermachers die immanente Folgerichtigkeit und Geschlossenheit seines Geistesverständnisses herausarbeitet. Dabei werden jedoch die eigentlichen Probleme dieses Verständnisses, an denen D. sich vielfach abarbeitet, oft auch verdeckt, denn bei Sch. erscheint das fromme Gefühl als "ein innerlich angelegtes, wesentliches und unverzichtbares Moment individueller, empirischer Subjektivität" (161), welches aus einer Art Selbstreflexion des Endlichkeitsbewusstseins hervorgehe (vgl. 149 ff.). Abgesehen davon, dass solche Berufung auf die Natürlichkeit religiösen Bewusstseins wenig überzeugt, liegt hier genau das Problem, wie eine religiöse Auslegung geistig-begrifflich gar nicht vollziehbarer Gefühlszustände sich überhaupt gegenüber anderen Auslegungen legitimieren könnte. Der Rekurs auf eine immanente Reflexivität des Gefühls - Sch. spricht vom "Gefühlsgefühl" (153) - trägt nicht, weil sich das Gefühl in seiner Unmittelbarkeit, wie bereits Novalis feststellte, "nicht selber fühlen kann", d. h. einer Selbstauslegung nicht fähig, sondern immer auf die nachgängige Auslegung durch die Reflexion angewiesen ist.

Dass diese Problematik fast gar nicht in das Blickfeld der Untersuchung rückt, hängt wohl damit zusammen, dass die Vfn. in ihrer Rekonstruktion durchgängig mit der These von der fundierenden Funktion der Psychologie für die philosophisch-theologische Systematik Schleiermachers operiert. Wäre dies tatsächlich der Fall, so müsste sich in der Tat aus der psychischen Struktur der empirischen Individuen das Gefüge des spekulativen und religiösen Bewusstseins entwickeln lassen. Vernachlässigt wird dabei jedoch, dass die Psychologie bei Schleiermacher ausdrücklich auf transzendentale Voraussetzungen rekurriert, die sie voraussetzt, aber in sich nicht begründet. Ihr Hauptzweck ist es nach Schleiermacher, Blicke auf das spekulative Prinzip zu eröffnen, welches in der Dialektik transzendentalphilosophisch begründet wird und das Prinzip eben auch der Psychologie darstellt, die in diesem Sinne keine fundierende, d. h. prinzipiierende Funktion haben kann. Wäre es anders, so müsste in der Tat das subjektive Gefühl aus sich selbst heraus einer verbindlichen Auslegung fähig und ein Überstieg vom (endlichen) Geist in seinen unmittelbaren Grund möglich sein. Indessen: Dass der Inhalt der Gefühlsunmittelbarkeit die Unmittelbarkeit eines der Reflexion entzogenen Absoluten sein soll, ist auch für Schleiermacher eine spekulativ begründete und zu rechtfertigende Behauptung, kein empirisch-psychologischer Satz.

Gleichwohl behält Sch. darin Recht, dass die Subjektivitätstheorie den Angelpunkt der philosophisch-theologischen Systematik Schleiermachers und damit auch seiner Rede vom Geist darstellt. Ihre Arbeit überzeugt daher - trotz der verfehlten Einschätzung der Psychologie - vor allem als immanente Rekonstruktion seiner Pneumatologie. Wer wissen will, was Schleiermacher hierzu zu sagen hat, findet erschöpfende und fundierte Informationen. D.s Arbeit dagegen berücksichtigt, nicht zuletzt durch die Einbeziehung der Christlichen Sittenlehre, stärker die geschichtliche Dimension und führt tiefer in die Problematik der transzendentalen Voraussetzungen der Schleiermacherschen Pneumatologie hinein. Beide Arbeiten eröffnen neue Perspektiven und ergänzen einander, ohne die Diskussion zum Abschluss zu bringen.