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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

806–808

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Knahl, Andreas, Müller, Jan, Michael Städtler u. a. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart. Hrsg. vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover, in Zusammenarbeit mit dem Istituto per gli Studi Filosofici, Neapel.

Verlag:

Lüneburg: zu Klampen 2000. 249 S. 8. Kart. DM 42,-. ISBN 3-924245-91-6.

Rezensent:

Jörg Dierken

Sich heute systematisch auf Hegel zu beziehen, bedeutet Fragen gegenwärtigen Denkens mitzuverhandeln. Unter teils polemischer Distanznahme gegenüber philosophie- und werkhistorischer Hegel-Forschung wird dies denn auch nachdrücklich von den Herausgebern der Aufsatzsammlung beansprucht - wie schon der eigenwillige Titel andeutet. Mit Hegel soll ein emphatischer Vernunftanspruch auf sachhaltiges Erkennen und rationale Welteinrichtung festgehalten werden, gegen ihn aber eine materialistische Umstellung der Dialektik ,vom Kopf auf die Füße' (Marx). Seminaristisches Dozieren schlägt um in intellektuelle Generalkritik des Bestehenden. Wird dort ein quasi ontotheologisches Programm von logisch für sich notwendigen Vernunftbestimmungen beschrieben, das "aus der Idee der Einheit von Gegenstand und Denken ... selbst abgeleitet ist" (Müller, 12), so wird hier über dessen Destruktion als leerlaufender Identitätslogik sowie unter Rezitation des entschlossen gegen revisionistische (Habermas) und positivistische (Steinvorth) Verflachung verteidigten Marxschen ,Kapitals' "ein konsistentes gesellschaftlich induziertes Wahnsystem" diagnostiziert (Städtler, 137). Die "politische Konsequenz" von Hegels "theologische[r] Konstruktion in anderem Gewande" wird denn auch in all ihrer Fatalität auf den Punkt gebracht: das "Einverständnis mit dem Wirklichen" (Knahl, 81). Im Interesse an dessen schonungsloser Aufsprengung dürften sich, so mutmaßt man als Leser, die Herausgeber des Bandes treffen. Eine Orientierung über Anlass und thematische Ausrichtung der Aufsatzsammlung hätte man sich freilich an Stelle der ebenso pathetischen wie änigmatischen Formulierungen des einseitigen Vorworts gewünscht, zu dessen Exegese man die Beiträge der Herausgeber heranziehen muss.

Der Band versammelt eine schillernde Mischung von Aufsätzen von unterschiedlichem Niveau. Diese beziehen sich jeweils auf Kategorien aus Hegels ,Logik' und sind deren Abfolge entsprechend geordnet. Im Blick auf die Seinslogik diskutiert Jan Müller den "Preis" der Einholung äußerer Voraussetzungen in die Unbestimmtheit der Anfangsformative ,Sein' und ,Nichts' (8-31). Sodann analysiert Antonio Moretto in einer materialreichen philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Studie Hegels Theorie der Mathematik an der Qualität und Quantität vereinenden Kategorie des Maßes und nimmt von hier aus den Übergang der Seins- in die Wesenslogik in den Blick (32-58). Ulrich Ruschig schließlich bezieht sich auf die diesen Übergang vermittelnde Negation des Maßes im ,Maßlosen' als ,absolute Indifferenz', deren Auflösung noch des letzten Gegenstands, des ,materiellen Substrats', den "idealistischen Kardinalfehler" von Hegels "Identitätssystem" zeige (59-76, hier 75 f.).

Während Andreas Knahls "Notiz zum Fürsichsein" (77-81) sich großflächig auf die wesenslogische Kategorie der Reflexion bezieht, sucht Frank Kuhne das "Scheitern der intendierten immanenten Deduktion" der Reflexionsbestimmung ,Verschiedenheit' aus der Dialektik von ,Identität' und ,Unterschied' zu zeigen, weshalb die spekulative Logik einer außerlogischen ,Materie' bedürfe (82-102, hier 96 f.). Wie er verweist auch Michael Städtler in seinem Beitrag zum ,Widerspruch' (103-141) auf politisch-ökonomische Relationen wie Ware und Arbeitskraft, um eine Alternative zum ,Scheitern' der "Logifizierung des Anderen der Logik" (133) zu benennen. Günter Mensching beschließt die Beiträge zu wesenslogischen Kategorien mit einer dichten Studie zum ,Grund' (142-163); diese variiert den Einwand der Leere totalvermittelnder Spekulation durch Hervorhebung der inneren Zirkularität von Grund und Begründetem und insistiert auf einem unableitbaren ,Etwas' für ein jedes wissenschaftliches Begründen. Freilich wüsste man über dieses Moment gern mehr. Es scheint in der nicht spannungsfreien Konstellation eines Gegebenseins der "von sich aus erkennbare[n] Natur" für den Intellekt zu wurzeln, aus welcher gleichwohl der Intellekt allererst "entsprungen" sei und zugleich ihr gegenüber "entfremdet" - Vorausetzung sachhaltiger Erkenntnis als "Synthesis von Verschiedenem", trotz letztlich "unüberbrückbare[r] Distanz" von Denken und Natur (162).

Die weiteren Abschnitte der Wesenslogik sowie das begriffslogische Formativ ,Subjektivität' bleiben unerörtert. Dies ist angesichts von Hegels immanenter Kritik eines einsinnigen Vorrangs des ,Wesens' und seiner Derivate sowie angesichts der hierüber neu formierten Verhältnisse von stabilisierten Differenzen gleich gültiger Momente überraschend, wäre doch hier im ,Umhof der Stärke des Gegners' der Generaleinwand der Identitätslogik zu erhärten gewesen. Stattdessen gehen Bernd Hellmich (164-177), Heide Homann (178-183) und Peter Bulthaup (184-189) Hegels ,Logifizierung' naturphilosophischer Kategorien nach. Während Homann und Bulthaup nur knappe Bemerkungen zur ,Teleologie' bieten, hebt Hellmich anhand von Überlegungen zum 2. Hauptsatz der Thermodynamik die Bedingung von Ungleichgewichten für Lebensprozesse hervor - näherhin: von niedriger Entropie für die irreversibel Entropie steigernde Energiedynamik aller Lebensvollzüge -, was neben der zirkulären Selbständigkeit mechanischer und chemischer Prozesse auch die Einziehung der Materie in den Begriff sprenge. Die letzten drei Beiträge des Bandes beziehen sich auf die ,Idee'. Hans-Georg Bensch thematisiert zunächst die Idee des Erkennens als begrifflich uneinholbare, aber in gesellschaftlicher Arbeit dechiffrierbare Differenzrelation von Erkennen des Erkennens und dessen Gegenstand (190-204). Abschließend folgen zwei gehaltvolle Beiträge von Renate Wahsner und Andreas Arndt zur Hegelschen ,Methode'. Wahsner sieht bei Hegel zwar ein modernes, nicht-substantialistisches und auf Bewegungsvollzüge abstellendes Funktionsdenken expliziert; aus der allgemeinen Beziehung von Bezogenen heraus konzipiert, unterbelichte es jedoch den Aufbau des Allgemeinen durch das je besondere Sich-Beziehen der ,Bezogenen', was vor allem Defizite in der philosophischen Durchdringung empirischer Naturwissenschaft zur Folge habe (205-235). Und Arndt geht gegen eine - auch von Hegel selbst zu verantwortende - vordergründige Totalidentifikation von dialektischer ,Methode' und ,Sache selbst' den schon zu ihrer jeweiligen Bestimmung beanspruchten Unterschiedsmomenten nach, um den Boden für ein "kritisches" Methoden-Bewusstsein zu bereiten, das die ,Sache' durch die gewusste Differenz zwischen dieser und dem methodischen Denken hindurch "[auf]sucht" (236-247, hier 246 f.).

Der Beitrag von Arndt lässt exemplarisch erkennen, wie ,mit und gegen Hegel' produktiv gedacht werden kann. Denn er lenkt den Blick auf die Funktion von hintergründig bei Hegel angelegten Differenzen, um hierdurch Möglichkeiten einer kritischen Hegel-Rezeption auszuloten. Natürlich möchte man etwa fragen, wie die im endlichen Denken gewusste Differenz von diesem selbst und seiner ,Sache' sich noch in der Vollzugsform dieses Denkens als bestimmte Differenz bewähren kann, sind ihre Glieder als gewusste doch ebenso bereits vereinigt. Doch unabhängig von solchen Fragen empfiehlt sich ein Rezeptionsverfahren, das in den Hegelschen Texten gerade dort dialektisch unvermeidliche Differenzen aufzuspüren und für eine ihres eigenen perspektivischen Ortes eingedenk bleibende Umgangsweise mit der ,Spekulation' fruchtbar zu machen sucht, wo sie vermeintlich alle Differenzen zu verschlingen scheint. Dieses Rezeptionsverfahren greift das Anliegen vieler Beiträge des Bandes auf, bei Hegel dem ,Nichtidentischen' (Adorno) nachzugehen; es wehrt aber einem bloß undialektischen Einklagen dieses Moments, da es in seiner Selbstreflexion über einen nur endlichen Ort der Differenzbestimmung immer auch hinaus ist. Und darin wahrt es zugleich die Unbedingtheit und Universalität des Vernunftanspruchs der Spekulation. Den Einwand eines undialektischen Umgangs mit dem ,Nichtidentischen' provozieren demgegenüber diejenigen Beiträge, die ein fixes Ansichsein der Materie gegen ihre Einholung in logische Formative anführen und alle kategorialen Mängel der ,Logik' mit der gleichförmigen Einsicht in die Verkehrtheiten des Kapitalverhältnisses kurieren wollen.