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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

802–804

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Barash, Jeffrey A.

Titel/Untertitel:

Heidegger und der Historismus. Sinn der Geschichte und Geschichtlichkeit des Sinns. Aus dem Amerik. von K. Spranzel. Mit einem Vorwort von P. Ricoeur.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. XIV, 284 S. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-8260-1575-4.

Rezensent:

Andreas Großmann

Heidegger hat wiederholt Wert darauf gelegt, Geschichte dürfe nicht mit Historie verwechselt werden. Überwindung der Historie und des Historismus sei vielmehr vonnöten, solle der Mensch nicht in Geschichtslosigkeit versinken, der Philosophie das Denkwürdige ihrer Sache überhaupt wieder aufgehen. Die Pointe dieser Opposition begreift freilich nur, wer sieht, dass Heidegger mit "Historie" und "Historismus" nicht lediglich eine geisteswissenschaftliche Disziplin bzw. eine geistesgeschichtliche Epoche meint. Heidegger geht es sehr viel grundsätzlicher um eine metaphysische, in der Neuzeit bestimmend gewordene Haltung zur Geschichte, die diese ausschließlich "aus dem Gesichtskreis der berechnenden Bestrebungen der Gegenwart" "als das Bestell-, Herstell- und Feststellbare" voraussetzt (wie es in den Beiträgen zur Philosophie heißt). "Historismus", lesen wir in dem unlängst erst innerhalb der Gesamtausgabe vorgelegten Band Besinnung, "ist die völlige Herrschaft der Historie als Verrechnung des Vergangenen auf ein Gegenwärtiges mit dem Anspruch, dadurch das Wesen des Menschen als eines historischen - nicht geschichtlichen - Wesens endgültig festzumachen." Entsprechend hat Heidegger seine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Metaphysik nicht als eine Sache historisch "verrechnender" Philosophiegelehrsamkeit, sondern pointiert als geschichtliche Auseinandersetzung begriffen, die philosophische "Grundstellungen" allererst in ihrer Fragwürdigkeit zu entdecken und dabei "in die Einzigkeit eines ursprünglichen Fragens" vorzudringen beansprucht.

Dieser Sache des Heideggerschen Denkens sorgfältig und - Heidegger zum Trotz - unter Aufbietung einiger philosophiehistorischer Gelehrsamkeit nachgegangen zu sein, ist das Verdienst der Studie von Jeffrey Barash. Das Buch gliedert sich in zwei Teile und folgt im Wesentlichen der Werkchronologie. So reicht der erste Teil von einer Diskussion des Problems des geschichtlichen Denkens im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert über eine Vergegenwärtigung von Heideggers Frühschriften bis hin zu Sein und Zeit (15-198); der kürzere zweite Teil widmet sich sodann Arbeiten nach der so genannten "Kehre" zum seinsgeschichtlichen Denken (201-266).

Heidegger selbst hat im Rückblick auf seinen Denkweg die frühen Arbeiten als ungenügend eingeschätzt: als "völlig bestimmt durch die damals herrschenden Blickstellungen" erachtete er die Dissertation, als gar "im Ganzen mißlungen" die Habilitationsschrift. Erst nach diesen eher "pflichtmäßigen" Veröffentlichungen habe sich die Richtung seines Denkens langsam geklärt - in Richtung eines "entschlossenen Rückgangs auf die griechische Philosophie" und einer "Besinnung über die Geschichte". B.s geistesgeschichtliche Situierung der Schriften Heideggers macht diese Selbsteinschätzungen durchaus einsichtig. So verweist er u. a. auf den zunächst durch die katholische Theologie, vor allem durch Carl Braig bestimmten Gesichtskreis des frühen Heidegger, der die durch das Problem des geschichtlichen Sinns gestellte "radikale Herausforderung" (111) von vornherein entschärft habe. Eine "radikale "Wende" (113 ff.) freilich bringen die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Heidegger wird, wie er brieflich im Jahre 1919 notiert, "das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar". Und so sucht er in kritischer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Ansätzen (Windelband, Rickert, Simmel, Troeltsch, Dilthey und Spengler), in der Begegnung aber nicht zuletzt mit Paulus und dem jungen Luther die "faktische Lebenserfahrung" als Ursprung der Philosophie zu explizieren, Philosophie als "Rückgang ins Ursprünglich-Historische" (wie Heidegger damals noch formuliert) zu entfalten. Dabei trifft er sich mit zentralen Motiven der zeitgenössischen "dialektischen Theologie", namentlich Gogartens und Bultmanns, mit dem ihn über die gemeinsame Zeit in Marburg hinaus eine enge Freundschaft verbinden sollte. B. macht auf diese wichtigen zeitgeschichtlichen Konstellationen in einem eigenen Kapitel aufmerksam (143 ff.), hebt in diesem Kontext indes zu Recht die in der Sache von Heideggers Denken begründete Divergenz gerade auch von Bultmann hervor. "Wie fruchtbar auch immer sein Denken sich später für die Theologie erwiesen haben mochte, sein eigenes Denken blieb der Philosophie verbunden. Aus dieser Perspektive konnten theologische Voraussetzungen nicht ohne weiteres angenommen werden; sie mußten kontinuierlich in Frage gestellt werden" (165, vgl. 168).

Die in Bezug auf die philosophische Tradition insinuierte "Destruktion" findet denn auch in der wachsenden Distanz zur Theologie ihre Entsprechung. Sein und Zeit erörtert demgemäß das Problem des geschichtlichen Sinns "in Beziehung zur Ontologie und nicht unmittelbar in Beziehung zu den theologischen Motiven, denen man in seinen frühen Freiburger Vorlesungen begegnete" (170). Als Leitmotiv gleichsam der Schriften nach der "Kehre" enthüllt sich schließlich "die entscheidende Bedeutung der Unterstützung der traditionellen Metaphysik durch die christliche Theologie" (230), so dass die verschiedenen geistigen Traditionen des Abendlandes für Heidegger unter dem Vorzeichen der Seinsvergessenheit, einer fortschreitenden Verstellung "des nichtvorstellbaren und nichtobjektivierbaren Grundes der Wahrheit" (236) zu einer Einheit verschmelzen können. Impliziert die Konzeption einer transsubjektiven Seinsgeschichte "fatalistische" Konsequenzen, wie etwa Jürgen Habermas einwenden zu müssen meinte? B. weiß sehr wohl um den "kühnen Anspruch" von Heideggers "allumfassende[r] Analyse des geschichtlichen Zusammenhangs" (246), vermisst in solchen Stellungnahmen indes gleichwohl die Bereitschaft, "die Ernsthaftigkeit von Heideggers Hinterfragung der abendländischen Rationalität und der geistigen Traditionen des Abendlandes allgemein zu begreifen" (240). Anstatt vorschneller, sich aus Ignoranz und Verachtung speisender Kritik empfiehlt seine Lesart die Achtsamkeit auf die "Besonderheit von Heideggers Geschichtsdenken": den Versuch, "eine nichtmenschliche Grundlage der Geschichtlichkeit der Wahrheit zu denken" (257).

Derart präsentiert sich die umsichtige und gleichermaßen instruktive Untersuchung als ein nachdrückliches Plädoyer dafür, die ,unzeitgemäßen Betrachtungen' des Heideggerschen Geschichtsdenkens und ihre Implikationen für die Wahrnehmung der eigenen Zeit ernst zu nehmen, ohne dabei immanente Spannungen und Widersprüche dieses Denkens zu verschweigen. Leider kann der Übersetzung nicht annähernd solche Sorgfalt attestiert werden. Das sollte den interessierten Leser jedoch nicht von der Lektüre des Buches abhalten.