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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

799–801

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kabus, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Popularmusik, Jugendkultur und Kirche. Aufsätze zu einer interdisziplinären Debatte.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-Bruxelles-NewYork-Wien: Lang 2000. 207 S. 8 = Friedensauer Schriftenreihe: Reihe C: Musik - Kirche - Kultur, 2. Kart. DM 65,-.ISBN 3-631-35849-0.

Rezensent:

Gerd Buschmann

Nachdem populäre Kultur im Allgemeinen (vgl. u.a. H. Albrecht, 1993; H.-M. Gutmann, 1998) und Popmusik im Besonderen in den 90er Jahren in den Blickpunkt von Theologie (vgl. u.a. P. Bubmann & R. Tischer, 1992; B. Schwarze, 1997; G. Fermor, 1999) und Religionspädagogik (I. Kögler, 1994; H. Treml, 1997; A. Mertin, 1999; Chr. Zöller, 1999; U. Böhm & G. Buschmann, 2000; M. Everding, 2000) geraten ist, wendet sich nun erfreulicherweise auch die klassische Kirchenmusik dem Thema Popularmusik zu.

Auslöser scheint die neu erwachte "Diskussion um Kultur und Kirche" zu sein (vgl. u.a.: EKD-Kultur-Papier; M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000; P. Biehl & K. Wegenast, Hg., Religionspädagogik und Kultur, 2000); "die Akzeptanz der Kultur ist für die Kirche zu einer Überlebensfrage geworden" (11). Die Schärfe und Emphase, mit der der Herausgeber, Prorektor und Initiator des Forschungsprojekts "Popularmusik - Jugend - Zukunft - Kirche" des Instituts für Kirchenmusik der Theologischen Hochschule Friedensau Prof. Wolfgang Kabus (Jg. 1936) in der Einleitung und drei eigenen Beiträgen die Problematik beschreibt, stünde auch manch jüngerem Theologen und Kirchenmusiker gut an. Der Rez. hat den Band - trotz z. T. schon andernorts abgedruckter und bekannter Thesen - mit Gewinn gelesen; vermutlich nötigen gemeinsame Praxis-Erfahrungen aus der religionspädagogischen und kirchenmusikalischen Basisarbeit zur Auseinandersetzung mit Jugend- und Pop(musik)kulturen.

Die ersten fünf Beiträge befassen sich mit Popularmusik, die zweiten fünf mit Jugendkultur(en).

Der Kirchenmusiker Wolfgang Kabus, ",Wir leben doch nicht im 17. Jahrhundert' - Jugend und Popularmusik" (13-32), begreift Popmusik soziologisch (28) als Nerv von Jugendkultur, und eben nicht nur musikalisch wie so viele andere Kirchenmusiker: "von den Profis der Hochkulturen lange verachtet" (17). Medien und Märkte, Sehnsucht und Identität, Rollenfindung und Leitbildfunktion sowie Kontext sind für das Verstehen von Popmusik wichtiger als Noten und Texte. (Pop-)Kultur ist Ausdruck unserer Zeit; Jugendliche werden nicht mit, sondern durch Popmusik groß (30).

Die Theologen Gotthard Fermor, "Das religiöse Erbe in der Popmusik- musik- und religionswissenschaftliche Perspektiven" (33-52), und Bernd Schwarze, Faith in my Fashion - Faith Design - Aspekte des Religiösen in der Rock- und Popmusik (53-67), skizzieren Thesen ihrer einschlägigen Dissertationen (vgl. P. Bubmann zu Schwarze in ThLZ 123/1998, 800 f. / G. Buschmann zu Fermor in ThLZ 125/2000, 1330 ff.) und entdecken jeweils Religiöses in der Popmusik, ekstatisch-liminal-rituell oder gnostisch-transzendent-erlösend.

Der Hörfunkjournalist beim Evangeliums-Rundfunk in Wetzlar Markus Baum, "Christliche Musik zwischen Konsum und Mission" (69-76), thematisiert die Spannung christlicher Musiker zwischen kommerziellen Zwängen und missionarischem Anliegen. Offen bekennt Baum: Es ist ein Mythos, dass christliche Popkonzerte primär missionarische Ereignisse sind und christliche Popmusik vorwiegend missionarischen Zwecken dient.

Unter dem Mozart-Zitat ",Vergiß das so genannte Populare nicht' - Gedanken zum Thema Popularmusik und Kirche, dargestellt an der Bedeutung des Tanzes in der Geschichte der Kirchenmusik" (77-93), bemüht sich Wolfgang Kabus um eine Bewältigung der Spannung zwischen Popularmusik und tradierter Kirchenmusik; denn Tanz und Teufel waren für die Kirche oft Synonyme (81). Hingegen: "Musik und Bewegung gehören ursächlich zusammen" (91).

Den zweiten Teil zur Jugendkultur leitet der Kölner Musikpädagoge Jürgen Terhag ein - "Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs mit Populärer Musik in der kirchlichen Jugendarbeit" (95-100). Es kommt auf die richtige Balance zwischen Distanz und Nähe an! Hier warnt die personifizierte Pubertät alle "Junggebliebenen", "Berufs- und Altjugendlichen".

Der Hamburger Systematische Musikwissenschaftler Helmut Rösing entmythologisiert definitiv den in evangelikal-konservativen Kreisen so beliebten Hinweis auf angeblich satanisch-okkulte, "jugendgefährdende" Rückwärtsbotschaften (sog. backward masking) in der Rockmusik: "Geheime Botschaften in Rockmusik. Ästhetisches Spiel mit neuen Sounds oder ,teuflische' Verhaltensmanipulation?" (101-114).

Unter dem programmatischen Titel "Wer zu spät kommt ..." formuliert Wolfgang Kabus 9 Thesen zum Thema Jugendkultur(en) und Kirche (115-135). "Außengeleitete" Jugendkultur(en) treffen (nicht) auf "innengeleitetes" kirchliches Denken (116f). Der Subkultur-Begriff wird abgelehnt (118); Jugendkultur steht im Kontext von Erwachsenenkultur (119 ff.), sie offenbart sich nur im Vollzug, sie flukturiert erheblich ("das Stabilste ist der permanente Wechsel", 126), sie definiert sich primär über Musik ("Popularmusik ist der heimliche Erzieher", 126), sie ist Erlebniskultur (129) und Identitätsrefugium und wird damit für die Kirchen zur religiösen Konkurrenz (130).

Die Bielefelder Universität, seit langem in der Jugendforschung ausgewiesen, trägt mit dem Erziehungswissenschaftler Wilfried Ferchhoff den gehaltvollen komprimierten Beitrag "Jugendkulturen in Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts" (137-186) in den Band ein. Nach einer kurzen Gesellschaftsdiagnose und Kritik an der Jugendsubkulturdebatte skizziert Ferchhoff präzise, umfänglich und in detaillierter Kenntnis der Szenen(sprachen) die zahllosen und ausdifferenzierten aktuellen jugendkulturellen Stile: von Grunge, Funsters, Gothics, Girlies, Scatern, Rappern, Taggern, Psychobillys, Oi-Skins, Ravern bis hin zu den Stinos (Stinknormale) - eine kurze Nachhilfe (nicht nur) für kirchliche Kreise.

Einer spezifischen, weit verbreiteten Jugendkultur stellt sich endlich der Techno-Szene-Kenner und Dortmunder Theologe Udo Feist mit seinem auf D. Coupland anspielenden (allerdings schon in Praktische Theologie 32/1997, 163-179 erschienenen) Beitrag "Life after God. Theologische Erwägungen zur Jugendkultur der 90er Jahre" (187-204). Ausgehend von der Begegnung von Gregorianik und Techno in einer Hamburger Innenstadtkirche 1996 problematisiert Feist die Spiritualität der sog. Generation X und ihrer DJ-Culture zwischen "Rolemodel für die Theologie oder ... Synkretismusfalle" (201 ff.).

Nicht nur die Kirchenmusik, sondern auch die Religionspädagogik und die gesamte Praktische Theologie sowie Kirchenvertreter könn(t)en aus dem von Wolfgang Kabus herausgegebenen Band exemplarische und wesentliche Anregungen für eine (pop-)kulturelle Verortung von Theologie und Kirche entnehmen. Lediglich die Bildwelten und deren ikonographisches Repertoire, die doch mit Popmusik und Jugendkulturen heute wesentlich verbunden sind und unsere Kultur des optischen Zeitalters entscheidend prägen, erscheinen mir in dem Aufsatzband unterbelichtet.