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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

795 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Freydank, Dietrich, Sturm, Gottfried, Harney, Jutta, u. Sabine und Dieter Fahl

Titel/Untertitel:

Auf Gottes Geheiß sollen wir einander Briefe schreiben. Altrussische Epistolographie. Übersetzungen, Kommentare und eine einführende Studie.

Verlag:

Wiesbaden: Harassowitz 1999. 658 S. gr.8 = Opera Slavica N. F. 34. ISBN 3-447-04178-1.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Dieses Buch, das im Titel ein Diktum des Erzbischofs Vasilij von Novgorod (14. Jh.) aufgreift, spricht ein sehr viel weiteres Lesepublikum an, als sein Publikationsort in den Opera Slavica zunächst vermuten lässt. Denn die hier versammelten Texte gestatten nicht nur Einblicke in einen wichtigen Bereich altrussischer Literaturgeschichte - sie behandeln vielmehr, dem Wesen dieser Literatur entsprechend, Themen von theologischer Relevanz. Fragen der Schriftauslegung, der Dogmatik oder der Poimenik kommen ebenso zur Sprache wie Probleme der Kirchenpolitik oder des christlichen Alltagslebens. So hält diese bislang einzigartige Quellensammlung eine Fülle interessanter und aufschlussreicher Briefschaften bereit, deren Bedeutung für verschiedene Bereiche der Theologie schnell sichtbar wird.

Das Spektrum der Texte umfasst 106 Briefe aus der Zeit des 11.-17. Jh.s, von denen die weitaus meisten hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht werden. Auch 2 Briefe von römischen Päpsten sowie einige Schreiben griechischer Hierarchen an Adressaten in der Rus haben Aufnahme gefunden, dazu einige wenige Briefe von in Russland lebenden Ausländern sowie von im Ausland lebenden Russen. Ihre formale Charakterisierung wird in einem Eingangsteil - "Altrussische Epistolographie: Beobachtungen am Untersuchungsmaterial" (XVIII-LXVI) - mit sehr viel Umsicht vorgenommen und in einen weiten Horizont gestellt, wobei vor allem das Vorbild der Apostel- und der Kirchenväterbriefe Berücksichtigung findet. Für die in den letzten Jahren intensiv diskutierte frühchristliche Epistolographie eröffnen sich somit anhand des sorgfältig aufbereiteten Materials völlig neue Perspektiven im Blick auf einen Bereich, der bislang ohne die entsprechenden Sprachkenntisse als eine terra incognita gelten musste. Die Frage der Gattungsbestimmung wird von einem "deskriptiv-historischen" Ansatz aus in Angriff genommen. Im Gespräch mit verschiedenen Modellen zur Bestimmung von Struktur und Topik der Briefliteratur erfolgt eine umfängliche Auflistung aller Elemente, die das vorliegende Material hinsichtlich der Gestaltung von Briefanfang, Hauptteil und Briefschluss zu erkennen gibt. Zwei Übersichten über die vielfältigen Bezeichnungen für "Brief" sowie über formelhafte Briefanfänge schließen sich an.

Den Hauptteil bildet die chronologisch geordnete Sammlung der Briefe (1-529). Die breite und bunte Palette der Themen, die sich darin entfaltet, kann hier nur angedeutet werden. Hierarchen der rechtgläubigen Kirche belehren ihre Fürsten über die Irrtümer der römischen Tradition, legen ihnen die kanonische Art des Fastens dar, mahnen sie zu Frömmigkeit und Versöhnlichkeit. In seelsorgerlichen Sendschreiben werden theologische Fragen wie die nach der Realität des Paradieses oder dem Ende der Welt behandelt, Beispiele allegorischer Schriftauslegung geboten, Abstimmungen im gemeinsamen Vorgehen gegen häretische Gruppierungen vorgenommen, väterliche Ermahnungen für die Gestaltung des geistlichen Standes erteilt, Eigenheiten der Textüberlieferung (etwa am Beispiel des 3Esr = 4Esr) und der Notwendigkeit des Schriftstudiums diskutiert; selbst die soteriologische Relevanz des Bartscherens findet eine eingehende Erörterung. Wichtige Einblicke gewähren die Briefe in die Geschichte des monastischen Lebens: Die Ausführungen reichen dabei von den Gefahren der Ruhmsucht oder der Unsitte des Trinkens in den Klöstern über die Unterstützung zur Einführung des Koinobitentums, Belehrungen hinsichtlich des großen Schismas oder Fragen der Bußpraxis bis hin zu einer Darlegung der Mönchsregeln auf dem Athos oder einer Satire auf das Klosterleben. Man findet den Bericht über ein Ikonenwunder ebenso wie die Darstellung der Arbeitsweise eines Ikonenmalers. In den Bereich der Liturgiegeschichte gelangt man da, wo über das dreifache Halleluja, die Gestalt des Kreuzzeichens, über heidnische Bräuche in der Johannisnacht oder über die Eucharistie gehandelt wird. Immer wieder beherrschen kirchenpolitische Anliegen das Feld, die sich eng mit den jeweiligen Konstellationen staatlicher Politik verbinden. Eine Serie von 12 Privatbriefen aus dem Kreis der Altgläubigen um den Protopopen Avvakum bietet einen lebendigen Eindruck von der Geschichte des großen Raskol. Eine weitere Serie von 11 Birkenrindenbriefen aus Novgorod (11.-15. Jh.) enthüllt ein Stück Alltagswirklichkeit, in der es um Kaufverträge, geschäftliche Absprachen, Proteste oder Bittersuchen geht.

Jedem der Briefe ist eine Einleitung vorangestellt, die alle zum Verständnis notwendigen historischen, kulturgeschichtlichen und theologischen Zusammenhänge erklärt. Sprachliche und sachliche Details werden in einem Fußnotenkommentar mustergültig erschlossen. Einleitung und Kommentar verweisen zugleich auf die bisherige, vor allem für Theologen häufig weit entfernt liegende Literatur zu den jeweiligen Texten, die dann in einer umfänglichen Bibliographie noch einmal zusammengestellt ist. Ein Personenregister erleichtert den gezielten Umgang mit der Fülle des gebotenen Materials. 19 Briefe aus schwer zugänglichen Editionen werden am Schluss noch einmal im Faksimile abgedruckt.

Wer sich erst einmal mit dieser hervorragend präsentierten Quellensammlung befreundet hat, wird sie immer wieder dankbar zur Hand nehmen. Ausstattung und Inhalt lassen die Lektüre nicht nur zu einer Entdeckungsreise, sondern immer wieder auch zu einem reinen Lesevergnügen werden. Man kann dieses Buch mit seinen vielfältigen Themen zielgerichtet und selektiv benutzen. Man kann es auch von Deckel zu Deckel verschlingen. Es ist eine Lust zu lesen!