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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

792–794

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wawrzyn, Heidemarie

Titel/Untertitel:

Vaterland statt Menschenrecht. Formen der Judenfeindschaft in den Frauenbewegungen des Deutschen Kaiserreiches.

Verlag:

Marburg: Diagonal 1999. 275 S. 8 = Religionswissenschaftliche Reihe, 11. Kart. DM 48,-. ISBN 3-927165-60-3.

Rezensent:

Heide-Marie Lauterer

Die Vfn. will mit ihrer Studie einen Einblick in die antisemitische Praxis der Frauenvereine des Deutschen Kaiserreiches geben. Sie konzentriert sich dabei auf die zentralen Vereine der preußischen Frauenbewegung, die bürgerlich-liberale, die radikal-liberale, die konfessionelle, die patriotische und die sozialistische, nicht aber die völkische Frauenbewegung. Die Vfn. geht davon aus, dass es in der nicht-völkischen Frauenbewegung eine antisemitische Praxis gab. Deshalb fragt sie nicht, ob, sondern wie es möglich war, dass in einer sozialen Bewegung, die sich anfangs auf die Menschenrechte berufen habe und sich gegen die Diskriminierung von Frauen einsetzte, Antisemitismus Einfluss und Raum finden konnte (22). Die Vfn. gliedert ihre Studie in drei Teile. Im ersten Teil stellt sie "Theoretische Überlegungen" zum Forschungsstand, zur Quellenlage und zu methodischen Fragen an. Im Hauptteil untersucht sie in sechs Kapiteln die genannten Frauenbewegungen einschließlich des Dachverbandes "Bund deutscher Frauenvereine" (BDF) nach antisemitischen Praktiken. Unter der Überschrift "Zuwenig Menschenrecht und zuviel Vaterland" (220-227) gibt die Vfn. im Schlussteil eine kurze Auswertung und Beurteilung.

Um eine präzise Definition des Begriffes "Antisemitismus" bemüht sich die Vfn. dabei nicht, ja sie setzt sich sogar über die allgemein anerkannte historische Antisemitismusforschung explizit hinweg. Thomas Nipperdey und Reinhard Rürup haben bereits 1972 eine Definition des "modernen Antisemitismus" erarbeitet. Danach unterscheidet sich dieser vom traditionellen christlichen Antijudaismus dadurch, dass er in allen seinen Spielarten die Forderung nach der Rücknahme der Judenemanzipation, d. h. nach der Aufhebung der im 19. Jh. erfolgten staatsrechtlichen Gleichstellung der Juden, erhob. Als Begründung wurde jetzt die vermeintlich rassische Andersartigkeit, ja Minderwertigkeit der Juden angeführt. Jemand, der die Rücknahme der Judenemanzipation forderte und das auch noch rassisch untermauerte, kann also eindeutig als Antisemit bezeichnet werden.

Gegen diese klare Definition stellt sich die Vfn.: "Ich spreche von Antisemitismus auch dann, wenn er nicht rassistisch begründet war." Doch statt diesen Begriff anzuwenden, tauscht ihn die Vfn. beliebig gegen andere, ebenso wenig definierte Begriffe aus. So ist von "antijudaistischen Stereotypen" (194), von "judenfeindlichen Denkmustern" (194), von "antijüdischen Metaphern" (201), von "Antijudaismus" und von "Judenfeindlichkeit" (220) die Rede.

Dass die Vfn. die Forschungsliteratur nur sehr selektiv zur Kenntnis nimmt hat ihren Preis. Sie geht von einer durch die neue Forschung widerlegten Prämisse aus. Die liberale Bewegung in Deutschland und mit ihr die Frauenbewegung habe zunächst in der Tradition der Aufklärung gestanden und habe sich für Menschen- und Frauenrechte eingesetzt. Später habe sich diese Bewegung von den Menschenrechten abgekehrt und sei zur nationalen Bewegung mutiert. In ihrem 1996 erschienenen Buch "Intimacy & exclusion. Religious Politics in Pre-Revolutionary Baden" hat Dagmar Herzog dieses "widely shared model of an increasingly pro-Jewish trajectory of German-wide liberalization running from 1780 to 1870, followed by an antiliberal, anti-Semitic countermovement from 1870 on" (82) einer kritischen Revision unterzogen. Herzog kommt zu dem Schluss, dass dieselben Begriffe, mit denen Liberale im 19. Jh. für die Emanzipation der Juden eintraten, zum Weiterleben sublimer Formen antijüdischer Einstellungen beitrugen. Das Problem ist also nicht in der Abkehr der liberalen Bewegung von den Menschenrechten und von den Forderungen der Aufklärung zu suchen, sondern liegt im Liberalismus selbst. Von den Juden verlangten sogar die auf Emanzipation gerichteten Liberalen einen hohen Preis für ihre Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft: Sie sollten ihre religiöse Identität, ihr Judentum aufgeben (83).

Die Vfn. nimmt solche subtileren Formen antijüdischer Einstellungen, die bereits im 19. Jh. auch in der Frauenbewegung aufschienen, nicht wahr und kommt deshalb immer wieder zu widersprüchlichen Ergebnissen. So etwa, wenn dieVfn. der "sozialistischen Frauenbewegung" lobend bescheinigt, dass sie am wenigsten vom "Antisemitismus" befallen war und im nächsten Satz die Erwartungshaltung der Sozialdemokratinnen referiert, Juden und Jüdinnen würden in einer sozialistischen Gesellschaft nicht mehr an ihrer jüdischen Identität festhalten. Hier spricht die Vfn. "von einem Antisemitismus, der seinen Niederschlag "nur" in der Theorie fand, aber in der Praxis fast gar keine Auswirkungen zeitigte" (220). Hätte sie auch die völkische Frauenbewegung in ihre Untersuchung miteinbezogen - auch hier gibt es neue Forschungsergebnisse - hätte sie feststellen können, wo die Unterschiede zwischen kulturell bedingten Vorurteilen - latentem Antisemitismus - und völkischem Antisemitismus lagen.

Die begrifflichen Schwächen und die selektive Wahrnehmung der Forschung mag auf das Entsetzen einer protestantischen Theologin zurückzuführen sein, selbst antijudaistisches Denken mit der christlichen Theologie verinnerlicht zu haben: "Warum ist mir selbst nicht die Judenfeindlichkeit aufgefallen? Warum mußten mich erst jüdische Frauen darauf aufmerksam machen?" (15) Dieses vorwissenschaftliche Erschrecken darüber, dass auch grundsätzlich als emanzipatorisch bewertete Gruppen nicht frei von judenfeindlichen Haltungen waren, hinderte sie daran, einen rationalen Erklärungsansatz für das Verhalten von Frauen in ihren unterschiedlichen Handlungsräumen in der Geschichte zu finden. Der bloße "Verdacht auf Antisemitismus" (25), der ihr als Auswahlkriterium für die von ihr untersuchten Frauenvereine diente, bestätigte sich so in jedem Kapitel aufs Neue.

Interessant aber ist der Ansatz, die verschiedenen Richtungen der Frauenbewegung des Kaiserreiches miteinander zu vergleichen und auf latenten und manifesten Antisemitismus hin zu untersuchen (44.47). Die Vfn. stützt sich hier auf Shulamit Volkov, ohne deren wichtigen Aufsatz "Antisemitismus als kultureller Code" (1990) zu nennen - mündet deshalb in kein differenziertes Bild und bewegt sich in den alten Bahnen früherer Ergebnisse der Literatur zur alten Frauenbewegung (Richard Evans, Barbara Greven-Aschoff, Marlis Dürkop). Da die Vfn. ihre Begriffe nicht definiert, verwischt sie selbst die Unterschiede, die immerhin auch in ihrer Studie zum Ausdruck kommen, aber von der Vfn. nicht ausgewertet werden. Unklar bleibt überdies, aus welchem Grund sie sich immer wieder von ihrer mit gutem Recht vorgenommenen Differenzierung bezüglich der Frauenbewegung abkehrt und pauschal von "der" Frauenbewegung spricht (36.159.182.202). Für Leserinnen und Leser, die sich einen Überblick über eine komplizierte Materie auf dem Stand der neuen Forschung erhoffen, bietet der Band wenig Erkenntniszuwachs. Es kommt hinzu, dass die wissenschaftliche Lektüre durch eine ungewöhnliche Art des Literaturverzeichnisses erschwert wird. Die Vfn. hängt jedem Kapitel eine eigene Quellen- und Literaturliste an und bläht damit eine magere Literaturliste über die Maßen auf. So kommt etwa Marion Kaplans wichtiges Buch über: "Die Jüdische Frauenbewegung" (1981) siebenmal vor, ein anderer Titel derselben Autorin sechsmal.