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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

788–790

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schöllkopf, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Johann Reinhard Hedinger (1664-1704). Württembergischer Pietist und kirchlicher Praktiker zwischen Spener und den Separatisten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 232 S. 1 Taf. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 37. Lw. DM 76,-. ISBN 3-525-55821-X.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Untertitel und gelegentliche Äußerungen im Buch zeigen die vom Vf. festgestellte "Unschärfe ... bei dem Vesuch, seine [Hedingers] Positionen zu fassen" (162). Zu der vierfach geprägten Charakteristik des Untertitels kommen andere, nicht gleich erkennbar kompatible hinzu. So stehe Hedinger "zwischen der lutherischen Orthodoxie und dem frühen Pietismus seiner Zeit" (160), bald danach spezifiziert als "Theologe des frühen württembergischen Pietismus" (161, auch 162), dann freilich auch wieder "als kirchlicher Praktiker des frühen Pietismus" tituliert (77), und dies wiederum harmonisiert in der Feststellung von Hedinger als einem "praktischen Theologe[n] des frühen württembergischen Pietismus der Spenerschen Prägung" (163). Der durch Hedinger repräsentierte Pietismus ist aber auch als "lutherischer" erhoben (98), das "württembergisch" erfährt nun wiederum eine Erweiterung duch einen Vergleich mit August Hermann Francke (112). Auf anderem Gebiet, der Homiletik, "traf sich der frühe Pietismus mit dem lebendig weiterentwickelten Teil der Orthodoxie" (115). Orthodoxie - früher, lutherischer, württembergischer Pietismus sind also die mit der Gestalt Hedingers assoziierten Einordnungsfelder, wo sich das Gebiet des Separatismus hinzugesellt. Ausgegangen war der Vf. von dem Thema ,Anfänge des Spenerschen Pietismus in Württemberg' (11).

Solche ,Unschärfen' rufen ein weites Spektrum der Pietismusforschung der Nachkriegszeit auf. Mit der Gestalt des Professors in Gießen, dann Hofpredigers in Stuttgart stellt der Vf. keine unbekannte Figur vor. Friedrich Fritz, Rüdiger Mack und Wolfgang Sommer haben ihr erhellende Studien gewidmet. Aber der Vf. begibt sich auf das Grenzgebiet zwischen Kirchengeschichte und Praktischer Theologie, nicht zuletzt weil es erhebliche ,aktuelle' Anknüpfungspunkte direkter und indirekter Art gibt. Noch 1935 ist Hedinger im Gesangbuch des Altpietistischen Gemeinschaftsverbandes vertreten (131), 1965 erschien noch eine "amtliche" Ausgabe von Hedingers "Biblischem Schatzkästlein" (99/100), und in der Regelung für gottesdienstliche Veranstaltungen am Sonntag (1993) sieht der Vf. noch Spuren Hedingerscher Aussagen (178 A.72). Auch erweise sich die ,Aktualität' etwa bezüglich eines ,offenen' Verständnisses von Selbstmord oder in manchen Fragen auf dem Feld der Homiletik und Katechetik. Hier schattet sich auch der biographische Hintergrund der von Martin Brecht betreutenArbeit ab, die "neben den Aufgaben des Gemeindepfarramts" entstand. Das ist - expertus dico - ein dornenvoller Weg. Seitens der "Zunft" (wie sich akademische Theologie gelegentlich wohl ohne volle Beachtung der bedenklichen Konnotationen dieses Begriffs nennt) ist dies mit Respekt zu konstatieren, ohne das deshalb dem Vf. ein Nachlaß hinsichtlich der Anforderungen gewährt zu werden bräuchte.

Die Arbeit, von wohltuend überschaubarem Umfang, ist schnörkellos aufgebaut und durchgeführt. Einem biographischen Teil (17-75) folgt der der Theologie Hedingers anhand seiner Praxis nachspürende Abschnitt (77-163). Die klassischen Arbeitsfelder eines Geistlichen werden abgeschritten: Unterweisung, Predigt und Seelsorge. Freilich war Hedinger nie normaler Gemeindepfarrer. Das lässt die anderen drei dargestellten Tätigkeitsbereiche verständlich erscheinen: sein Beitrag zur Frage der Konventikel (Separatismus!), zum Gesangbuch und zu Bibelausgaben. Letzteres nimmt den größten Raum ein, hier stand für "Pietismus" nun wahrlich Entscheidendes auf dem Spiel, und der Vf. markiert auch ausdrücklich ebenda weiteren Forschungsbedarf. Eine Einleitung zu "Themenstellung und Forschungsstand" (11-16), teilweise hineinragend in die Teile I/1.-3., führt in die historiographische Lage ein - wenig Neues erhebend (die württembergische Kirchengeschichte ist ein gut gepflügter Acker!). Dankenswerterweise werden (165-200) Quellen beigegeben. Leider geschieht dies aber in einer Form, die diese - sprechenden! - Texte etwa für den akademischen Unterricht wohl ungeeignet machen (165 mit Anm. 1 ist m.E. bei weitem nicht ausgeschöpft). Ein postumer Augsburger Stich (5.138 in Anm. 331 zum Vf. der Subscriptio) ist dem Buch vorangestellt. Werkverzeichnis Hedingers, Archivliste (es fehlt: Darmstadt: 57, Anm. 222), Literaturverzeichnis und Namenregister beschließen den Band (200-232).

Der Autor stützt sich auch auf einige Neufunde, am umfangreichsten wohl aus dem "Privaten Familienarchiv Knapp" (wo jetzt aufbewahrt?). In Krakau liegt heute das aus der Berliner Handschriftensammlung stammende letzte schriftliche Zeugnis Hedingers überhaupt, sein Brief an A. H. Francke (167-170 abgedruckt). Erhellend sind die öfters aufscheinenden Spuren der Einbettung Hedingers in seine Zeit bzw. Hinweise seiner Tradierung. Hier seien nur der Württembergische Hofprediger Felix Bidembach mit seinem 1603 erschienenen "Manuale Ministrorum Ecclesiae", 1700 neu aufgelegt - noch von Wilhelm Löhe geschätzt; GW 3.2,302 (vgl. 274) - und Samuel Urlsperger genannt. Den Umriss eines Gesamtbildes vermag der Autor durchaus zu beschreiben.

Im Detail ließ sich der Vf. über ein Dutzend Mal weiterführende Arbeiten zu Gottfried Arnold, Ph. J. Spener, Joh. Caspar Schade, A. H. Francke, J. W. Petersen entgehen, Homiletik und Katechetik samt Katechismen betreffend. Das ist z. T. bezüglich "de[r] Separatisten" (Untertitel!) nicht ohne Bedeutung ... Gesangbuch-/Kirchenliedliteratur zum 17./18. Jh. von Röbbelen, Sauer-Geppert u. a. sollte zu den einschlägigen Abschnitten nicht fehlen. Hedingers mehrfache Verwandtchaft mit Samuel von Pufendorf - "konnte noch nicht verifiziert werden" (45, Anm. 169) - ist im Ersten Band der Gesammelten Werke Pufendorfs 1996 exakt nachgewiesen (dort 56.325). Auch die Entschlüsselung von Speners Wahlspruch "T.A.N.D. E.M." - "Bedeutung noch unbekannt" (45, Anm. 171)- ist dem 1989 eschienenen Band 16/1 von "Spener: Schriften" beigegebenen, schon 1709 veröffentlichten Porträt zu entnehmen. Stilistisch begegnen manche Ungeschicklichkeiten. Johanna Eleonore Petersens mehrfach veröffentlichte Selbstbiographie ist nicht so neu wie es scheint (51, Anm. 191). Mancher kritische Hinweis auf die Literatur geriet unnötig spitz (136. 142.146.155.158). "[Starb] Hedingers Vater 1688, als er vier Jahre alt war" (35)? Das für "und" ganz irrige Zeichen "+" ist zu vermeiden. Übersetzungen aus dem Lateinischen regen mitunter zur Nachfrage an: "res licita" würde ich nicht als "mühevolle Angelegenheit" wiedergeben (186 Anm. 101). Dubletten wären zu vermeiden gewesen. Goldschmidts Dissertation über Dippel sollte nicht mit drei verschiedenen Jahreszahlen versehen werden (1988, 1997, 1998). Das Namen- und Verfasserregister hätte auf die alphabetisch gelisteten Namen des Literaturverzeichnisses zu Gunsten der dort nicht nach dem Alphabet vorkommenden Herausgeber etc. verzichten können. Ein Verzeichnis der wenigen Predigten und des wohl ebenfalls nicht umfangreichen Briefwechsels wünscht man sich, da weiterer Forschung dienlich.

Insgesamt stellt diese Arbeit, unter schwierigen Voraussetzungen entstanden, einen Schritt hin zur genaueren Kenntnis eines in Theologie wie kirchlicher Praxis, aber auch im Bemühen um Bibel, Katechismus und Gesangbuch tätigen ,Württembergers' dar, dem als Hofprediger zusätzlich auch kritische Distanz zur ,Obrigkeit' abverlangt wurde. Die offenbar (noch?) nicht mögliche präzise Zuordnung Hedingers im Zusammenspiel von Orthodoxie/Pietismus/Aufklärung ist nicht dem Vf. anzulasten. Die Bemühung um Quellenevidenz hat allemal Vorrang vor mitunter pressenden Einordnungen. Und jener Bemühung hat der Vf. sich unterzogen.