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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

786–788

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

(1) Rock, Johann Friedrich (2)

Titel/Untertitel:

(1) Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hrsg. von U.-M. Schneider.
(2) Lebensläufe August Hermann Franckes. Hrsg. von M. Matthias.

Verlag:

(1) Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1999. 118 S. 8 = Kleine Texte des Pietismus, 1. Kart. DM 16,80. ISBN 3-374-01746-0.
(2) Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1999. 159 S. 8 = Kleine Texte des Pietismus, 2. Kart. DM 19,80. ISBN 3-374-01747-9.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Mit dieser neuen Reihe, von der inzwischen schon drei Hefte erschienen sind, legt die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus exemplarische Textzeugnisse aus der Geschichte des Pietismus in handlichen und preiswerten Ausgaben vor. Die Bezeichnung "Kleine Texte" erinnert an die verdienstvolle Reihe "Kleine Texte für theologische Vorlesungen und Übungen", die von Hans Lietzmann um 1900 herausgegeben wurde. Aber nicht nur für das Studium und den Unterricht an Schulen und Universitäten ist diese neue Reihe konzipiert, sondern auch für die kirchliche Erwachsenenbildung und die Fachbibliotheken der Theologie, Geschichte, Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Musikgeschichte, "nicht zuletzt aber auch für das individuelle Sammeln und Lesen aller, die aufgeschlossen sind für das uns Zugekommene an religiöser, im weitesten Sinne kultureller, sprachlicher und literarischer Erbschaft" (117). Jährlich sind bis zu zwei Hefte im Umfang bis ca. 160 Seiten vorgesehen, und die ungekürzten, kleineren, aber frömmigkeits- und kulturgeschichtlich besonders charakteristischen und reizvollen Einzelschriften aus den unterschiedlichen Strömungen und Epochen des Pietismus werden von ausgewiesenen Fachleuten kritisch ediert und kommentiert sowie mit einem Nachwort versehen.

Das erste Heft enthält vier autobiographische Schriften von Johann Friedrich Rock (1678-1749), die in dieser Zusammenstellung einen besonders interessanten Einblick in das bewegte Leben und das Selbstverständnis dieser Zentralgestalt der Inspirationsbewegung in der Grafschaft Ysenburg-Büdingen geben. Um 1714/1715 wurden hier einige radikale Pietisten zu "Werkzeugen" des göttlichen Geistes erweckt, der sie Inspirations-Reden aussprechen ließ, die auch von plötzlich einsetzenden körperlichen Bewegungen begleitet waren. Während bei anderen diese Erweckung bald wieder zu Ende ging und sie verstummten, hielt die Kraft der Inspiration bei Rock über drei Jahrzehnte hin an. Seine über 900 Aussprachen, die schon bald von Schreibern festgehalten wurden, sind in 42 Bänden verschiedener Sammlungen aufbewahrt, die in den 70er und 80er Jahren des 18. Jh.s erschienen, mit erheblicher Wirkung weit über die Inspirationsgemeinden hinaus. Die Inspirations-Reden Rocks können "für den deutschen Sprachraum als singuläres und frühestes Beispiel einer authentischen Überlieferung tatsächlich gesprochener Sprache gelten" (107).

Der Reiz dieser kleinen autobiographischen Schriften Rocks, die nicht den Anspruch göttlicher Inspiration haben, liegt vor allem darin, dass wir hier die Lebensumstände Rocks sowohl vor wie kurz nach der Inspirationserweckung am Ende des Jahres 1714 wahrnehmen können. Damit wird ein Einblick in die frühesten Jahre der Geschichte der Inspirationsgemeinde am Beispiel ihres bedeutendsten Propheten möglich. Abfassungszeitpunkt, Anlaß und Adressaten gestalten diese autobiographischen Texte durchaus recht unterschiedlich. Während der Text von 1707 die Begegnung Rocks mit den Pietisten in Halle noch ganz ohne die späteren höchst kirchenkritischen Akzente bringt, werden die erwecklichen Erfahrungen und Begegnungen mit dem Pietismus zehn Jahre später nur noch als Durchgang zu seiner eigentlichen Erweckung stilisiert. Besonders der letzte, von der Inspirationsgemeinde erst 1761 veröffentlichte Text, zeichnet den Weg Rocks aus Württemberg in die Grafschaft in der Wetterau als ein von außen aufgezwungenes Schicksal eines pietistischen Gläubigen, der "aus der Kirche hinausgeprediget" wurde, obwohl er doch nur die Vier Bücher vom wahren Christentum Johann Arndts las, die seinen sonntäglichen Kirchgang ergänzten, aber nicht ersetzten.

In seinem Nachwort hebt Ulf-Michael Schneider die erhebliche Wirkungsgeschichte der Inspirierten auf das Dichtungsverständnis im Sturm und Drang hervor sowie das Herder und Goethe faszinierende Phänomen fortwirkender unmittelbarer Offenbarungen Gottes an die Menschen. In seinem Buch Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995, wird dies ausführlich dargestellt.

Ein wenig schade finde ich, dass in dem ersten eindrucksvollen, gelungenen Heft der neuen Reihe nicht auch ein Beispiel einer Inspirations-Rede Rocks aufgenommen wurde.

In dem zweiten Heft "Lebensläufe August Hermann Franckes" hat Markus Matthias zwei Texte ediert, die für Francke und den hallischen Pietismus von zentraler Bedeutung sind: der von Francke im Alter von 27 Jahren verfasste "Lebenslauff", der seine innere und äußere Lebensgeschichte von 1663 bis zum Lüneburger Bekehrungserlebnis 1687 umfasst und zwischen Oktober 1690 und März 1691 verfasst ist sowie die "Kurtze Nachricht von dem Lebens=Lauffe Franckes", die im Jahr nach Franckes Tod 1728 erschienen ist und das ganze Leben und Wirken Franckes aus dem Blick seiner Erben und Schüler darstellt. Von besonderem Interesse ist vor allem der immer wieder für die Deutung von Leben und Werk Franckes und die Charakterisierung des hallischen Pietismus herangezogene "Lebenslauff", der nach Erhard Peschkes Edition in den Werken Franckes (1969) nun erneut aus der Handschrift Franckes im Archiv der Franckeschen Stiftungen historisch-kritisch ediert wurde. In dem sehr instruktiven Nachwort setzt Matthias wichtige Akzente in der immer wieder unterschiedlich gedeuteten frühen Lebens- und Bekehrungsgeschichte Franckes. Er sieht mit Recht in Franckes "Lebenslauff" "ein Zeugnis für die Kultur der Innerlichkeit" des Pietismus und "ein bis heute ansprechendes literarisches Zeugnis dafür, wie unter der Kraft eines religiösen Erlebnisses oder einer pneumatischen Erfahrung die Sprache Lebendigkeit erhält und eine trockene Gelehrtenbiographie in ein Bekenntnis voll jugendlicher Frische und Dramatik umschlägt" (134 f.). Im Zusammenhang von zwei Bekehrungsberichten von Erfurter Bürgern, die im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle liegen und aus dem Jahre 1690 stammen, fragt Matthias: "Hat Francke diese religiöse Erweckung in Erfurt erst ausgelöst, oder kommt er in eine Bewegung hinein, die ihn beeinflußt, auf die er reagiert und die er im Hallischen Pietismus letztlich verkirchlicht?" Als wichtiges Motiv für die Abfassung des "Lebenslauffes" sieht er die geistliche Vorbereitung Franckes zum Pfarramt an, das er am 2. Juni 1690 in Erfurt antrat.

Der zweite Text, die "Kurtze Nachricht", ist nach der Leichenpredigt mit ihren Personalia die älteste Darstellung von Franckes Leben. Sie enthält auch eine Kurzfassung von Franckes Bekehrungserlebnis, das nun als Beispiel des Bußkampfes im Sinne der hallischen Bekehrungstheologie gedeutet wird. Dagegen taucht der Begriff des Bußkampfes im "Lebenslauff" nicht auf. Während im "Lebenslauff" Franckes frühes Leben dualistisch zwischen Weltverfallenheit und Gottseligkeit dargestellt wird, sieht die "Kurtze Nachricht" Franckes Studienweg von Fleiß und Anerkennung bestimmt: "Franckes religiöses Leben vor der Bekehrung erscheint weitgehend ungetrübt, nicht als ein Schwanken zwischen verschiedenen Zuständen, sondern als ein langsamer, aber stetiger Weg zur Vervollkommnung in der Lüneburger Bekehrung" (145).

Neben den editorischen Notizen und fortlaufenden Kommentaren zu den Texten bringt diese Ausgabe einen textkritischen Apparat zum "Lebenslauff". Eine hilfreiche Quellen- und Literaturübersicht zu August Hermann Francke beschließt dieses zweite Heft.

Mit diesen beiden Heften hat die neue Reihe "Kleine Texte des Pietismus" einen sehr verheißungsvollen Anfang genommen, der inzwischen mit von Paul Raabe herausgegebenen Goethetexten fortgeführt wurde. Wissenschaftliche Solidität ist hier mit allgemeinverständlicher Lesbarkeit und Benutzerfreundlichkeit auf glückliche Weise verbunden, wie es heute leider nur noch selten bei fachtheologischen Veröffentlichungen der Fall ist. Man sieht, es gibt auch wissenschaftliche Editionen, die nicht nur leserfreundlich, sondern vor allem auch preiswert sind.