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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

783–785

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Deutsche und polnische Christen. Erfahrungen unter zwei Diktaturen.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1999. 202 S. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 19. Kart. DM 35,-. ISBN 3-17-015891-0.

Rezensent:

Rudolf Mau

Der Titel des Buches ist missverständlich. Seine Entstehung verdankt es zwar der Arbeit polnischer und deutscher Autoren im Rahmen einer von der EKD und dem Polnischen Ökumenischen Rat berufenen Kommission. Aber es geht um Christen in Polen: um deutsch- bzw. polnisch-orientierte evangelische Christen in der spannungs- und konfliktreichen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, auch um die katholische Mehrheit der Polen und um die Orthodoxen weißrussischer und ukrainischer Herkunft. Der Band bietet bewegende Einblicke in die Erfahrungen der fünf Jahrzehnte unter deutscher und sowjetisch dominierter Diktatur. Nach einer Einleitung des Hg.s berichten acht Autorenbeiträge über die Wege und Schicksale von Christen und Kirchen.

Vor dem historischen Hintergrund des schwer belasteten deutsch-polnischen Verhältnisses schildert Richard von Weizsäcker die "Polnisch-deutsche Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg" (15-21). Westdeutsche Politiker taten "Polen gegenüber zunächst einfach gar nichts" (17); erst das "aus der Gesellschaft selbst" kommende Tübinger Memorandum von 1962 und die EKD-Denkschrift von 1965 (die "wichtigste politisch-ethische Äußerung der Evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit"; 19) führten aus der Erstarrung. Zu Recht betont von Weizsäcker den wesentlichen Anteil der Kirchen an der Bewegung, die seit den 1970er Jahren zu den tiefgreifenden politischen Veränderungen geführt hat.

Mit dem konfliktreichen Weg der Evangelischen in Polen befassen sich drei Beiträge. Der Berliner Pfarrer Bernd Krebs, der schon die Jahrzehnte vor 1939 dargestellt hatte,1 berichtet über "Evangelische Christen in Polen unter zwei Diktaturen" (22-67). Situationen und Vorgänge in einzelnen Regionen behandeln der polnische Historiker Olgierd Kiec ("Die evangelischen Christen in der Stadt Posen und im Süden Großpolens vor und nach 1945"; 68-85) und der Berliner Doktorand Andreas Kossert ("Protestantismus in Lodz 1918-1956. Die evangelische Bevölkerung der mittelpolnischen Industriemetropole im Spannungsverhältnis zwischen Deutschland und Polen"; 86-116).

In der Zwischenkriegszeit vertrat Generalsuperintendent Julius Bursche in der Evangelisch-Augsburgischen Kirche einen "polnischen Evangelizismus" (politisch-kulturelle Assimilierung zwecks evangelisierenden Wirkens unter der polnischen Bevölkerung), hatte sich bald aber einer "deutsch"-bewussten Opposition im Sinne der NS-Volkstumspolitik zu erwehren. Unter der deutschen Okkupation bezahlten Bursche und fünfzehn weitere EAK-Pfarrer ihre Haltung mit dem Leben. Die rigide NS-Kirchenpolitik verdrängte dann auch die deutsch-orientierten Kirchen (Unierte und Lutheraner) aus dem öffentlichen Leben; evangelische Polen wurden (auch kirchlich) völlig rechtlos. 1944/47 suchten diese dann mit einer an das 16. Jh. anknüpfenden "Polnischen Konfession" und (konform zur Politik der neuen, kommunistischen Machthaber) mit Anstrengungen zur Polonisierung nicht-polnischer Evangelischer einen Weg in die Zukunft.

Eindringlich beschreibt Krebs die wechselvollen, konfliktreichen Situationen, das Handeln maßgeblicher Personen, für die 50er Jahre die Einwirkungen von beiden deutschen Staaten her, die auch nach der "Entstalinisierung" 1956 fortbestehende Situation politischen Drucks und schließt mit dem Ausblick auf die durch die EKD-Denkschrift und den Bischöfe-Briefwechsel 1965 eingeleiteten Veränderungen.

Kiec erinnert an die um 1910 noch vorhandene reformatorische Tradition polnischer Lutheraner Großpolens, schildert für 1919 ff. den Antagonismus von polnisch-evangelischen und deutsch-orientierten Bestrebungen im altpreußischen Gebiet, die der EOK in Berlin nachhaltig förderte, die Ausgrenzung der Polen 1939 ff. (Verbot des Polnischen bei kirchlichen Handlungen) und den Umbruch 1944/45: War in Niederschlesien und Pommern noch Seelsorge in der Muttersprache möglich, so gab es in der Posener Gemeinde jetzt "keinen Platz für die evangelischen Deutschen" (76); auch das Warschauer Konsistorium der EAK ignorierte faktisch die noch einige Jahre im Posener Gebiet bestehende, dann vor allem durch Auswanderung nach Westdeutschland schwindende Gemeinde evangelischer Deutscher.

Kossert verweist auf das seit dem 19. Jh. in der Industrieregion von Lodz entstandene, "weitgehend deutsch geprägte evangelische Leben" (87). In traditionellen Strukturen wurzelnd, war es aber einer deutsch-nationalen Profilierung kaum zugänglich; so wurde gerade Lodz zum "innerkirchlichen Kampfgebiet in der nationalen Frage" (90). Unter deutscher Besatzung wurden alle polnischen Pastoren amtsenthoben; die Polen zwängte man im Hinblick auf Germanisierung in ein auch die Kirche verpflichtendes ethnisches Kastensystem ("Für Polen verboten"). 1945 traf eine Welle der Rache und Vergeltung gerade die alteingesessene (als "Hitleristen" verfemte) Bevölkerung. Die in der EAK wieder geltende Linie Bursches sah sich mit dem Faktum konfrontiert, dass die Evangelischen nach wie vor überwiegend deutscher Nationalität waren. Für die evangelische Trinitatiskirche in Lodz und die Gemeinde in Zgierz werden die Verhältnisse vor und nach 1939/45 detailliert beschrieben.

Zwei weitere Beiträge gelten der katholischen Kirche. Der Publizist Theo Mechtenberg berichtet über die "Polenkontakte der katholischen Kirche in der DDR", deren Formen und Probleme (117-138). Für sie bahnte nach vorangehenden Initiativen Einzelner erst der Briefwechsel polnischer und deutscher Bischöfe (auch aus der DDR) 1965 den Weg. Das Schreiben des polnischen Episkopats (am Vorabend der Milleniumsfeier 1966) werteten die Machthaber in Warschau "als Kampfansage an das kommunistische System"; den Bischöfen in der DDR wurde westlich gesteuerte "ideologische Diversion" vorgeworfen (124).- Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Poleninstituts in Darmstadt, berichtet über "Die katholische Kirche in Polen unter den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, 1939-1989" (139-170).

Der sowjetischen Besetzung Ostpolens 1939-1941 folgten Massendeportationen; Priester wurden wegen "konterrevolutionärer Propaganda" verhaftet. Das deutsche Regime praktizierte drei verschiedene Unterdrückungssysteme (im neu gebildeten "Warthegau", wo nur eine "Römisch-katholische Kirche deutscher Nation" geduldet wurde, im "Generalgouvernement" und ab 1941 in Ostpolen); zu alledem gab es in Wolhynien und Galizien einen national und konfessionell motivierten, grausamen Bandenkrieg. Die Wandlungen der kommunistischen Politik führten von administrativer Verdrängung der katholischen Kirche aus dem öffentlichen Leben bis zur Inanspruchnahme ihrer moralischen Autorität zur Moderation gesellschaftlicher Konflikte in der Endphase. Es fehlt aber auch nicht der Hinweis, dass die einzigartige Rolle der katholischen Kirche einer theologischen Erneuerung und dem Ökumenegedanken im Wege stand und einen "intoleranten Triumphalismus" förderte (170).

Über Schicksale der polnische Orthodoxie berichtet Erzbischof Jeremiasz von Breslau und Stettin (Jan Anchimiuk), Direktor der christlichen Akademie Warschau: "Unter zwei Diktaturen. Die Polnische Orthodoxe Kirche in den Jahren 1939-1957" (171-179).

Gerade erst 1939 hatte der Staat - nach einer Welle der Zerstörung von Gotteshäusern (als Überbleibseln der Russifizierung) in Ostpolen 1938 - die Polnische Orthodoxe Autokephale Kirche anerkannt. Dem Einmarsch der Roten Armee folgten Morde an Priestern und Plünderungen von Pfarrhäusern. Der unter dem deutschen Regime erneut eskalierende ukrainisch-polnische Konflikt kostete "hunderttausende Polen und Ukrainer" das Leben (175). 1947 bis 1949 führte die Zwangsumsiedlung in die vormaligen deutschen Ostgebiete zur Zerstreuung vieler orthodoxer Gemeinden. "Bis 1960 verlor die Orthodoxe Kirche fast alles, was sie vor 1939 besessen hatte" (179).

Am Ende berichtet Heinrich Olschowsky, Professor für Slawistik in Berlin, über "Erfahrungen der polnischen Literatur mit zwei Diktaturen" (180-198). Mit vielen Textbeispielen zeigt diese Skizze die tief beeindruckende geistige Selbstbehauptung angesichts vielfältiger Diktaturerfahrungen; sie belegt ihrerseits, dass die Kriegsjahre unter deutscher und sowjetischer Herrschaft unvergleichlich schlimmer waren als die dann folgenden Jahrzehnte unter polnischen Kommunisten.

Der vorliegende Band bringt mit seiner perspektivischen Vielfalt die immer noch weithin unbekannte Geschichte unserer östlichen Nachbarn und Mitchristen in beachtlicher Weise zur Sprache.

Fussnoten:

1) B. Krebs, Nationale Identität und kirchliche Selbstbehauptung. Julius Bursche und die Auseinandersetzungen um Auftrag und Weg des Protetantismus in Polen 1917-1939, Neukirchen-Vluyn 1993.