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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

777 –779

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reinhuber, Thomas

Titel/Untertitel:

Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XII, 265 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 104. Pp. DM 148,-. ISBN 3-11-016655-0.

Rezensent:

Christian Peters

Der Streit zwischen Martin Luther (1483-1546) und Erasmus von Rotterdam (1466/1469-1536) gehört zweifellos zu den faszinierendsten Auseinandersetzungen der abendländischen Theologie- und Geistesgeschichte. Entsprechend groß ist auch die Aufmerksamkeit, die dieser Streit bis in die jüngste Zeit gefunden hat. Die Literatur zu ihm ist mittlerweile fast unübersehbar geworden.

Macht man sich dies bewusst, verdient es schon vorab Respekt, wenn hier im Rahmen einer durch Oswald Bayer angeregten Tübinger Dissertation (Wintersemester 1998/1999) der Versuch unternommen wird, einen neuen Zugang zu Luthers Schrift De servo arbitrio (1525) zu finden. Wie wichtig Luther diese Schrift auch später noch gewesen ist, ist hinlänglich bekannt: "Nullum enim agnosco [= Luther] meum iustum librum, nisi forte de Servo arbitrio et Catechismum" (so im Juli 1537 gegenüber Wolfgang Capito [1481-1541] in Straßburg (WAB 8, 99 f. [Nr. 3162]). Allerdings ist auch zu beachten, wem Luther dies schreibt, nämlich einem auch zu dieser Zeit noch stark durch Erasmus geprägten Kollegen!). Hier setzt auch der Vf. ein. Für ihn "präsentiert sich" in Luthers Schrift De servo arbitrio sogar "das Ganze seiner Theologie in extremer Zuspitzung. Der skeptisch abwägenden und moderat ausgleichenden Theologie des Erasmus begegnet Luther mit einer kämpfenden, assertorischen, am gewissen Bekennen orientierten Theologie, die Ausdruck einer Anfechtungstheologie und eines kämpfenden Glaubens ist" (V).

Bereits im Vorwort (V) wird dann das weitere Verfahren erläutert. Danach will sich der Vf. "besonders dem extremen, zugespitzten Denken des Reformators, vor allem seiner Rede vom verborgenen Gott, stellen. Ausgehend von einer ausführlichen Interpretation eines Textes am Ende von De servo arbitrio, der als Luthers Bekenntnis vorgestellt wird und in dem sich viele Probleme und Fragen der ganzen Streitschrift bündeln, werden- in ständiger Auseinandersetzung mit klassischen theologie- und philosophiegeschichtlichen Positionen - wichtige Textabschnitte und damit verbundene Problembereiche in Luthers Hauptwerk [sic!] beleuchtet". Daneben soll aber immer wieder auch auf "Zeugnisse der Dichtung" zurückgegriffen werden.

Die Einleitung (1-4) steckt zunächst knapp den historischen Rahmen ab. Dann wird markiert, worin das Proprium der vorliegenden Studie besteht: "Gegenstand der Arbeit ist zunächst einmal ein Text, ein Abschnitt am Ende von De servo arbitrio (Dsa 288,16-291,19 [Bonner Ausgabe - warum eigentlich?]). Er wird befragt und bearbeitet von dem Vorverständnis aus, dass dies ,Luthers letztes Wort' im Streit mit Erasmus sei" (3). Anders als gemeinhin üblich und auch durch Luther selbst nahe gelegt (vgl. dazu Dsa 129,8-10: "Haec dixi de capitibus praefationis tuae [= Erasmus], quae et ipsa ferme totam causam complectuntur magis pene quam sequens corpus libelli"), wird dessen Schrift De servo arbitrio hier also nicht von ihrem Anfang (d. h.: Luthers Erwiderungen auf die Vorrede des Erasmus), sondern von ihrem Schluss (d. h.: dem vom Vf. als abschließendes "Bekenntnis" Luthers im Streit mit Erasmus begriffenen Text Dsa 288,16-291,19) her interpretiert.

Die eigentliche Durchführung erfolgt dann in drei Teilen: Der erste Teil ("Luthers Bekenntnis als Schlußwort im Streit mit Erasmus", 5-30) beschreibt den Aufbau der Diatribe des Erasmus, erläutert deren Leitbegriffe ("collatio" und "moderatio") und arbeitet an einem "Schlüsseltext" (Dla IV16,191) deren Grundanliegen heraus. Dasselbe Verfahren wird anschließend auch auf De servo arbitrio angewandt (Leitbegriffe hier: "pugna" und "assertio"). Dann folgt eine eingehende Analyse von Dsa 288,16-291,19 (Übersetzung, form- und gattungsgeschichtliche Untersuchung). Die so gewonnene Gliederung (29f.) gibt zugleich auch allem Späteren die Grundstruktur vor.

Der zweite Teil ("Luthers Bekenntnis der Heilsgewißheit", 31-81) gliedert sich in zwei große Blöcke: Block A ("Der Mensch - eine umkämpfte Mitte", 31-62) beleuchtet "die erasmische Konzentration auf die Mitte" und rückt dessen Vorstellungen in den Horizont der traditionellen abendländischen Anthropologie(n) ein ("Der Mensch als Wesen der Mitte", "Die Mitte der Mitte"). Dem werden später unter der Überschrift "Die umkämpfte Mitte" die ganz andersartigen Aussagen Luthers gegenübergestellt ("Geist und Fleisch", "Die besetzte Mitte", "Stand und Bestand der Mitte", "Die kämpfende Mitte", "Die sich entrissene Mitte [raptus]"). - Block B ("Glaubens- oder Werkgerechtigkeit? Die Frage nach der Ethik", 62-81) arbeitet auf dieser Basis dann die ethischen Konsequenzen heraus ("Die Betonung der Ethik bei Erasmus", "Die Relativierung der Ethik bei Luther"). Im Falle Luthers geschieht das in den Schritten "Cognitio non est vis - Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium", "Das Quantum der Ethik - Unendliches Streben und totale Erfüllung" und "Gnade und Gabe".

Auch der viel umfänglichere dritte Teil ("Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit angesichts seines Welt- und Heilswirkens", 82-233) gliedert sich dann wieder in zwei Blöcke: Block A ("Die Unbegreiflichkeit Gottes", 82-151) verhandelt vier Themen: "Gottes Gerechtigkeit und Unbegreiflichkeit in der Kontroverse zwischen Erasmus und Luther", "Gottes Unbegreiflichkeit in der philosophischen und theologischen Tradition", "Zorn und Abgrund - Metaphern der Unbegreiflichkeit Gottes" und "Die Unbegreiflichkeit Gottes in der Spannung zwischen verborgenem und offenbarem Gott". Im Blick auf das Verhältnis des "deus absconditus" zum "deus praedicatus" gelangt der Vf. zu dem Ergebnis, dass eine "Einheitlichkeit in Luthers Denken nicht gewonnen werden kann - oder nur um den Preis, daß bestimmte Aspekte des Lutherschen Denkens relativiert oder gar nicht mehr beachtet werden. Die Lutherinterpretation kann einfach nicht an der Tatsache, daß Luther kein System und keine Summa vorgelegt hat, vorbeigehen" (136).

Block B ("Das Beispiel des Glaubens", 152-233) widmet sich vor diesem Hintergrund dann den Themen "Der Weltlauf" und "Luthers Rede von den drei Lichtern". Hervorzuheben sind hier vor allem die Ausführungen zur Traditionsgeschichte des von Luther verwandten Bildes der drei Lichter, des "lumen naturae", des "lumen gratiae" und des "lumen gloriae" (186-233). Die vom Vf. vorgetragenen Analysen sind durchweg präzise und anschaulich. Der Horizont ist weit, und das verarbeitete Material ungemein reichhaltig (dies gilt besonders für die Exkurse).

Dieser Reichtum kann aber mitunter auch erdrückend wirken, so z. B. wenn es im Blick auf den Begriff des "Schicksals" heißt: "Auch an dieser Stelle ist wieder auf den Fundus [sic!] in Kunst und Literatur zu verweisen. Dort wurde und wird der Schicksalsgedanke nach wie vor weiter getragen, sei es in Filmepen (Dr. Schiwago, Titanic ...), in der Oper (Wagners Tristan, Verdis Macht des Schicksals, Puccinis Tosca ...), in der Musik eines Beethoven, eines Tschaikowski, dessen drei letzte Symphonien allesamt unter dem Leitthema des Schicksals stehen, im portugiesischen Sehnsuchts- und Schicksalgesang, im Fado, der in Coimbra und vor allem in Lissabon gesungen wird, in der Bildenden Kunst (etwa in Max Beckmanns Triptychen) und schließlich noch in den Niederungen der Groschenromane (der Arzt, Heimat- und Kriegsschicksale ...)" (130 f.).

Ohne eine (dem Leser hier sicherlich willkommene) abschließende Zusammenfassung folgen dann noch das umfängliche Literaturverzeichnis (235-259) und ein Personenregister (260-265).

Fazit: Eine interessante Studie mit einem beachtlichen neuen Ansatz, der allerdings der in diesem Fall unerlässliche Forschungsbericht fehlt. Auch sonst gibt es Monenda: Sie betreffen vor allem die historische Einordnung der Schrift Luthers. Wie die jüngere, vom Vf. nur zum Teil zur Kenntnis genommene Forschung (Cornelis Augustijn, Martin Brecht u. a.) gezeigt hat, hat sich Luther ja auch später noch sehr intensiv mit Erasmus befasst. Dass der Streit der beiden nicht zuletzt auch ein Streit um die richtige Auslegung der Bibel gewesen ist, wird kaum reflektiert. Außerdem wird man wohl doch stärker im Blick behalten müssen, dass Luthers Schrift eine typische "Gegenschrift" ist, was ihrer Systematisierung von Anfang an enge Grenzen zieht. Ist De servo arbitrio vor diesem Hintergrund wirklich als "Luthers Hauptwerk" (V) anzusprechen?