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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

767–771

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Rolf, Kuropka, Joachim, Rittner, Reinhard, u. Heinrich Schmidt

Titel/Untertitel:

Oldenburgische Kirchengeschichte.

Verlag:

Oldenburg: Isensee 1999. XXIII, 917 S. m. 212 Abb. gr.8. Geb. DM 58,-. ISBN 3-98598-624-0.

Rezensent:

Angelika Dörfler-Dierken

Seit mehr als 1200 Jahren ist das Oldenburger Land christianisiert. Von der Mitte des 8. bis in die 60er Jahre des 20. Jh.s spannt sich deshalb der Bogen der ersten umfassenden, sachlich verlässlichen und über weite Strecken erschöpfenden Darstellung der oldenburgischen Christentums- und Kirchengeschichte. Das voluminöse Werk von über 900 Seiten ist gegliedert in vier Zeiträume, die in fünf Teilen behandelt werden: die "[m]ittelalterliche Kirchengeschichte" (1-191), die Geschichte der Jahrhunderte "[v]on der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts" (192-386), die Darstellung der "[e]vangelische[n] und katholische[n] Kirche im 19. Jahrhundert (387-522), "[d]ie katholische Kirche im 20. Jahrhundert" (523-643) sowie als fünfter und letzter Teil "[d]ie evangelische Kirche im 20. Jahrhundert (643-788). Während der zweite Teil zu Reformation, Gegenreformation, Orthodoxie und Aufklärung eine Geschichte der beiden Großkirchen in ihren wechselseitigen Beeinflussungen und Abhängigkeiten bietet, die dem im Vorwort des Hg.s Rolf Schäfer (der zugleich der Verfasser dieses Teiles ist) vorgetragenen Anspruch gerecht wird, dass das Verhältnis beider Kirchen wie dasjenige "kommunizierende[r] Röhren" vorzustellen sei, werden evangelische und römisch-katholische Kirche im 19. und 20. Jh. in zwei Teilen nebeneinander gestellt, so dass der Eindruck entsteht, sie hätten sich unbeeinflusst voneinander entwickelt.

Eine ausführliche Untergliederung der fünf Teile erleichtert dem Leser die Orientierung. Personen- und Ortsregister ermöglichen die Beantwortung von Detailfragen. Die Bibliographie zur oldenburgischen Kirchengeschichte ist umfassend (876-904). Ins Auge springen überdies die zahlreichen aussagekräftigen und gut beschrifteten, gelegentlich auch im Text ausführlich erläuterten Abbildungen. Sie zeigen nicht nur die bedeutenderen Kirchen des Oldenburger Landes, sondern auch Blätter aus Handschriften und Drucken, kirchliches Gerät, Altäre und Grabmäler, Porträts fast aller im Text genannten Personen und vieles andere Interessante mehr: beispielsweise die älteste baptistische Kirche in Deutschland, das Bethaus in Felde bei Halsbek (Westerstede), das 1850 errichtet wurde (404), und einen Kapellenmissionswagen der Ostpriesterhilfe aus dem Jahr 1951 (620). Wichtig ist unter den Abbildungen besonders eine Karte (422), die das Gebiet des Herzogtums Oldenburg im 19. Jh. zeigt, wie es durch den Reichshauptdeputationsschluss im Jahre 1803 und einige spätere Zugewinne entstanden war. Es entspricht demjenigen Gebiet, das heute zur Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Oldenburg zählt. Zugleich entspricht es dem Gebiet des Bischöflichen Offizialiats Vechta, das Teil des Bistums Münster ist. Das Herzogtum Oldenburg hat eine auffällige religiös-kirchliche Struktur, die in kirchengeschichtlicher Hinsicht bedeutsam ist: Der in sich vielfältig zersplitterte altoldenburgische Norden war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges fast ausschließlich evangelisch-lutherisch geprägt, der münsterländische Süden und Südwesten mit den Ämtern Vechta und Cloppenburg dagegen fast ausschließlich römisch-katholisch.

Der Unterschiedlichkeit der kirchlichen und politischen Entwicklung beider Landesteile trägt die Darstellung sachlich und personell Rechnung: Joachim Kuropka, Professor für Neueste Geschichte am Institut für Geschichte und Historische Landeskunde der Hochschule Vechta, zeichnet die Geschichte des Oldenburger Katholizismus, und das ist vor allem diejenige des münsterländischen Südens, für das 19. und 20. Jh. nach. Der evangelisch-lutherische Pfarrer Reinhard Rittner erzählt die Geschichte des altoldenburgischen protestantischen Nordens im 20. Jh. Ein eindrückliches Bild der Oldenburger Christentumsgeschichte vom 16. bis zum 19. Jh. bietet der Professor der Systematischen Theologie und Oldenburger Oberkirchenrat i.R. Rolf Schäfer. Heinrich Schmidt, Emeritus für mittelalterliche Geschichte an der Universität Oldenburg, schildert die Entwicklung vom 8. bis zum 15. Jh.

Die jahrzehntelange Beschäftigung der Autoren mit Oldenburgiana kommt der Darstellung sehr zu Gute. Darüber hinaus wurden Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse neuerer Forschungen in ihre Untersuchungen und Darlegungen aufgenommen. Somit konnte ein Werk entstehen, das die Aufgabe der Territorialkirchengeschichte über weite Strecken hervorragend erfüllt, die besondere Entwicklung eines begrenzten historischen Raumes vor dem Hintergrund der niedersächsischen und der deutschen Kirchengeschichte sichtbar und verständlich zu machen. Die Bedeutung der Territorialkirchengeschichte liegt darin, die Paradoxie, "daß das Ganze nur aus seinen Teilen, die Teile aber nur aus dem Ganzen recht verstanden werden können" fruchtbar zu machen. Indem die Territorialkirchengeschichte auf den Reichtum individueller Ausprägungen des Christentums hinweist, bewahrt sie die "Gesamtkirchengeschichte" vor falschen Verallgemeinerungen und sensibilisiert sie für neue Fragestellungen. Die dafür notwendige "umfassende Mosaikarbeit" mit ihren "oft mikroskopischen Ergebnisse[n]" haben die vier Autoren dieses Bandes geleistet (vgl. M. Simon: Territorialkirchengeschichte. In: RGG, 3. Aufl., Bd. 6, 1962, 692 f.).

Das spezifische Profil dieser Region entstand durch das Zusammenspiel von geographisch-geologischen und politisch-kulturellen Faktoren: Im frühen Mittelalter war das Oldenburger Land noch weithin unbesiedelt und bot den sich Karl d. Gr. widersetzenden Sachsen und Friesen willkommene Rückzugsgebiete. Auch nach deren Unterwerfung dauerte es wegen der Unwirtlichkeit der Region vergleichsweise lange, bis die von Bremen ausgehende Christianisierung Erfolge zeitigte und eine christliche Infrastruktur errichtet war. Diese blieb bis zum Ende des Mittelalters im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands eher schwach. Ein Indiz für die relative Abständigkeit des Oldenburger Landes im Mittelalter ist die Beobachtung, dass aus den nicht allzu zahlreichen Klöstern kaum Handschriften überliefert sind; offenbar waren die dortigen Mönche nur selten ausreichend gebildet. Weil die Region arm an Städten war, entstanden nur wenige Bettelordensniederlassungen: Die Franziskaner etwa begnügten sich mit einer einzigen Terminei und fromme Frauen mussten in die Ferne ziehen, wenn sie nicht in dem am Ende des 12. Jh.s gestifteten Dominikanerinnenkloster Blankenburg die Gelübde ablegen wollten. Schmidt hat die Entwicklung des späteren Oldenburger Gebietes unter Einbeziehung mentalitäts- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen präzise und umsichtig geschildert. Er setzt interessante Ausgrabungsergebnisse - etwa vom Drantumer Gräberfeld - in ein angemessenes Verhältnis zu den wenigen erhaltenen literarischen Quellen, zeichnet die Oldenburger Entwicklung vor dem Hintergrund der anderer Gebiete und bietet so ein umfassendes Bild, das manche voreilige Ansicht der älteren Regional- und Lokalhistoriographie revidiert.

Die von Rolf Schäfer gebotene Geschichte der Oldenburger Kirchen vom 16. bis zum 19. Jh. ist derart reich an Material und Beobachtungen, dass hier nur einige wenige Aspekte angesprochen werden können. Seine Darstellung der Reformationsgeschichte geht aus von der inneren Überzeugungskraft und Logik der Kritik des religiösen Leistungswesens durch Luther und zeichnet dann die Entwicklung in den einzelnen Herrschaften des Oldenburger Landes nach.

Das Niederstift Münster, das größte Herrschaftsgebiet innerhalb der Grenzen des späteren Herzogtums Oldenburg, wurde unter Fürstbischof Franz von Waldeck ab 1532 der Reformation zugeführt, weil er es in ein weltliches erbliches Fürstentum umwandeln wollte. Deshalb holte der Fürst Hermann Bonnus, den Lübecker Superintendenten, zur Hilfe. Trotzdem entstand hier kein lutherisch-konfessionelles Bewusstsein, weil die Confessio Augustana dahingehend interpretiert wurde, dass sie das bestehende kirchliche System nicht aufhebe, sondern allein Missbräuche beseitige. Erst im 17. Jh. entstand im Zuge der Gegenreformation ein konfessionell römisch-katholisches Bewusstsein im Oldenburger Münsterland. Durchgesetzt wurde die Rekatholisierung mit einem probaten Zwangsmittel: Wer die Letzte Ölung verweigerte, konnte nicht kirchlich bestattet werden. Im altoldenburgischen Norden wurde die Reformation zwar schon einige Jahre früher eingeführt, so in dem etwa 2500 Einwohner zählenden Städtchen Oldenburg ab 1527, aber auch hier entstand vorerst kein spezifisch lutherisches Bewusstsein. Das wird daran erkennbar, dass die Beichte in Oldenburg, Jever und Kniphausen erst spät (in den sechziger und siebziger Jahren des 16. Jh.s) als Voraussetzung für den Abendmahlsempfang durchgesetzt wurde. Unübersehbar ist auch die melanchthonianische Prägung der im späteren Oldenburger Territorium tätigen Reformatoren, unter denen Hermann Hamelmann der bedeutendste Praktiker war. Durch geschicktes politisches Taktieren blieb der größte Teil des Oldenburger Landes von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges verschont, so dass der Bildschnitzer Ludwig Münstermann hier wunderbare Altäre, Kanzeln und Taufbecken schaffen konnte. Liebevoll entschlüsselt Schäfer die religiöse Gedankenwelt, die sich in dem kunstvollen Aufbau und Figurenprogramm seiner Werke verbirgt. Ihren Höhepunkt erreicht die Schäfersche Darstellung im 18. Jh., in der Epoche der Aufklärung. Er stellt die spezifischen Verhältnisse so dar, dass die Aufklärung in ihrer mild-neologischen Form, wie sie im Oldenburgischen bis etwa 1830 herrschend war, als die letzte Realisierung eines evangelischen Volkskirchentums erscheint. Aufklärung zerstört nach den Oldenburger Erfahrungen also nicht die Kirche - wie ihr von ihren erweckungstheologisch und konfessionell geprägten Gegnern später immer wieder vorgeworfen wurde. Weil aber die Neologie zu dominant war, konnte sich nach Schäfers Meinung kein gesunder innerkirchlicher Pluralismus entwickeln, sondern es kam zu einer tiefen Entfremdung zwischen Aufklärung (die sich in den Liberalismus hinein entwickelte und sich das Etikett der Unkirchlichkeit anheften ließ) und Erweckung beziehungsweise Neuluthertum im 19. Jh.

Kuropka und Rittner zeigen das Oldenburger Land im 20. Jh. in kirchlich-religiöser wie in politischer Hinsicht in auffälliger Zerrissenheit: Das römisch-katholisch geprägte Münsterland im Süden und Südwesten war weitgehend unempfindlich für die Ideologie des Nationalsozialismus; bei den Reichstagswahlen erreichte das Zentrum überwältigende Siege. Diese Region lieferte etwa im "Kreuzkampf" des Jahres 1936 - im Zuge der Kampagne zur Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens sollten Kreuze und religiöse Bilder aus den Schulen entfernt werden -, ein sogar international vielbeachtetes Beispiel dafür, dass Widerstand gegen das Hitlerregime möglich ist. Nachdem Gauleiter Röver den entsprechenden Erlass im November des Jahres zurückgenommen hatte, wäre es auch den altoldenburgischen Evangelischen möglich gewesen, ihre Lutherbilder wieder in den Schulen aufzuhängen. Bis Februar 1937 scheint das jedoch nicht erfolgt zu sein. Das oldenburgische Münsterland präsentiert sich noch heute mit einem unverwechselbaren politischen Profil: Die Region ist seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland eine der Hochburgen der Christdemokratischen Partei. Der zur Erschließung des Nationalsozialismus wichtigste Begriff Kuropkas lautet "Milieu"; Damit gelingt es ihm, den inneren Zusammenhang der Jahrzehnte zwischen 1920 und 1970 verständlich zu machen. Dabei wird deutlich, dass das geschlossene katholische Milieu um Cloppenburg und Vechta nicht gewissermaßen naturwüchsig aus der bäuerlichen Lebenswelt und ihren Traditionen heraus entstanden ist, sondern systematisch geschaffen wurde durch den Verbandskatholizismus und umsichtige Förderung erfuhr durch den Münsteraner Bischof Clemens August von Galen und dessen Mitarbeiter.

So wurde beispielsweise angeordnet, dass die im Kreuzkampf hervorgetretenen "Führerpersönlichkeiten" unter den Laien etwa zweimal im Monat versammelt und im Sinne der Katholischen Aktion geschult würden, zumal "wir kaum in Zukunft damit rechnen dürfen, daß wir um Dinge kämpfen können, die so handgreiflich auch den einfachen Mann packen" (586) wie die Frage des Kreuzes in der Schule. Die Schilderung dieses religiös-politischen Milieus besticht in ihrer Geschlossenheit. Interessant wäre es gleichwohl gewesen, auch über das Verhältnis von Evangelischen und Katholischen vor Ort etwas zu erfahren. Immerhin gab es Konfessionsmischung in einigen Dörfern und Kleinstädten. Wieviel religiöse Toleranz war in der geschlossenen Lebenswelt des Oldenburgischen Münsterlandes üblich und möglich? Unterscheidet sich die politische Stellungnahme der Protestanten in der Diaspora von derjenigen der herrschenden Mehrheit? Daran schließt sich die Frage, ob die Katholiken in Delmenhorst und Oldenburg ebenso einmütig wie die Münsterländer hinter Kreuz und Kirche standen.

Rittner stellt die Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche im 20. Jh. vor allem als Pfarrergeschichte dar. Er konzentriert sich beispielsweise für die Jahre des Nationalsozialismus auf die Auseinandersetzungen zwischen bekennenden und anderen Pfarrern. Auch wenn er hier zahlreiche interessante Einzelzüge bietet, fällt doch auf, dass Laien seiner Darstellung nach für den Gang der Ereignisse kaum eine Rolle gespielt haben. Zu beachten wäre aber, dass die Deutschen Christen der Hoffnung waren, durch den Anschluss an den Nationalsozialismus, wieder im umfassenden Sinne Volkskirche werden zu können. Nach deren eigener Schätzung waren, zumindest anfangs, 80 % der Kirchenmitglieder dem Nationalsozialismus "mit Leib und Seele verfallen" (707). Abgesehen davon, dass zu überprüfen wäre, ob diese Schätzung richtig ist, könnte sie einen Anknüpfungspunkt für weitergehende Überlegungen im Sinne der Milieuforschung bieten. Wenn tatsächlich zwischen den bekennenden Pfarrern und den Kirchenmitgliedern eine tiefe Kluft bestanden hat, wäre es interessant zu erfahren, wie diese nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges überbrückt werden konnte. Anders gefragt: Wie konnte aus einer sogenannten "zerstörten" eine "heile" Kirche werden? Das Wirken des ersten Nachkriegsbischofs, des ehemaligen Münsteraner Professors und Liturgikers Wilhelm Stählin müsste hierfür von Bedeutung gewesen sein. Was bedeutete es für die Oldenburger Protestanten, wenn er die Kirche als Michaelsbruder im Schulterschluss mit den Vertretern der Bekennenden Kirche führte? Stählins theologisch-kirchliches Profil - er bemühte sich beispielsweise darum, in die apostolische Tradition zu stehen zu kommen - und seine kybernetischen Fähigkeiten bleiben undeutlich.

Der konfessionelle Zugriff auf die Territorialkirchengeschichte ist in dieser Monographie überwunden. Sie kann teilweise als eine Christentumsgeschichte für das Oldenburger Land gelesen werden. So trägt sie der in den letzten Jahren verstärkt herausgestellten Tatsache Rechnung, dass es gerade das entscheidende Charakteristikum der neuzeitlichen Kirchengeschichte ist, eine Pluralität von Denominationen zu umfassen. Inspirierend für weitere Forschungen wirkt in besonderer Weise dasjenige, was unvermittelt, ja sogar gegensätzlich nebeneinander steht: der Weg der beiden großen Konfessionskirchen und ihrer Glieder zwischen 1933 und 1945. Deren vergleichende Betrachtung und Untersuchung im territorialen Zusammenhang dürfte anregend auf die weitere historische Forschung wirken. Insgesamt gilt, dass diese Oldenburger Kirchengeschichte einerseits dazu einlädt, gängige Thesen am Quellenmaterial zu überprüfen und andererseits Gesichtspunkte für die Bestimmung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dieser und anderen deutschen Kirchenlandschaften nennt. Damit ist sie für die Kirchengeschichte Deutschlands von großem Interesse.