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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

764–767

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Trocmé, Étienne

Titel/Untertitel:

L'Évangile selon Saint Marc.

Verlag:

Genève: Labor et Fides 2000. 414 S. gr.8 = Commentaire du Nouveau Testament, 2. Kart. sFr 240.-. ISBN 2-8309-0972-0.

Rezensent:

Eduard Schweizer

Der Kommentar ist die Frucht einer über 30-jährigen Arbeit. Seine Vision findet sich schon ausführlich und in der Diskussion mit der Literatur in E.T., "La formation de l'évangile selon Marc", EHPhR 57, 1963, kurz und vorsichtiger formuliert in "Christ and Spirit in the N.T.", ed. B. Lindars u. a., Cambridge 1973, 3-113. Sie verwandelt W. Wredes These, Markus habe aus einem unmessianischen Leben Jesu ("Messiasgeheimnis") ein (hellenistisches) Christuszeugnis gemacht, fast ins Gegenteil (1963: S. 18.98 f.; 1973: S. 5.8-10; 2000: S. 59 f.210.227. 239). Proto-Mk (UrMk) enthält noch keine Passionsgeschichte (PG), vgl. Seiten 176/3.6/11 und öfter. Es handelt sich also nicht um eine Leidensgeschichte mit ausführlicher Einleitung, sondern um "eine Erzählung von der Ausbildung der Jünger zu ihrer Rolle als Leiter der Kirche mit der Passionsgeschichte als Anhang" (280). Dabei ist nicht an die "sophisticated" Kirchenführer in Jerusalem gedacht (1973: 13), sondern an die "Hellenisten" von Apg 6,1-6 (1963: 199-201; 2000: 43.205.214). UrMk berichtet von einem einzigartigen Handeln Gottes in Jesus, in das alle (auch die Leser!) eingeschlossen sind, wenn sie bereit sind zur Weggenossenschaft mit Jesus (125 f.137/4-6/10.26.29). Ort dieses Handelns ist Galiläa, und seinen Inhalt beschreiben die dort in ländlicher Umgebung lokalisierten, volkstümlich erzählten Wundertaten (37 f. 41/12 f./131 f.,160 u. ö.), und es brauchte Mut, sie in ein Evangelium aufzunehmen (43 f.6 f.150.286 f. zu 5,25-34; 11,20-25). Das ist jetzt zu einem gewichtigen, weithin spannenden Buch gewachsen.

Nach einer kurzen, interessanten Einleitung (7-12) werden die Textabschnitte, umrahmt von einer kurzen Analyse und Zusammenfassung, Vers für Vers interpretiert, öfters nacherzählend und daher gut lesbar. Die Gliederung des Evangeliums (8.90 f.94.103.105.211-225.276.278 f.334) teilt ein: I 1,1-3,12; II 3,13-6,13; III 6,14-8,30; IV 8,31-10,52; V 11,1-13,37; VI 14,1-16,8 (im Wesentlichen schon 1963: 65 f./1973: 6). Die sechs Sektionen sind jeweils durch inclusio eingeleitet und begrenzt: 1,4-6/3,7-12 (Summarien: Johannes und Jesus); 3,13-19.20-35/6,7-13.1-6 (Berufung und Sendung); 6,14-16/8,27-30 (Wer ist Jesus?); 8,22-26/10,46-52 (Blindenheilung; symbolisch: 222.224.278); 11,1-10/13,24-32 (Einzug in Jerusalem, Wiederkunft) 14,3-9/16,1-8 (Salbung Jesu).

UrMk schreibt in der Nähe Galiläas = Philippus in Caesarea um 50 n.Chr.? (Apg 21,8; 1963: 202 f./2000: 11). Er hat Q gekannt (162,217), hat aber bewusst keine Sammlung von Jesusworten geschaffen (7 f.). Jesu Gesamtwirken ist wesentlich, weil darin Gottes Gegenwart aufleuchtet und seine Jünger zur Missionstätigkeit ruft, in Galiläa und bis in die Zeit der Leser hinein (157-160/13/110.160.163 und öfter, vgl. 49,131,9). UrMk verbindet "Jesus" und "Evangelium" (= Missionsbotschaft) eng (231 zu 8,35; vgl. 7 f.24 zu 1,1). Die Jünger entdecken die Messianität Jesu, indem sie die Verantwortung für die Evangelisation des Volks übernehmen, das nicht nur Lehre, sondern auch Fürsorge und Heilung braucht (165,190 f. zu 6,56 red.). Freilich ist ihre Verständnislosigkeit auf Jesu Belehrung angewiesen (187), die einen Mittelweg zwischen Radikalismus und Nachgiebigkeit wählt, der der späteren Missionssituation entspricht (256 f. 163). Gefordert ist eine Nachfolge, die Jesu Wirken "reproduit" und "imite" (161,164, einschränkend: 229). Der volle Einsatz dafür ist wichtiger als das christologische Bekenntnis des Petrus und - der Kirche von Jerusalem (schon 1963: 167 f./1973: 11-13), insbesondere des Bruders Jesu Jakobus (1963: 104-108/2000: 45.156-160.234, "hostile": 95). Wahrscheinlich zielt 13,6 auf Propheten in Jerusalem, die im Ich-Stil christologische Jesusworte kreieren (324, vgl. 1963: 165). Das Heil kommt von Jesus, nicht von der Urgemeinde (108)! UrMk lebt noch im Rahmen des Judentums. Die "Engelchristologie" der Wundergeschichten seiner Tradition (137 f.) sprengt dessen Monotheismus nicht (164). Heidenmission ist kein Problem, aber auch nicht prioritär (141.145.205.211.325 zu 5,18-20; 7,27-37; 13,10; ähnlich 1963: 153 f.199). So steht UrMk zwischen der Kirche in Jerusalem und Paulus (146.178). Paulus ist nicht der einzige, schon vor ihm haben die dem Evangelisten nahe stehenden Hellenisten (Apg 11,19-21) Heiden missioniert, ohne die zentrale Stellung Israels zu gefährden (141.207.278).

Auch für UrMk ist die Passion wichtig wegen ihres Einflusses auf die Nachfolger. Bewusst fügt er 10,45 ein und formt wohl (127: in Erinnerung an Jes 53,12?) selbst den Versschluss "und sein Leben als Lösegeld (ein sozialer, nicht kultischer Begriff!) für viele hingeben" (271.273). Wichtig ist das Ende des Tempels (Mk 11.12-2: 290). Gewiss ist Liebe wichtiger als Opfer (Mk 12,33b: 311), aber UrMk ist nicht so radikal wie Stephanus (Apg 7,47-51: 288.320; weniger klar 1963: 85 f.) und polemisiert nie gegen den Opferdienst (vgl. auch Apg 2,46a). Die anschließenden Kontroversen 11,27-12,27 zeigen eigentlich schon den auferstandenen Jesus, der triumphal die Krise überwunden hat und schon die Früchte erntet, während er seinem Tod entgegengeht (293). Die Texte stammen aus Jerusalemer Tradition (291); aber die positive Antwort eines der Schriftgelehrten (mit denen Jerusalem kooperiert) in 12,28-34 wird vom Evangelisten durch Anfügung von V. 38-40 als Ausnahme hingestellt (312-315). Er schiebt auch das Winzergleichnis ein (12,1-12) und gestaltet V. 10 f. redaktionell: die "andern", denen der Weinberg gegeben wird, sind nicht ein anderes "Volk" (Mt 21,43), sondern andere Führer in Israel, nämlich der auferstandene Jesus und seine Jünger (299), die durch ihn bewegt und bewahrt "sein Werk der Großen Botschaft" weiterführen (293). Die Lehre Jesu im Tempel wird abgeschlossen durch das Gegenbild zum verdorrten Feigenbaum (11,12-14.20-26), die Witwe mit ihrer Opfergabe (12,41-44,316). Sie leitet eine kraftdurchdrungene Mission ein, deren Volkstümlichkeit sich abhebt von der Versuchung der Kirche in Jerusalem, sich den jüdischen Institutionen anzugleichen (3.18, vgl. 1963: 131). 13,3-27 folgt eine christliche Apokalypse (322 f., von ca. 40 n.Chr.: 326), wobei im Anschluss an Jesu Vorliebe zu den kleinen Leuten (12.44) die Trennung Jesu vom Tempel in V. 1 f. betont wird (319). Sie ist definitiv; aber dass Jesus ihn zerstöre (14.58), ist nicht gesagt (320). Gegenüber einer Naherwartung der Parusie wird das Gewicht auf die Zeit für die Mission gelegt (328: 13,10). Sie ist nicht esoterisch, sondern allem Volk bestimmt, wie der letzte (redaktionelle) Vers von UrMk es ansagt. R. Bultmann nannte das die Auferstehung Jesu ins (nicht "im") Kerygma (E. S.). UrMk hat die PG schon gekannt (10,32-34!), aber nicht aufgenommen (333). Das zeigt gerade 13,37, der ein besserer Schluss des Evangeliums ist als 16,8. Außerdem sind die Jünger in Mk 14-16 nicht mehr Nachfolger Jesu (freilich auch 8,32; 9,32; 10,32.35 nicht, E. S.). Ob sie den Tod Jesu angenommen haben und sich damit einverstanden erklärten (342f.), bleibt ebenso fraglich wie die von UrMk unterschiedene Bedeutung von "Evangelium" in 14,9 (338). Die Verse 9,9f. 31; und 10,34 verheißen, dass Jesus (aktiv) "auferstehen" wird, 14,28 und 16,6 hingegen, dass er (passiv) "auferweckt wurde" (jedoch in einem traditionellen Satz, E. S.). Die Datierung der Auferstehung "nach drei Tagen" ist typisch für Mk 8,31; 9,31 (230 [und Lk 27,63]), ist aber sachlich mit der PG vereinbar (H. Lietzmann interpretiert z. B. Gal 1,18 im HNT 1932 = "nach zwei Jahren"! E. S.). Hohheitstitel und Heilstod Jesu werden in der PG wichtiger (333; aber vgl. 1,3 ["seine" red. = Jesu]; 5,7; 8,27-29 und 10,45; 11,3; vielleicht auch 10,48 neben 12,37, E. S.). Vers 9,10 könnte in der Tradition des UrMk Zurückhaltung gegenüber Ostererscheinungen andeuten (239); doch fehlen sie auch in Mk 14-16, und schließlich kennt auch die PG eine inclusio wie Sektionen I-V vorher (s. o. E. S.).

Die Passionsgeschichte ist erst eine Generation später an Mk 1-13 angeschlossen worden - als schon andere Evangelien die Gattung einer Biographie suggerierten (333 f.230) - nämlich bei der Edition des Evangeliums um 80 (1963: 190-193: 85) n.Chr. in Rom, auf die kleine Zusätze wie 7,13 f.19; 15,16 zurückgehen (196, vgl. 201.364). Sie diente als Text einer Liturgie der Karwoche in Jerusalem, die jeweils mit den zum Osterfest kommenden Pilgern zusammen gefeiert wurde (1963: 50/2000: 340 f.). Das führte zur Einteilung in die Tage einer Woche (schon beim Anschluss als Zusätze zu Mk 11,11 f. 15.19f. 27, 281-286, vgl. 1963: 181) und in die Stunden eines Tages (14,12-31; 15,25.33.34; 340.367). Schulrhetorik hat weder in Mk 1-13 noch in 14-16 Spuren hinterlassen (334). Der merkwürdige Schluss in 16,8 ist nur verständlich, wenn 16,1-8 die letzte Szene einer Liturgie war. Das lässt darauf schließen, dass das Nichtauffinden des Leichnams Jesu historisch ist und dass die Deutung des Evangelisten nicht absurder ist als andere Erklärungen. Nach Markus muss Jesus jetzt in anderer Weise als früher vorangehen, damit die Botschaft von seiner Auferstehung verbreitet werde (14,28; 16,7: 376-378 - die Vorstellung einer mystischen Gegenwart Jesu auf Erden, der erst zum Jüngsten Gericht in den Himmel fährt [1963: 133], ist nicht mehr beibehalten). Das bestätigt der kurze nichtauthentische Schluss (380: das Kerygma wird ausgesandt, nicht Missionare und Apostel). Der längere Schluss verrät die Situation des 2. Jh.s als die elf Jünger zu Missionaren kat'exochen geworden waren (384). das Freer-Logion (5. Jh., zum Teil schon im 4. bekannt) verkündet die endgültige Überwindung Satans (386).

Müsste ich also in meiner Theologischen Einleitung in das NT (GNT 2, 1989) bei der Überschrift 8.2 "Galiläa und Jerusalem zwei Urgemeinden" das Fragezeichen streichen? Dort versuchte ich, die vormarkinischen Wunderberichte ernst zu nehmen und Mk als den zu verstehen, dem die Nachfolge Jesu auf seinem Weg zum Kreuz am Herzen liegt, der ihn aber zugleich vom Kerygma der "einen Urgemeinde" Jerusalem ( 8.3) her interpretiert und so gegen einen Glauben an einen bloßen Wundertäter wie gegen eine, den irdischen Jesus nicht mehr wichtig nehmende, Kerygmatisierung kämpft ( 8.10). Die Entscheidung hängt davon ab, ob es einen Proto-Markus gab ohne Passionsgeschichte. Das bleibt auch für mich offene Frage, aber (noch?) nicht sicheres oder mindestens sehr wahrscheinliches historisches Faktum. Wie immer, das Erfrischende an T.s Buch ist das Eintreten für eine lebendige und volkstümliche Verkündigung des damaligen und heute erst recht wirkenden Jesus, bei der die theologischen Formeln den sichernden Hintergrund bilden, aber nicht die Sache selbst sind. Dass so der Dienst (die Mission würde T. sagen) aller bekannten und unbekannten Jünger und Jüngerinnen mindestens so wichtig ist wie die Klugheit der Theologen, wirkt wie ein Frühlingswind.