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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

761 –764

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

(1) Pilch, John J. (2) Wohlers, Michael

Titel/Untertitel:

(1) Healing in the New Testament. Insights from Medical and Mediterranean Anthropology.
(2) Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion.

Verlag:

(1) Minneapolis: Fortress Press 2000. XIV, 180 S. m. Abb. 8. Kart. $ 18.-. ISBN 0-8006-3178-1.
(2) Marburg: Elwert 1999. X, 298 S. gr.8 = Marburger Theologische Studien, 57. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7708-1135-6.

Rezensent:

Christian E. Strecker

John Pilch lehrt Biblische Exegese an der Georgetown University, Washington, D. C. und war über lange Zeit im amerikanischen Gesundheitswesen tätig. Vor diesem Hintergrund hat er in etlichen, verstreut publizierten Aufsätzen Deutungsansätze für die biblischen Heilungserzählungen entwickelt, die zum Innovativsten gehören, was auf diesem Gebiet in den beiden letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurde; namentlich J. D. Crossan ließ sich von ihnen inspirieren. Mit dem angezeigten Buch liegen diese nun in überarbeiteter Form und um einen Originalbeitrag erweitert für jedermann leicht zugänglich vor.

Nachdrücklich wendet sich P. gegen die verbreitete Gewohnheit, antike Heilungsberichte im Horizont der modernen westlichen Medizin als vermeintlich universal gültigem Paradigma auszulegen. Solcher "medicocentrism" impliziere zwangsläufig anachronistische und ethnozentrische Fehldeutungen (19.91). Um nun den fraglichen Texten besser, d. h. gemäß der ihnen eingelagerten spezifischen Weltsicht gerecht zu werden, rekurriert P. auf Einsichten und Modelle der Kulturanthropologie, insbesondere auf solche der Medizinanthropologie. Diese stellt er in den beiden ersten Kapiteln (1-17.19-36) zunächst anschaulich vor. Eine erste Anwendung erfolgt im dritten Kapitel mit Blick auf die angebliche Thematisierung von Lepra in der Bibel (39-54). In vier weiteren Kapiteln appliziert P. seinen Zugang unter je erneuter Entfaltung der Modelle auf die Heilungsberichte der Evangelien inkl. der Acta (57-138).

Zu den besagten Modellen zählt zunächst die von F. R. Kluckhohn und F. L. Strodtbeck entwickelte kulturvergleichende Theorie basaler Wertorientierungen, mit deren Hilfe Grundausrichtungen der antik-mediterranen Kultur des NT von der moderner Amerikaner abgehoben werden (3 ff.). Diese unterscheiden sich danach u. a. im Personkonzept, wobei hier kollektivistische und individualistische Prägungen einander kontrastieren. Des Weiteren arbeitet P. mit einem hermeneutischen Krankheitskonzept, das Krankheit nicht biomedizinisch als empirische Entität, sondern von ihrem Bedeutungsaspekt her als kulturell codiertes Konstrukt fasst (13 f.40 ff.). Dementsprechend gelte es zwischen "disease", den biologischen Fehlfunktionen eines Individuums, und "illness", den sozialen und kulturellen Implikationen des Krankseins, zu differenzieren sowie analog dazu zwischen "curing", der körperlichen Wiederherstellung in biomedizinischer Hinsicht, und "healing", einem auf Sinnvermittlung und soziale Integration abzielenden therapeutischen Wirken (24 f.). Die biblischen Berichte handeln nun nach P. nicht von "disease", sondern von "illness" (60.71.76.94.142); ob Jesus Kranke kurierte ("curing"), lasse sich nicht sagen, zentral sei sein heilendes Wirken ("healing"). Maßgeblich ist für P. sodann vor allem Arthur Kleinmans kulturübergreifende Unterteilung medizinischer Systeme ("health care systems") in drei sich überlappende Sektoren: den professionellen, den volksmedizinischen und den Laiensektor (d. i. der primäre Umgang mit Krankheit im engeren Sozialnexus; 26f. u. ö.). Die ntl. Berichte werden zumal im Schnittfeld der beiden letztgenannten Sektoren verortet. Jesu Handeln falle konkret in den volksmedizinischen Sektor; er werde in den Evangelien durchgängig als Volkshei- ler ("folk healer") dargestellt - eine von I. Press konzipierte Kategorie (101f.)-, wobei ihn Mk näherhin als "teacher-healer" (71) und Lk als "prophet healer" (95 f.100) zeichne. Zur Erhellung der ntl. Therapien verwendet P. ferner das Modell des symbolischen Heilens ("symbolic healing") von D. E. Moerman und J. Dow (32 ff.). Auf dieser Grundlage vermag er eine bemerkenswerte Analyse von Joh 9,1-41 vorzulegen (131-137). Darüber hinaus durchziehen das Buch noch etliche weitere Modelle.

Der explizite Gebrauch anthropologischer bzw. ethnologischer Theorien ist hierzulande ungebräuchlich und verlangt Aufgeschlossenheit gegenüber interdisziplinärem Arbeiten. Das Buch fügt sich freilich just darin jener kulturalistischen Wende in den Geisteswissenschaften ein, die inzwischen auch in Deutschland zumal im Fach Geschichte Fuß fasst ("neue Kulturgeschichte"). Das Moment der kulturellen Bedeutungskonstitution und -produktion rückt dabei in den Mittelpunkt der historischen Analyse. Zugespitzt heißt es analog dazu bei P. über die hermeneutische Arbeit der Evangelisten: "Culture rather than theology guides the interpretation" (72).

Die Gefahren speziell des von P. praktizierten Ansatzes liegen sicherlich in einer Überstrapazierung der "Ordnung der Dinge", derer er sich allerdings selbst bewusst ist (16 f.). Grundsätzlich lässt seine kulturanthropologische Exegese aber gerade in ihrer extensiven Modellorientierung der Alterität der antiken Texte mehr Gerechtigkeit widerfahren als eine Exegese, die kulturelle Differenzen ungenannt übergeht. Die vielen innovativen Beobachtungen am Text, die hier im Einzelnen nicht aufgezählt werden können, belegen die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes. Erwähnt sei, dass sich das Buch im Argumentationsstil über die Fachwissenschaft hinaus an eine breitere Öffentlichkeit wendet. Dieser Impetus erklärt auch die sehr persönlich gehaltene "conclusion" (141-143), die Diskussionsfragen (145-150) sowie das informative Glossar (151-159), mit denen P. neben Literaturverzeichnis und Bibelstellenregister schließt.

Die 1999 bei D. Lührmann in Marburg fertiggestellte Dissertation von Michael Wohlers ist demgegenüber streng medizinhistorisch ausgerichtet. Ihr Anliegen ist es, die ntl. Vorstellungen über Krankheit und Heilung gezielt in ihren historischen Kontext einzubetten. W. liefert dazu eine beeindruckend umfängliche Sichtung und Besprechung antiker Krankheitskonzepte samt der dazugehörigen nosologischen Behandlungsmethoden. Um angesichts der Fülle des Materials profilierte Vergleiche zu ermöglichen, konzentriert er sich schließlich auf Epilepsie als exemplarischen Fall. Diese im NT in Mk 9,14 ff. beschriebene Krankheit stelle prinzipiell einen besonderen Kristallisationspunkt in der antiken Auseinandersetzung zwischen medizinischen und religiösen Konzepten dar (12).

Die griech. Terminologie (epilepsis etc.) darf dabei nicht unbesehen an die moderne Epilepsiediagnose assimiliert werden, wie W. richtig betont (19-23), deckt sie doch in der Antike ein viel breiteres Spektrum anfallsartiger Krankheitsbilder ab. Der Epilepsiebegriff wird deshalb in der Untersuchung konsequent in Anführungszeichen gesetzt. Um anachronistische Verwechslungen gänzlich zu umgehen, wäre es vielleicht noch besser, ihn völlig zu vermeiden und stattdessen, dem Medizinhistoriker O. Temkin folgend, bewusst unspezifisch von "Anfallsleiden" ("falling sickness") zu sprechen.

Die Arbeit ist übersichtlich aufgebaut. Nach einer instruktiven Einleitung (1-23), die über die genannten terminologischen Probleme hinaus weitere methodische Fragen abklärt und knapp den aktuellen Forschungsstand reflektiert, untergliedert sie sich in drei Hauptteile: einen profunden Überblick über das weite Feld antiker Krankheitskonzepte (25-86), eine Diskussion diverser Deutungen von "Epilepsie" in der Antike (87-150) und eine Erörterung der dazugehörigen Therapieansätze (151-242). Mehrere eingesprengte Exkurse verhandeln u. a. Einleitungsfragen selten beachteter antiker Literatur und zentrale Themenbereiche, wie etwa das Begriffsfeld selenia- (118-120). Als Grundlage fungieren neben dem NT durchweg Quellen aus der Zeit zwischen dem 5. Jh. v. Chr. und dem 3. Jh. n. Chr. Die erst später literarisch fixierten Zauberpapyri wie auch der babylonische Talmud bleiben im Wesentlichen außen vor. Im Anhang finden sich nebst Literaturverzeichnis und Auswahlregister eine tabellarische Erfassung medizinischer und astrologischer Autoren (245-248) sowie diverse, größtenteils bislang unübersetzte Quellenauszüge zur Geschichte der "Epilepsie" (248-260).

Einige zentrale Ergebnisse der Studie lassen sich entlang der vier Untersuchungsbereiche skizzieren, die W. in allen drei Hauptkapiteln behandelt und je zum NT ins Verhältnis setzt: wissenschaftliche Medizin, Astrologie, Religion, Volksmedizin.

Die auffällige Distanz des NT gegenüber der wissenschaftlichen Medizin- sie spiegelt sich in nur wenigen Reflexen auf ärztliches Handeln, die Humoralpathologie und Medikamentengebrauch - erklärt W. sozialgeschichtlich mit der finanziellen Unerschwinglichkeit ärztlicher Hilfe für das Gros der frühen Christen und der Unvereinbarkeit des medizinischen Weltbildes mit dem Theologumenon der Alleinzuständigkeit Gottes (80).

Bemerkenswert ist W.s Berücksichtigung astrologischer Literatur, auch wenn der Ertrag mit Blick auf die im NT erwähnten Heilungen gering ausfällt. Immerhin werden hinter Mt 4,24; 17,15 konkret benennbare laienastrologische Vorstellungen greifbar. Angesichts der mutmaßlichen Verbreitung der Astrologie im damaligen Judentum ist diesem Bereich antiker Sinnkonstruktion in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken (s. B. J. Malina: On the Genre and Message of Revelation. Visions and Sky Journeys, Peabody MA, 1995; erscheint demnächst dt.).

W. unterstreicht die Dominanz der religiösen Krankheitsmodelle und Therapien im NT und untermauert dabei einige bekannte Einsichten. Gegen den Mainstream der ntl. Forschung steht indes seine These, die in den Synoptikern und Acta fassbare Rückführung von Krankheit respektive "Epilepsie" auf dämonische Besessenheit sei ein genuin urchristlicher Beitrag und nicht der Umwelt entnommen, lasse sie sich doch vor dem 1.Jh. n. Chr. nicht sicher nachweisen (128 ff.). Entsprechendes gelte von der Therapie durch Ausfahrbefehle und Exorzismen (216.232). Als Hintergrund verweist W. auf jüdische Wurzeln, zumal die sich im Testamentum Salomonis spiegelnde Degradierung von Gottheiten auf krankheitsverursachende Zwischenwesen (130). Die These verdient Beachtung. Schon R. Kampling (Jesus von Nazareth - Lehrer und Exorzist, BZ NF 30, 1986, 237 ff.) und D. Trunk (Der messianische Heiler, Freiburg 1994, 357), die W. leider nicht rezipiert hat, merkten an, die gängige Meinung, Besessenheit und Exorzismen seien ein im antiken Umfeld verbreitetes Phänomen, lasse sich von den Quellen her nicht wirklich belegen.

Die Offenheit des NT gegenüber volksmedizinischen Praktiken, die im wiederholt erwähnten Gebrauch von Speichel (incl. präventivem Ausspucken), Wein oder Öl durchscheint, gründet laut W. in der billigen Verfügbarkeit der Mittel und ihrer Kompatibilität mit diversen Krankheitsmodellen (242).

W. hat insgesamt eine verdienstvolle Untersuchung vorgelegt, die über die Fokussierung auf "Epilepsie" hinaus eine umfassende Sichtung des antiken Diskurses über Krankheit und Heilung im Hintergrund des NT liefert. Dies gilt auch dann, wenn man über die eine oder andere Einzelheit streiten mag (etwa die etwas unkritische Übernahme des Theios-aner-Konzepts; s. 83f.) und sich vielleicht bisweilen eine genauere exegetische Behandlung der ntl. Stellen wünscht.

Wie verhalten sich aber beide Arbeiten zueinander? Der von P. formulierte Vorwurf an die Adresse medizinhistorisch orientierter Exegese, sie konzentriere sich zu sehr auf die für das NT irrelevante Ärzte-Medizin der Elite (103), trifft auf W. angesichts der Weite des Feldes, das er durchmisst, nicht zu. Im Gegenteil: W.s Studie könnte gewissermaßen die von P. herangezogene Theorie der medizinischen Sektoren in allen Bereichen mit wertvollem Material unterfüttern. Das Problembewusstsein hinsichtlich der kulturellen Alterität antiker Texte, das sich bei W. etwa im Umgang mit dem Begriff "Epilepsie" zeigt, könnte umgekehrt durch eine Beachtung kulturanthropologischer Einsichten profiliert werden. Insofern ergänzen sich beide Arbeiten trotz ihrer unterschiedlichen Orientierungen durchaus und stellen zumal eine wichtige Bereicherung gegenüber dem Gros der klassischen formgeschichtlich oder i. e. S. theologisch (Wunderfrage) ausgerichteten Arbeiten zum Thema dar. Sie verdienen deshalb Aufmerksamkeit.