Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

760 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Merklein, Helmut

Titel/Untertitel:

Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 5,1-11,1.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; Würzburg: Echter 2000. 290 S. 8 = Gütersloher Taschenbücher, 512. Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, 7/2. Kart. DM 48,-. ISBN 3-579-00512-X.

Rezensent:

Christian Wolff

Im Vorwort seines zweiten Kommentarteilbandes zum 1Kor vermerkt Helmut Merklein, "daß auch der noch ausstehende dritte Teil - nach menschlichem Ermessen - binnen Jahresfrist vorgelegt werden kann" (12). Aus diesem Hinweis ist zu erahnen, wie intensiv der Autor bis zu seinem Tode an Weiterführung und Abschluss der Auslegung des 1Kor gearbeitet hat, dass er sich zugleich aber des Vorbehalts einer Fertigstellung bewusst war.

Die Anlage des posthum erschienenen zweiten Teilbandes, der den Kommentar zu 1Kor 5,1-11,1 enthält, gleicht erwartungsgemäß der des ersten Bandes (vgl. ThLZ 118, 1993, 740-742): Der Übersetzung des jeweiligen Abschnittes folgen ausführliche Literaturliste, Bemerkungen zu textkritischen Problemen und Übersetzungsmöglichkeiten, syntaktisch, semantisch und pragmatisch orientierte Analysen sowie die Versexegese. Im Vergleich mit dem ersten Teilband wirken die analytischen Passagen jetzt konzentrierter, außerdem wurden soziologische Aspekte noch stärker berücksichtigt, schließlich begegnen am Ende der Hauptabschnitte eigens gegenwartsbezogene Überlegungen.

Den mit "Die Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde" überschriebenen zweiten Hauptteil des 1Kor grenzt M. auf 5,1-6,20 ein, da die Zäsur in 7,1 - trotz des sich durchhaltenden Themas "Sexualität" - gravierend sei. Zur Überschrift würde sich Kapitel 7 jedoch auch wegen V.14 und V.34 als durchaus passend erweisen. - Für Kapitel 5 und 6 wird die Kohärenz mit 1Kor 1-4 aufgezeigt und vor allem der innere, durch das Heiligkeitsmotiv gegebene Zusammenhang betont. Die verhandelten Probleme werden im "Kreis der Apollos-Leute" (26) lokalisiert, bei Gemeindegliedern, "die die christliche Identität im noëtischen Aufstieg suchten, demgegenüber die vorhandene Welt (der Wahrnehmung) bedeutungslos geworden war" (26 f.). Beim Nachzeichnen der theologischen Argumentation im Zusammenhang der Sanktion gegen den Blutschänder akzentuiert M. die soteriologische Bedeutung der (traditionellen) Passalammtypologie (5,7f.): Christi "Tod am Kreuz (brachte) die Befreiung von der Knechtschaft der Sünde" (40). Den Lasterkatalogen (5,10f.; 6,9f.) ist ein ausführlicher Exkurs gewidmet, der, dem Kontext entsprechend, ihre primär ekklesiologische Funktion, die Abgrenzung gegenüber der profanen Welt, profiliert. Die Auslegung zu 6,12-20 bietet u. a. eingehende Reflexionen über die Sexualität als einen Aspekt menschlicher und somit auch christlicher Identität; diese Überlegungen werden in der sich anschließenden Frage nach der heutigen Bedeutung der Texte noch vertieft auf dem Hintergrund einer häufig praktizierten Unverbindlichkeit und Freizügigkeit in sexuellen Beziehungen, wobei die "Gemeinde als Raum der Heiligkeit" (S. 83) zur Geltung gebracht wird.

7,1-14,40 werden als dritter Hauptteil des 1Kor verstanden und unter der Überschrift "Regeln für das Gemeindeleben" zusammengefasst, da der gemeinsame Nenner dieser Kapitel grundsätzliche Probleme der Gemeindedisziplin seien, während es sich in Kap. 5 und 6 um Einzelfälle gehandelt habe. Werden in Kap. 6 aber wirklich Einzelfälle behandelt (vgl. die Pluralformen in V. 2-4.7.15.18-20), und haben andererseits die Ausführungen in 7,8-16.25-40 nicht spezielle Gruppen bzw. Situationen im Blick? Außerdem betrifft das Thema "Ehe und Ehelosigkeit" (Kap. 7) das Gemeindeleben kaum intensiver als das Thema "Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde" (Kap. 5 und 6), zu dem Pls. ebenfalls generelle Feststellungen und Handlungsanweisungen formuliert (vgl. 5,11; 6,7.12 f.18.20). Die Trägergruppe der Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit Verheirateter vermutet M. unter den Glossolalen, die er mit der Paulusgruppe identifiziert; sie hätten ihr Leben in engelgleicher Existenz (13,1a; Mk 12,25) mit der Autorität des ehelosen Apostels begründet. Der 1Kor enthält jedoch keinen Hinweis, dass die Charismen auf die in 1,12 erwähnten Gruppen exklusiv verteilt wären. Auch dürfte "die Faszination der neuen Existenz und der damit verbundenen Geisterfahrung" (106) nicht nur bei den Glossolalen anzutreffen gewesen sein. - Die theologische Sachproblematik von 1Kor 7 wird profund bedacht, wobei dem differenzierten Bild, das sich aus der paulinischen Argumentation ergibt, Rechnung getragen wird.

Eine umfassende Analyse von 8,1-11,1 plädiert zugunsten der sachlichen Einheitlichkeit dieser Passage. Die Verfechter des Opferfleischessens vermutet M. in ansprechender Weise unter sozial höherstehenden, ehemaligen Gottesfürchtigen, die den Übertritt zum Judentum angesichts der Speisegebote nicht vollzogen hatten, um ihre soziale Identität nicht zu gefährden, und nun nach ihrer Christwerdung die Bedeutungslosigkeit der Speisen vehement betonten. - Der erste Teil von Kap. 9 wird nicht primär als Apologie verstanden, sondern als Ausführung darüber, dass der Rechtsverzicht eine Freiheitsäußerung ist. apologia (V. 3) wird dementsprechend mit "Antwort" übersetzt (205). Die den Abschnitt prägende Frageform bleibt dabei jedoch unberücksichtigt. - In 10,1-13 vermutet M. "ein Beispiel prophetischer Rede" bei Paulus (243). Für Prophetie ist freilich der Offenbarungsempfang bezeichnend (14,26.29 f.), der in 10,1-13 nicht angedeutet ist. Eher wird man - wegen der Schriftauslegung - in dem Passus ein Beispiel für die charismatische Lehre des Apostels erkennen können. - Im auswertenden Rückblick auf 8,1-11,1 reflektiert M. das Verhältnis von christlicher Freiheit und sittlicher Verantwortung (u. a. auch mit kritischem Blick auf die Selbstgefälligkeit von Vertretern der Theologie und des kirchlichen Amtes) sowie die Einordnung christlicher Ethik in eine "bereits eschatologisch verwirklichte Heiligkeit" (288).

Nicht nur die Überlegungen am Schluss der jeweiligen Hauptteile zeigen, daß neben der tiefschürfenden analytisch-exegetischen Arbeit der hermeneutische Aspekt in diesem zweiten Teilband zum 1Kor bedeutsam ist; auch zwischendurch begegnen Erwägungen, die z. B. das Verständnis der Naherwartung (144 f.) und die Hermeneutik des Alten Testaments betreffen (221) oder die eine Sensibilität für den christlich-jüdischen Dialog (etwa 244 und 252) bezeugen.

Nach der ertragreichen Lektüre des zweiten Teilbandes kann man nur hoffen, dass H. Merkleins Kommentar zum 1Kor nach dem Tode des Verfassers kein Torso bleibt, sondern einen Abschluß findet, in dem das hohe Niveau gewahrt bleibt.