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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

754–756

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dawes, Gregory W. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

The Historical Jesus Quest. A Foundational Anthology.

Verlag:

Leiden: Deo 1999. XIV, 313 S. 8 = Tools for Biblical Study, 2. Pp. hfl 110.-. ISBN 90-5854-007-3.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Diese Anthologie verdankt ihre Entstehung einer Lehrveranstaltung über den historischen Jesus, die der Hg. für Theologiestudierende anbieten wollte. Bei der Vorbereitung stellte er fest, dass es bislang im englischen Sprachraum keine Zusammenstellung forschungsgeschichtlich wichtiger Beiträge zu dieser Frage gab. Diesem Mangel wollte Dawes, Lecturer in Religious Studies an der University of Otago (Neuseeland), abhelfen. Die Fragen der gegenwärtigen Debatte wurden seines Erachtens bereits im 18. und 19. Jh. formuliert, und die damals gegebenen Antworten prägen nach wie vor unsere Diskussion. Das Ziel seiner Auswahl ist deshalb "allowing students easy access to a few of the figures whose influence has proved to be enduring" (X). Außer einem sind alle aufgenommenen Beiträge Übersetzungen aus dem Deutschen, und so ergibt sich die eigentümliche Situation, dass wir nun eine englische Anthologie deutscher Forschungsgeschichte besitzen, für die es meines Wissens kein wirkliches deutschsprachiges Äquivalent gibt.

Das monumentale Werk von W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Freiburg i. Br. 21970, enthält nicht alle von D. angeführten Autoren und ist natürlich sehr viel breiter angelegt, was eine Stärke und eine Schwäche ist. Die Anthologie von M. Baumotte [Hrsg.], Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten [Reader Theologie], Gütersloh 1984, war mir nicht zugänglich.

"An anthology of this sort is, of necessity, an exercise in exclusion" (IX). Das ist ohne Zweifel zutreffend, und man muss dem Hg. für seinen mutigen Versuch danken. Er orientiert sich dabei an zwei Leitfragen: 1. Was bedeutete der Begriff "Gottesherrschaft", der für Jesu Predigt zentral war, für die zeitgenössischen Hörer? 2. Welche theologische Bedeutung haben historische Erkenntnisse über Jesus? Die Auswahl wichtiger Antworten auf diese beiden Fragen ergibt einen packenden Streifzug durch zwölf Autoren von Spinoza bis Käsemann, von 1670 bis 1953. Jedem Beitrag stellt D. eine Einführung voran, in der biographische Informationen zum Autor und zum ursprünglichen Kontext des abgedruckten (zwischen fünf und 36 Seiten langen) Textabschnitts geboten werden. Vor allem aber rechtfertigt D. hier implizit seine Auswahl, indem er die Stellung des Beitrags in der Leben-Jesu-Debatte markiert. Dabei werden Bezüge zu den anderen Texten der Anthologie, aber auch zu heute diskutierten Fragen hergestellt. Diese Einführungen sind in ihrer Klarheit und Kürze vorbildliche Lesehilfen.

Ein mit "The Divorce between History and Faith" überschriebenes Einleitungskapitel will zeigen, wie es überhaupt zur Einsicht kommen konnte, dass der von der Kirche verkündete Christus nicht einfach mit dem historischen Jesus von Nazaret identisch ist. D. beginnt mit einem Abschnitt aus Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670), in dem Spinoza seine Methode der Bibelinterpretation vorstellt und - darauf legt D. besonderen Wert - zwischen der Bedeutung und der Wahrheit eines Textes unterscheidet. Der Abschnitt handelt zwar nicht vom historischen Jesus, die hier getroffene Unterscheidung bereitet die Fragestellung aber vor. Die endgültige Ausformung des so eingeleiteten neuen Zugangs zur Schrift demonstriert D. mit einem Aufsatz von Ernst Troeltsch über die "Historische und dogmatische Methode in der Theologie" (1898).

Die folgenden acht Kapitel lassen sich auf drei sachliche und chronologische Entwicklungslinien verteilen. Auf Hermann Samuel Reimarus' Einschätzung der Evangelien als Zeugnisse eines Betrugs (Abschnitte aus den Fragmenten VI und VII von 1777/1778) folgen die Unterscheidung zwischen Geschichte und Mythos durch David Friedrich Strauß (Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 41840) und die konsequente Skepsis von William Wrede (Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, 1901). Eine zweite Linie zieht D. von der liberalen Theologie (Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, 1875: die Gottesherrschaft als "the moral ideal of the religious fellowship founded by Jesus" [Formulierung von Dawes, 154]) über den Einspruch Johannes Weiß' (Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892: die Gottesherrschaft als göttliche Prärogative der Zukunft) bis zur konsequenten Eschatologie Albert Schweitzers (Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, 1901; Aus meinem Leben und Denken, 1931: die Gottesherrschaft als apokalyptische Größe, deren religiöse Wahrheit heute in Taten der Liebe zur Geltung kommt). Die dritte und letzte Entwicklungslinie zeigt die zunehmende, theologisch motivierte Ablehnung der Frage nach dem historischen Jesus zu Gunsten des Christus des Glaubens, dokumentiert durch Martin Kähler (Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, 1892), Rudolf Bultmann (Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, 1924) und Karl Barth (Die kirchliche Dogmatik I, 1939). Den Schluss des Bandes bildet die Rehabilitierung der Fragestellung durch Ernst Käsemann (Das Problem des historischen Jesus, 1953).

Trotz mancher technischer Mängel (störend ist vor allem die Verwendung derselben Drucktype und -größe für die zitierten Texte und für D.s Kommentare) und inhaltlicher Anfragen (z. B. fehlt am Schluss jede Art von Rückblick oder Ausblick auf die Folgezeit) handelt es sich um ein verdienstvolles Unternehmen. Viele Hochschullehrer werden D.s Anthologie gerne verwenden, jedenfalls im englischen Sprachraum. Auch für deutschsprachige Hochschulen sind aber die Auswahl und D.s verbindende und kommentierende Bemerkungen ein Gewinn.