Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

749 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Otto

Titel/Untertitel:

Gottes und der Menschen Weisheit. Gesammelte Aufsätze.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. VIII, 328 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 261. Lw. DM 168,-. ISBN 3-11-016087-0.

Rezensent:

Thomas Krüger

Mit diesem Band legt Otto Kaiser 15 Studien zur biblischen und griechischen Weisheit vor, die erstmals zwischen 1987 und 1997 an verschiedenen Orten publiziert worden sind. Sie werden hier als Faksimile wieder abgedruckt und ergänzt um Register (Stellen, Personen und Sachen, Autoren), den Nachweis der Erstveröffentlichungen und ein Nachwort des Autors.

Die Titel der Aufsätze geben bereits einen Eindruck von der Spannweite der in diesem Band behandelten Texte und Themen: Die Ersten und die Letzten Dinge. - Einfache Sittlichkeit und theonome Ethik in der alttestamentlichen Weisheit. - Der Mensch, Gottes Ebenbild und Statthalter auf Erden. - Erwägungen zu Psalm 8. - Psalm 39. - Schicksal, Leid und Gott: Ein Gespräch mit dem Kohelet, Prediger Salomo. - Determination und Freiheit beim Kohelet/Prediger Salomo und in der frühen Stoa. - Die Botschaft des Buches Kohelet. - Beiträge zur Kohelet-Forschung I./II. - Anknüpfung und Widerspruch: Die Antwort der jüdischen Weisheit auf die Herausforderung durch den Hellenismus. - Was ein Freund nicht tun darf: Eine Auslegung von Sir 27,16-21. - Der Tod des Sokrates. - Die Rede von Gott am Ende des 20. Jahrhunderts. - Die Bedeutung des Alten Testaments für Heiden, die manchmal auch Christen sind.

Die Beiträge spannen inhaltlich einen weiten Bogen von Texten und Themen der alttestamentlichen Weisheitsliteratur und der griechischen Philosophie bis hin zu theologischen und philosophischen Gegenwartsfragen. Ihre Fragestellungen reichen von Problemen der Textkritik über die Literatur-, Theologie- und Philosophiegeschichte bis hin zur dogmatischen Erörterung und Beantwortung "ewiger" Grundfragen der menschlichen Existenz. Damit lässt dieser Band die beeindruckende Weite des geistigen Horizonts seines Vf.s erkennen und dokumentiert zugleich, dass eine theologische oder philosophische Wahrnehmung des AT nicht als Ergänzung oder gar Alternative zu seiner philologischen und historischen Behandlung verstanden werden muss, sondern dass sich diese verschiedenen Gesichtspunkte gegenseitig zu befruchten vermögen - und auch von einer Person bewältigt werden können, wenn sie nur über die dafür erforderliche Bildung und Gelehrsamkeit verfügt. So liegt hier ein eindrucksvolles Vermächtnis eines herausragenden Vertreters der deutschsprachigen alttestamentlichen Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s vor, dem der Rez. als Vertreter einer jüngeren Generation gerne den schuldigen Respekt zollt.

Dem Genus der Rezension entsprechend sei es gleichwohl gestattet, auch auf einige Punkte hinzuweisen, die aus heutiger Sicht nicht ganz unproblematisch erscheinen.

1. Dass die Texte des AT zu einem großen Teil in längeren literarischen Wachstumsprozessen entstanden sind, ist eine kaum zu bestreitende Einsicht ihrer historisch-kritischen Erforschung. Mit Blick auf textlich dokumentierte Wachstumsstufen der atl. und altorientalischen Literatur erscheint es aber durchaus fraglich, ob sämtliche Vorstufen der Texte mit Hilfe eines literarkritischen Subtraktionsverfahrens noch in ihrem Wortbestand rekonstruierbar sind. Methodologisch wäre zu diskutieren, ob etwa "textlinguistische Analyse[n] der Gegenprobe mittels der herkömmlichen Literarkritik ... bedürfen" (193), oder nicht (mindestens: auch) die "herkömmliche Literarkritik" einer Gegenprobe durch neuere text- und literaturwissenschaftliche Methoden.

2. Als Bezugsrahmen literarkritischer Rekonstruktionen wie theologischer Interpretationen steht bei Kaiser die "Geistesgeschichte" im Vordergrund. Politische, soziale und kulturelle Faktoren der Textproduktion und -rezeption treten demgegenüber eher zurück. Das führt bisweilen zur Rekonstruktion einliniger Entwicklungen von Problemen und Lösungsansätzen nach "systematischen" und "logischen" Gesichtspunkten. Demgegenüber wäre - nicht zuletzt mit Blick auf die altorientalische Literatur - zu fragen, ob nicht auch mit komplexeren Entwicklungen gerechnet werden müsste. Jedenfalls sollten primär "geistesgeschichtlich" orientierte Rekonstruktionen einer entsprechenden Gegenprobe unterzogen werden.

3. Hermeneutisch orientiert sich der Vf. u. a. an zwei Grundsätzen, die er (287 ff.) mit Berufung auf Hegel und Aristoteles aufstellt: a) Die Wahrheit des Besonderen ist das Allgemeine, und b) die Wirklichkeit des Allgemeinen ist das Besondere. Dementsprechend ist a) die Wahrheit des AT unsere eigene Wahrheit, während es b) "Israels Ehre [bleibt], dass es die Angewiesenheit von uns Menschen auf den einen Gott als den uns allen gemeinsamen vertrauenswürdigen Grund unserer Welt und unserer Existenz in einem langen Leidensweg erkannt und sich Gott ihm auf diesem Weg kundgetan hat" (290). Sieht man die Wahrheit des AT in dieser Weise in seinen zeitlos bzw. allzeit gültigen Einsichten über die "Grundsituation" des Menschen, so stellt sich die Frage, ob die Bedeutung des AT für das heutige Verständnis dieser "Grundsituation" sich darin erschöpft, die Geschichte der Entdeckung bestimmter Einsichten zu dokumentieren.

Zudem wäre dann zu klären, wie sich diese Entdeckungsgeschichte zu möglichen anderen Entdeckungsgeschichten verhält - ein Problem, das ansatzweise ja schon im AT selbst diskutiert wird. Versteht man hingegen unter "Wahrheit" die Übereinstimmung von Anschauung und Begriff, Erfahrung und Urteil, könnte sich die Wahrheit des AT in Anbetracht von Veränderungen in der Lebens- und Denkwelt nicht nur im "Allgemeinen" zeitlos gültiger Aussagen erweisen, sondern auch in der Konfrontation des "Besonderen", seiner vergangenen, zeitbedingten und zeitgemäßen Formulierungen mit der ebenso "besonderen" und zeitgebundenen Wirklichkeitserfahrung heutiger Leserinnen und Leser.