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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

743 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ben Zvi, Ehud

Titel/Untertitel:

Micah.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2000. XVI, 189 S. 8 = The Forms of the Old Testament Literature, XXIB. Kart. $ 35.-. ISBN 0-8028-4599-1.

Rezensent:

Helmut Utzschneider

Der Micha-Kommentar des in Edmonton, Kanada, lehrenden Ehud Ben Zvi zeigt exemplarisch, dass die "Formgeschichte" (die aus der deutschsprachigen atl. Wissenschaft weitgehend "ausgewandert" zu sein scheint) keineswegs in eine Sackgasse geraten, sondern im Begriff ist, zu neuen Ufern aufzubrechen.

Der Kommentar ist formal aufgebaut nach den Gliederungsprinzipien der Reihe ("fotl"), in der er erschienen ist. Sowohl das Micha-Buch (bewusst nicht: "die Micha-Schrift", 4) als Ganzes wie jede seiner Untereinheiten wird nach den Gesichtspunkten "Structure", "Genre", "Setting" und "Intention" untersucht. Abgeschlossen wird das Werk - wiederum konform mit den anderen "fotl"-Bänden - durch ein Glossar, das die im ausgelegten Textbereich erschienenen Gattungen (Genres) noch einmal aufführt und kurz beschreibt. Und eben hier wird das weiterführende, aber auch diskussionsbedürftige Spezifikum von Ben Zvis formgeschichtlicher Arbeit greifbar. Im Unterschied zu anderen "fotl"-Bänden, deren Glossare meist zahlreiche, mehr oder weniger vertraute Gattungsbegriffe aufweisen,1 kennt Ben Zvis Glossar (187-189) im Grunde nur noch zwei Genres für das Micha-Buch und in ihm: das "(Prophetic) Book" und das "(Prophetic) Reading". Das Letztere ist die Gattung nahezu aller Untereinheiten des Micha-Buches, die Ben Zvi mit wenigen Abweichungen in durchaus traditioneller Weise abgrenzt. (Dazu kommt die Überschrift und - als Großgattung - ein "Set of Prophetic Readings" in Mi 4-5.)

Begründet ist diese "unkonventionelle" Formkritik zunächst durch eine literarhistorische Vorentscheidung: Ben Zvi liest das Micha-Buch konsequent in seiner vorliegenden Gestalt als Text der nachexilischen Zeit. Dazu kommen dann die eigentlich gattungskritischen Gesichtspunkte: Das Buch und seine Untereinheiten sind strukturell, semantisch und rhetorisch so komplex und derart vielfältig in sich sowie aufeinander bezogen, dass zu ihrem Verständnis ein hohes Maß an literarischer Autoren- und Leserkompetenz erforderlich ist; die Texte sind darauf angelegt, gelesen und wiedergelesen, meditiert und ausgelegt zu werden. Eben dies macht die "Genre"-Eigenschaft des "Readings" aus. Das "Setting", also zugleich der "Sitz im Leben" und der "Historische Ort" für diese Leseeinheiten, seien "literati" des nachköniglichen, städtischen Zentrums Jerusalem, unter denen ein Großteil der ersten, "intendierten" Leser wie auch die Autorschaft ("implied author") des Buches und seiner "Readings" zu suchen sei. "Prophetisch" am Micha-Buch wie auch an seinen "Readings" ist vor allem deren Eigenschaft als "JHWHs Wort", was Ben Zvi tendenziell in Richtung auf "Tora" und "Lehre" hin versteht. Diese prophetische Lehre verurteilt einerseits das vorkönigliche Jerusalem in seiner geschichtlichen Rolle (Mi 1-3 und 6) und entwirft andererseits eine ideal-machtvolle Zukunft für das geminderte postmonarchische Jerusalem (Mi 4-5). Weder als Rückblicke noch als Zukunftsentwürfe haben die Texte des Micha-Buches dabei unmittelbare, kontextuelle Bezüge zu bestimmten historischen Ereignissen innerhalb oder außerhalb des Textes (vgl. etwa 135). Der Prophet Micha, nach dessen ipsissima vox Ben Zvi konsequenterweise ebensowenig fragt wie nach den redaktionsgeschichtlichen Schichten des Buches, ist eine Art literarische Figur "according to the way in which he was imagined by the community of literati within which the book was composed, read and reread" (11). Es bleibt zu fragen, wo die traditionellen prophetischen Gattungen wie das Gerichts- oder das Heilswort geblieben sind. Sie finden sich in den "Readings" bisweilen wieder - allerdings in einer literarisch verfremdeten Weise (so 110 zu Mi 4,6-8: "... the text is written so as to evoke in its readers the genre expectations usually associated with announcements of salvation ..."; vgl. 121). Hier zeigt sich wiederum die Pointe in Ben Zvis "Formgeschichte" des Micha-Buches: Der "Sitz im Leben" des Buches und seiner Textsorten ist die Literatur, ein Milieu also, dessen Wahrnehmungs- und Handlungskonventionen primär durch eine elaborierte Textproduktion und -rezeption bestimmt sind.

Zum Schluss noch zwei kurz angedeutete, kritische Anmerkungen zu dem nicht leicht, aber immer anregend zu lesenden Buch: 1. Der Rez. ist im Zweifel, ob die Gattungsvorstellung "Reading" für die prophetischen Redetexte hinreichend textgemäß und distinktiv ist. Auf Lesen und Wiederlesen sind auch Erzähltext und - wie neuerdings ja zu Recht betont wird - Psalmen angelegt. Die Genrevorstellung für die prophetischen Redetexte mit ihren auch von Ben Zvi notierten komplexen Sprecherverhältnissen sollte spezifischer sein, wobei der Rez. mit anderen in Richtung auf das dramatische Genre denkt. 2. Nach dem Eindruck des Rez. weist das Michabuch nicht nur eine gleichsam plane "Structure" (3ff), sondern einen inhaltlichen, erzählungshaften "Plot" auf, der einen buchinternen Zeit- und Geschichtsentwurf impliziert. Auf diesem Hintergrund müssten manche Readings nicht so dekontextualisiert verstanden werden, wie Ben Zvi dies immer wieder betont (vgl. etwa 122, 135).

Fussnoten:

1) Vgl. etwa M. H. Floyd, Minor Prophets Part 2, fotl XXII, Grand Rapids-Cambridge 2000 und das dortige Glossar mit ca. 60 Gattungsbegriffen (627-651).