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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

738–740

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Schindler, Alfred:]

Titel/Untertitel:

Oratio. Das Gebet in patristischer und reformatorischer Sicht. Festschrift zum 65. Geburtstag von Alfred Schindler. Hrsg. von E. Campi, L. Grane u. A. M. Ritter.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 260 S., 6 Abb. gr.8 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 76. Geb. DM 78,-. ISBN 3-525-55184-3.

Rezensent:

Martin H. Jung

Dem Gebet, "zentral für die Religionen, über den Konfessionen stehend, im Spannungsfeld zwischen individueller Aussage und kultischer Formel" (9), ist die Festschrift für den Zürcher Patristiker und Reformationsgeschichtler Alfred Schindler gewidmet, da diesem Aspekt des christlichen Lebens in seiner "reichen inner- und außerakademischen Wirksamkeit" eine "eminente Bedeutung" zukommt (9). Entsprechend den beiden Forschungsschwerpunkten des Jubilars sind die überwiegend deutsch-, aber auch englisch- und italienischsprachigen Aufsätze des Sammelbandes, zu dem Forscherinnen und Forscher aus der Schweiz, aus Deutschland, Dänemark, Holland, Italien, England und den USA beigetragen haben, in zwei Gruppen gegliedert: "I. Alte Kirche" (11-161), "II. Reformation" (163-247). Leider ist es im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, auf jeden der insgesamt 19 Aufsätze inhaltlich näher einzugehen.

Elena Cavalcanti eröffnet den Band mit einem Beitrag über Jesu Gethsemane-Gebet in Passionspredigten von Papst Leo I. (11-22). "Das Gebet der Philosophen" (Epikureer, Stoiker, Platoniker, Peripatetiker und - insbesondere - Neuplatoniker bis hin zu Boethius) wird anschließend von Albrecht Dihle behandelt (23-41). Hans Armin Gärtner stellt ein aus dem 4. Jh. - möglicherweise von Ausonius - stammendes originelles und kunstvolles "Gebet in Keulenversen" vor (43-51). "Das Gebet des Kaisers Theodosius in der Schlacht am Frigidus", überliefert in der "Kirchengeschichte" des Sokrates, wird von Thomas Gelzer in einem vergleichsweise langen Beitrag untersucht (53-72). Vittorino Grossi behandelt Augustins Interpretation von 1Tim 2,1-9 (73-86). Unter dem Titel "Argumente gegen und für das Gebet" zeichnet Winrich A. Löhr im Anschluss an Origenes, Clemens Alexandrinus und Porphyrios "Konturen einer antiken Debatte" (87-95) und stellt die "systematische Kraft" des Origenes heraus, für den "das Gebet das Zentrum des Dialogs zwischen der freien Menschenseele und dem Gott [ist], der dem Menschen nur im Raum der Freiheit begegnet" (95). Christof Müller wendet sich unter dem Motto "Beten als Befreiung" der "Augustinische[n] Pastoraltheologie im Problemfeld von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit" zu (97-110) und zeigt, dass für Augustin das Gebet der "bevorzugte Ort und Akt der wahrhaft befreienden Übung und Einübung [des] In-Gott-zur-Ruhe-Kommens" war (110). In ihrem mit Bildern ausgestatteten Beitrag "Die Tugend des Gebetes" untersucht Claudia Nauerth christliche "Personifikationen im spätantiken Ägypten" (111-118). Mit einer aktualisierenden Perspektive erörtert Willy Rordorf "die Auslegung der 5. Vater-Unser-Bitte durch Augustin" (119-127). Reinhart Staats untersucht den "judenchristlichen Hintergrund der Gebetslehre des Makarios-Symeon" (129-137) und wirft einen kritischen Blick auf die kirchliche Gegenwart, wenn er bemerkt, dass "der Kontext von Liebe und Gebet ... in der neueren Diskussion gar nicht beachtet" wird (136). "Der Taufglaube im Gottesdienst der Alten Kirche" ist das Thema eines Beitrags von Basil Studer (139-149), in dem an der Trinitätslehre gezeigt wird, "wie sehr der Vollzug der Liturgie die kirchliche Orthodoxie regulierte und wie umgekehrt der consensus fidelium im Gottesdienst der ersten Jahrhunderte zum Ausdruck kam" (139). Einen Überblick über die kontroverse Auslegung der 4. Vaterunser-Bitte von den Kirchenvätern (Origenes, Tertullian, Cyprian, Ambrosius, Hieronymus, Augustin, Cyrill von Jerusalem, Chrysostomus u. a.) bis zu den Reformatoren (Calvin, Bucer, Bullinger) gibt zuletzt David F. Wright (151-161).

Mit nur sieben Beiträgen ist der 2., der Reformation gewidmete Hauptteil wesentlich kürzer als der erste.

Irena Backus wendet sich unter der Frage nach der Wirksamkeit und Berechtigung der Heiligenanrufung der Auslegung von Apk 5,7-11, 6,9, 8,3f., 14,4, 19,7-9 und 22,8 f. bei Johann Eck, Jodocus Clichtoveus und Thomas Netter, einem Karmelitermönch des 15. Jh.s und Oxforder Universitätslehrer (Doctor praestantissimus), zu und stellt diesen Auslegungen als Beispiel für die protestantische Position die Auslegung Leo Juds gegenüber (163-174). Fritz Büsser behandelt "Bullingers Festtagspredigten" von 1558 (175-183) und Christoph Burger "Luthers Gebetsvorschlag für Herzog Johann Friedrich von Sachsen" von 1520 (185-196). Die postum von einem Schüler veröffentlichte Sammlung "Preces sacrae" (1564) von Pietro Martire Vermigli wird von Emidio Campi vorgestellt (197-210). In einem interessanten vergleichenden Aufsatz untersucht Rudolf Dellsperger die Behandlung der "Brotbitte" des Vaterunsers "bei Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Wolfgang Musculus und Petrus Canisius SJ" (211-226). Dellsperger arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Auslegung heraus und stellt die Frage, ob Musculus und Canisius das Herrengebet hätten gemeinsam sprechen können. Aus Äußerungen beider geht eindeutig hervor, dass sie es nicht hätten tun können, aber nicht wegen ihrer unterschiedlichen Auslegungen, sondern wegen des Getrenntseins der Kirchen. Abschließend macht Dellsperger mit einer Glasscheibe im mittleren Chorfenster der Kirche Einigen am Thunersee bekannt, die in der 2. Hälfte des 16. Jh.s (vielleicht von dem Berner Glasmaler Mathis Waltter) geschaffen wurde und das Vaterunser illustriert. Es handelt sich "um eine Nachbildung der Metallschnitte, mit denen Hans Holbein der Jüngere die Precatio dominica des Erasmus illustriert hat" (223). In der "Tatsache, daß im konfessionellen Zeitalter ein humanistisch-katholisches Bildprogramm von einem reformierten Künstler mit einigen wenigen Retuschen übernommen werden konnte", sieht Delllsperger - zu Recht - "ein in die Zukunft weisendes Zeichen der Kontinuität" (224). Den "Kollekten im dänischen Reformationsgottesdienst", die überwiegend auf Veit Dietrich zurückgehen, wendet sich Leif Grane zu (227-237), und zuletzt thematisiert Elsie Anne McKee die Vaterunser-Auslegung der Straßburger Reformatorenfrau und Laientheologin Katharina Schütz (239-247), wobei sie auch auf die aus feministisch-theologischer Perspektive interessante, von Schütz verwendete "maternal language for Christ" (246) eingeht.

Die Festschrift enthält Studien, die die Geschichte des Gebets und des Betens im Christentum und seinem Umfeld wesentlich erhellen und insbesondere Beiträge zur erst wenig untersuchten Frömmigkeitsgeschichte der Reformationszeit leisten. Die Aufsätze zeigen, dass das Gebet wie nur wenige Formelemente der christlichen Religiosität die Christenheit konstant durch die Jahrtausende begleitet und in fast allen Spielarten des Christentums eine Rolle gespielt hat. Das Gebet ist deshalb ein Ansatz- und Ausgangspunkt, um die Einheit der Kirche zu denken und ihr möglicherweise sogar den Weg zu bereiten. Untersuchungen über die Gebete und das Beten der Christenheit in vergangenen Zeiten liefern wichtige Grundlagen zur Erhellung der Geschichte der christlichen Frömmigkeit und, da das Beten meist von einer reflektierenden Gebetstheologie begleitet war, ebenso zur Erhellung der wechselseitigen Abhängigkeiten von Theologie und Frömmigkeit. Wenn man bedenkt, dass ein reformatorischer Theologe wie Melanchthon im Gebet einerseits den Zielpunkt der Gotteslehre und andererseits im Gebet als dem ersten "guten Werk" im Rahmen des "neuen Gehorsams" der propter Christum Gerechtfertigten zugleich den Basispunkt der Ethik sehen konnte, überrascht es, dass dem Thema Gebet in der praktischen und systematischen Theologie der Gegenwart und in der theologischen Ethik nur wenig Beachtung geschenkt wird. Aus der Sicht einer auch der Frömmigkeitsgeschichte verpflichteten Kirchengeschichte ist eine umfassende Darstellung der Geschichte des christlichen Betens, die anders als Renato Boccassinos Sammelwerk "La preghiera" (3 Bde., Mailand 1967) auch den Protestantismus in der gebotenen Ausführlichkeit einbezieht, ein Desiderat. Die Festschrift für Alfred Schindler könnte mit ihren vielen Mosaiksteinen aus der Geschichte des christlichen Betens einen Anstoß dazu geben, diese große Synthese zu wagen. Der redaktionell und verlegerisch vorbildlich gestaltete Band ist mit einem Orts- und Personenregister ausgestattet und enthält ein Mitarbeiterverzeichnis.

Neben dem Sammelband "Oratio" ist übrigens noch eine Festschrift anlässlich des 65. Geburtstags von Alfred Schindler erschienen. Sie wurde von drei Züricher Mitarbeitern der Bullinger-Edition verfasst: Hans Ulrich Bächtold, Rainer Henrich, Kurt Jakob Rüetschi. Auch sie handelt "Vom Beten", aber auch "vom Verketzern und vom Predigen" und bietet originelle "Beiträge zum Zeitalter Heinrich Bullingers und Rudolf Gwalthers", darunter eine wichtige, Neues bietende Arbeit über Melanchthon (Zug: achius 1999. 120 S. gr.8 = Studien und Texte zur Bullingerzeit, 1. Kart. DM 25,-. ISBN 3-905351-00-5).