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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

687 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zöller, Christa

Titel/Untertitel:

Rockmusik als jugendliche Weltanschauung und Mythologie.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. IV, 220 S. gr.8 = Religion und Biographie, 2. Kart. DM 39,80. ISBN 3-8258-4517-6.

Rezensent:

Gerd Buschmann

Religiöse Aspekte der Popmusik erfahren seit fast 10 Jahren intensive praktisch-theologische Aufmerksamkeit (vgl. dazu die Sammelrezension von Gerd Buschmann in ThLZ 124, 1999, 224-228), besonders in kulturtheologischer (B. Schwarze), pneumatologischer (H. Treml) und ritualtheoretischer Perspektive (jüngst: G. Fermor). Nun setzt sich eine Religionspädagogin in ihrer Dortmunder kath.-theol. Dissertation (bei Prof. Dr. D. Dormeyer und Prof. Dr. L. Hauser) mit Rockmusik als jugendlicher Weltanschauung und Mythologie auseinander - und betritt damit Neuland, obwohl die Religionspädagogik schon seit längerem popmusikalisches Material unterrichtspraktisch aufbereitet (vgl. jüngst: Uwe Böhm & Gerd Buschmann, Popmusik - Religion - Unterricht. Modelle und Materialien zur Didaktik von Popularkultur, = Symbol - Mythos - Medien, 5, Münster 2000).

Die Vfn. beschreibt im 1. Teil (18-75) zunächst die Neue Religiosität Jugendlicher, indem sie die Begriffe Jugend und Jugendkulturen (18-36) definiert, Gesellschaft und Jugend im Wandel besonders im Hinblick auf Religion beschreibt (unter Beachtung der Studien von H. Barz und A. Feige, 36-62) und besonders Okkultismus und Esoterik (62-75) mit einbezieht. Der 2. Teil (76-119) begreift Musik als ästhetischen Heilsweg: Musik wird als Erlösermythos definiert (76-83), zu dem besonders die Musik des 19. Jh.s (91-119) und die Mythostheorie R. Wagners beigetragen haben. - Der 3. Teil (120-211) deutet die Rockmusikkultur als neomythische Religiosität, indem zunächst die Geschichte der Rockmusik als moderner Mythos dargestellt wird (120-138), musikalische Mythen in Jugendkulturen (138-180) in Flower Power, Satanismus und Techno ausgemacht werden, um schließlich die Suche nach Selbst und Sinn in rockmusikalischen Neomythen (180-188) zu verifizieren, bevor eine exemplarische Erprobung der Theorie am Beispiel (188-203) erfolgt sowie Abschluss und Ausblick (203-211) und ein Literaturverzeichnis (212-220) den Band beenden.

Was sich im 1. Teil findet, ist nicht neu: Der Begriff Jugend wird im Kontext der Identitätsfindung (psychoanalytisch: Erik H. Erikson, soziologisch: Dieter Baacke) definiert und der Begriff Jugendkultur im Kontext von Subkultur und peer-group. Dann wird Jugend im Wandel im Zusammenhang des bekannten gesellschaftlichen Modernisierungs-, Individualisierungs- und Werte-Wandels beschrieben (Ulrich Beck, Wilfried Ferchhoff, Werner Fuchs, Helmut Klages u. a.); auch die Jugendkulturen pluralisieren sich. Das zeigt sich gemäß den bekannten Studien (H. Barz/A. Feige) auch in den religiösen Orientierungen Jugendlicher. Schließlich wird das neoreligiöse Erleben Jugendlicher an den Beispielen Okkultismus und Esoterik erläutert.

Der 2. Teil fragt spezifischer: Warum wird im Kontext nach Autonomie und Emanzipation strebender Jugendkultur auf der Suche nach eigener Identität gerade (Rock-)Musik zum bedeutsamen Mythos? (75)

Nachdem die Vfn. die Begriffe Religion und Religiosität sowie Mythos (geschichtlich geprägtes Symbolsystem mit präsentativem Charakter) und Neo-Mythos (Isolation und Neuverknüpfung einzelner Symbole aus unterschiedlichen Systemen) definiert hat (in Anlehnung an Hermann Schrödter), gelangt sie hier zu einer ebenso eigenständigen wie erstaunlichen These: Gerade die Mythostheorie Richard Wagners und dessen Verständnis von Musik als ästhetischem Heilsweg habe die neomythisch aufgeladene Bedeutung heutiger Rockmusik für jugendliche Identitätsfindung vorgezeichnet. - Wird hier Rockmusik nicht sehr eurozentrisch und von der klassischen Musik her gedeutet?

Über diese zentrale kritische Anfrage kann auch nicht hinwegtäuschen der kurze und nicht neue Abriss der Rockmusik zu Beginn des 3. Teils, in dem doch erkennbar wird, daß wesentliche stilprägende Elemente aus der Tradition der Schwarzen in den USA die Ästhetik der Rockmusik bestimmen (15) und die Bedeutung von Ekstase (vgl. auch die Arbeit von G. Fermor) hervorgehoben wird. Endlich entfaltet die Vfn. die Inhalte musikalischer Neo-Mythen in Jugendkulturen an drei Beispielen: San Francisco Sound und Flower Power (Hippie-Dasein als quasi-religiöser Protest-Weg innerweltlichen Heils), Heavy Metal und Satanismus (Die religiöse Bindung an den Satanismus hat die Bedeutung von Protest und Solidarität zur Kompensation von Zukunftsängsten, 159) sowie zeitgenössisch Techno und Raves (Symbiose mit der Technik als innerweltlicher Erlösungsweg in eine neue Zukunft, 168).

Hier wird mir zu ungebrochen Techno unter Rockmusik und Jugendkultur stets unter Subkultur subsumiert, obwohl die Vfn. die Differenzen zwischen Techno und Rockmusik deutlich benennt und exemplarisch den Techno-Videoclip God is a DJ" (1998) der Gruppe Faithless" analysiert (vgl. dazu: Gerd Buschmann, God is a DJ. Techno-Religiosität der Postmoderne, in: Medien praktisch 24, 2000, 53-58). Erfreulich ist jedenfalls, dass die zeitgenössische Techno-Kultur hier erstmals ausführlich mitbearbeitet wird.

Als Grundthese der Dissertation ergibt sich: Die Ekstasen der Rockmusik sind als religiöse Momente zu verstehen (184), in denen der Wille erkennbar wird, die eigene Endlichkeit aufzuheben (186); ,Religiosität' ist der Ausdruck des fundamentalen Interesses an der Aufhebung von Endlichkeit. (77) Weltanschauliche Elemente in der Rockmusikkultur haben im Kontext von Jugendkulturen neomythischen Charakter und sind Erscheinungsformen jugendlicher Identitätsfindung (203). Rockmusik schafft im Umfeld von jugendkulturellen Bedingungen immer auch einen religiösen Neomythos (164 u. ö.). Rockmusik ... muß als moderne Fortsetzung und Realisierung der im 19. Jahrhundert entworfenen Idee des Gesamtkunstwerks verstanden werden (208).

Das Buch enthält leider zahlreiche Druckfehler, wichtige Beiträge vor allem von B. Schwarze, G. Fermor, R. Siedler oder U. Feist fehlen (im Lit.-Verz.) ebenso wie jedes Register. Gleichwohl wirft die Studie ein weiteres erhellendes Licht auf die quasi-religiösen Implikationen der Rockmusik, indem sie sie zu Recht in den Kontext von Jugendkultur, Ich-Konstruktion, Weltanschauung und Neo-Mythos-Theorien stellt und nicht scheut, auch die aktuelle Techno-(Rock-)Musik in diesen Deutungs-Rahmen aufzunehmen. Sicher ist: Rock ist mehr als Musik (D. Baacke, 181) - aber ist Rock damit schon religiös oder gar Religion?