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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

682–684

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wagner-Rau, Ulrike

Titel/Untertitel:

Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft.

Verlag:

Stuttgart; Berlin; Köln: Kohlhammer 2000. 240 S. = Prakt.Theol.heute, 50

Rezensent:

Eberhard Winkler

Segensraum versteht die Vfn. im pastoralpsychologischen Sinn: Zwischen der Zuwendung Gottes und der im Glauben realisierten Wahrnehmung der Zuwendung entsteht der Segensraum (11). Die Kasualpraxis bildet einen solchen Segensraum, den die Vfn. unter dem Aspekt der Verbindungen zwischen den Kasualien und den Lebensgeschichten beleuchtet. Dabei gilt ihr besonderes Interesse den Modernisierungsschüben mit ihren Auswirkungen auf die Biografieverläufe und den Konsequenzen für Theorie und Praxis der Kasualien.

Nach einem Einführungskapitel wird deshalb der Wandel der Biografieverläufe beschrieben, besonders der Strukturwandel der Familie und das veränderte Eheverständnis, an denen exemplarisch deutlich wird, dass die Kasualpraxis mit einer Vielzahl von Lebensformen zu rechnen hat, die auch im Verlauf der Biografien variieren. Daraus ergeben sich eine Reihe von Problemanzeigen.

Im folgenden 3. Kap. wird der soziologische, psychoanalytische und ritualtheoretische Hintergrund der Kasualtheorie besprochen, wobei besonders die Soziologen U. Beck und A. Giddens, der Psychoanalytiker D. W. Winnicott, der Ethnologe V.Turner und der Regisseur P. Brook als Gewährsleute gelten. Während die soziologischen und psychoanalytischen Perspektiven auf das Thema Identität zielen, dienen ethnologische und theaterwissenschaftliche Erkenntnisse dem Verstehen des Rituals. Die Kasualpraxis gewährt einen Raum für das zur reflexiven Herstellung von Identität notwendige immer neue Erzählen von Lebensgeschichten, sie bietet zugleich dafür rituelle Formen. Im Anschluß an M. Meyer-Blanck werden Kasualgottesdienste Inszenierungen des Evangeliums im Hinblick auf spezifische lebensgeschichtliche Situationen (121) genannt. Zu erwarten wäre unter dem Thema Identität in Bezug auf die Kasualtheorie eine Überlegung, was die Identität eines Christenmenschen inhaltlich bedeutet.

Im 4. Kap. werden aus der Metapher vom Segensraum theologische Perspektiven der Kasualtheorie abgeleitet. Dieser Raum bietet die Möglichkeit, die Lebensgeschichte einschließlich ihrer Schattenseiten zu erzählen, grundlegende Akzeptanz zu erfahren, Kreativität zu entfalten, einem Anderen zu begegnen (wofür Texthermeneutik und Semiotik bedeutsam sind) und liturgische Gemeinschaft zu erleben. Für den Gebrauch biblischer Texte gibt die Vfn. praktische Anregungen. Das biblische Wort bildet ein Gegenüber, das sich von der subjektiven Perspektive unterscheidet und deshalb zur Lebensgeschichte des Individuums mehr und anderes zu sagen hat, als dieses sich selbst sagen kann. Im Raum der liturgischen Gemeinschaft geht die jeweilige biografische Situation in den liturgischen Rahmen ein, der zwar situationsbezogen variierbar, zugleich aber offener und umfassender als die individuelle Situation ist und diese transzendieren kann. Kern der Handlung ist der Segensakt als performativer Sprechakt, in dem die Gesegneten in ein dreipoliges Beziehungsgeschehen zwischen Segen zusprechender und empfangender Person sowie Gott als primärem Segensspender einbezogen werden. Mit ihrem Segensverständnis, das die Zusammengehörigkeit von Heil und Wohl ebenso betont wie die Schattenseiten des Lebens integriert, gibt die Vfn. hilfreiche Hinweise für die Praxis.

Weitere Anstöße für die Praxis folgen im 5. Kap. Zuerst plädiert die Vfn. dafür, die Kasualpraxis nicht mit Strategien des Gemeindeaufbaus zu verbinden, um Interessenkonflikte zu vermeiden.

Die Kasualgemeinde sei ein bleibend wichtiges Gegenüber für die Gruppen engagierter Kirchenmitglieder (177). Die Kirchenmitglieder, die den Kontakt vor allem punktuell bei Kasualien suchen, sind mit der Bezeichnung Distanzierte zu undifferenziert eingeordnet. Manche Musikwünsche zeigen beispielhaft, wie unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, um deren Vermittlung jeweils neu zu ringen ist (180).

Die mit Recht der Kasualpraxis zugeschriebene große Bedeutung fordert bei den Pastoren und Pastorinnen spezifische Fähigkeiten und Entlastung von anderen Aufgaben, umso mehr, wenn die Kasualpraxis erweitert und die Gesprächskomponente verstärkt werden soll. Biografische Anlässe sind durch zyklische (Kirchenjahr) zu ergänzen, die parochiale Verortung durch die überregionale. Eine inhaltliche Erweiterung ist auch bei herkömmlichen Kasualien zu bedenken, wie am Beispiel der Trauung gezeigt wird, die weithin nicht mehr den Beginn der Ehe markiert und bei der oft unrealistische Ideale die Sprache prägen. Ein Exkurs widmet sich der Debatte um die Bewertung unterschiedlicher Partnerschaftsformen.

Die Ausweitung der Kasualpraxis soll sich auf Gruppen konzentrieren, die sich um Themen von Lebensgeschichte und Religion/Glauben konstituieren (209). Gedacht ist an offene oder gruppenspezifische Einladungen zum Gespräch über biografisch wichtige Themen. In solchem Rahmen sieht die Vfn. eine Möglichkeit, Scheidungen (evt. auch rituell) zu begleiten. Ferner sind Gruppen mit oft losem Kontakt zur Gemeinde wie Kindergarteneltern im Blick. Lebensgeschichtliche Themen können auch Sonntagsgottesdiensten kasuellen Charakter geben, wie es schon für den Totensonntag zutrifft. Damit wird unterstrichen, was die Vfn. abschließend betont: In der Kasualpraxis einen Schwerpunkt zu setzen, bedeutet keine Abwertung des regelmäßigen Gottesdienstes.

Das Buch ist gut lesbar und wird viel Zustimmung finden, weil es sachlich argumentierend der communis opinio in der gegenwärtigen deutschen Praktischen Theologie entspricht. Eine Habilitationsschrift, die sich souverän auf dem Stand der Forschung bewegt, dabei aber im Umfang maßvoll und in der Form klar bleibt, ist dankbar zu begrüßen. Im Interesse der von der Vfn. engagiert vertretenen Sache seien auf das Wesentliche beschränkte Einwände erlaubt. Die Taufe wird zwar als die grundlegende Kasualie gesehen, aber ich erkenne nicht, daß entsprechende Konsequenzen für das Verständnis der Kasualien gezogen würden. Sonst bliebe mir unverständlich, daß die Vfn. eine Verbindung von Kasualpraxis und Gemeindeaufbau ablehnt. Nach evangelischem Verständnis gehören Taufe und Glaube zusammen. Wie drückt sich das in der Taufpraxis aus, wenn ein Gegenüber von Kasual- und Kerngemeinde nur als Tatsache hingenommen, nicht aber als Impuls zum Gemeindeaufbau angenommen wird? Übrigens bedarf dieses Gegenüber der Differenzierung, denn auch die sog. Kerngemeinde ist Kasualgemeinde. Die Vfn. erwähnt, daß mit einer Rückläufigkeit der Kasualien zu rechnen ist, aber die drastischen Einbrüche in den ostdeutschen Landeskirchen bleiben außer Betracht. Gravierender erscheint mir, daß zwar oft die Bedeutung biblischer Texte für die Kasualien erwähnt, für die Kasualtheorie aber gar nicht in Betracht gezogen wird. Das einseitig biografieorientierte Verständnis der Kasualien wird nicht biblisch begründet, was wohl auch nicht möglich ist. Hier zeigt sich ein Fundamentalproblem der gegenwärtigen deutschen Praktischen Theologie. Ein letztes Desiderat: Die ökumenische Perspektive sollte nicht völlig fehlen.