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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

680–682

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Steck, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. Horizonte der Religion - Konturen des neuzeitlichen Christentums - Strukturen der religiösen Lebenswelt, Bd. 1.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 686 S. gr.8 = Theologische Wissenschaft, 15/1. Kart. DM 58,-.ISBN 3-17-016106-7.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die Ausdifferenzierung der Praktischen Theologie (PT) wird schon am Umfang dieses monumentalen Lebenswerkes von Wolfgang Steck deutlich: Konnte Johannes Meyer in seiner Praktischen Theologie von 1925 den gesamten Stoff auf 156 Seiten zusammenraffen, wobei er dennoch vor allem dem Kundigen viel zu sagen hatte (wie dann 1965 Martin Doerne bemerkte), so kann sich das vorliegende Buch im Umfang nur mit dem monumentalen dreibändigen Werk von Achelis messen. Vergleicht man den Satzspiegel mit den schrecklich langen mühsam zu lesenden Zeilen in diesem Buch, dann hat St. schon im 1. Band weitaus mehr Text geboten als die Hälfte der ca. 1500 Seiten bei Achelis. Ein Referat ist also unmöglich und ich beschränke mich auf eine theoretische Einordnung und wenige erläuternde Einzelheiten.

Wie der Titel anzeigt, handelt es sich um eine PT als Christentums- und Religionstheorie, die sich am besten im Gegenüber zu dem Entwurf von Dietrich Rössler einordnen lässt. Anders als bei Rössler ist die Beschreibung einer dreifachen Gestalt des gegenwärtigen Christentums aber nicht lediglich Raster für die Beschreibung der klassischen Arbeitsfelder der PT, sondern ein Wahrnehmungskonstrukt, das immer wieder als Ganzes, gleichermaßen wie ein Netz oder Raster auf die christliche und religiöse Wirklichkeit gelegt wird. Das macht den theoretischen Anspruch aus, stellt den Leser aber vor nicht geringe Schwierigkeiten. Weil stets alles präsent sein soll, verliert man bisweilen die Orientierung, wie sie bei der Gliederung nach Handlungsfeldern von selbst gegeben ist.

Dies zeigt sich an der Gliederung: Anders als Rösslers PT bietet St. die Trias Privates Christentum - Öffentliches Christentum - Urbanes Christentum (Hauptkapitel 2.0.0.-2.4.0.). Das kirchliche Christentum erscheint dabei - jedenfalls als Grundgestalt (86) und als Überschrift - nicht in der Haupttriade des Systems, sondern in der zweiten Nebentriade Strukturen der neuzeitlichen Lebenswelt (Kapitel 3.0.0.-3.4.0.; vgl. die hochsystematisierte Gliederung, 5). Den drei Formen des neuzeitlichen Christentums laut St. ist dann weiterhin eine erste Triade über die Religion (Kapitel 1.0.0.-1.4.0.) vorgelagert und eine dritte Triade nachgestellt. Die drei Triaden wiederum gliedern sich in je drei Paragraphen, so dass man auf 27 Hauptgliederungspunkte (plus 9 weitere, in summa: 36) kommt. Wer diese Gliederung (5) memorieren will, dürfte einige Zeit zu tun haben: Es handelt sich ohne Zweifel um die systemischste PT aller Zeiten, die Achelis, v. Zezschwitz und Steinbeck weit hinter sich lässt (wobei die letzteren ihre Bücher explizit System der PT nannten). Das Artifizielle der Gliederung ergibt sich daraus, dass Band 1 erst bis zum 17. Gliederungspunkt vorgedrungen ist - wovon alleine einer, der Paragraph 2.1.2. Privates Christentum mehr als die Hälfte des vorliegenden Bandes umfasst (242-602).

Das private, individuelle Christentum ist denn auch der Fokus des gesamten Buches. Die bürgerliche Privatreligion, wie sie sich in der Neuzeit herausbildete, ist das Proprium des Protestantismus und damit der Fokus dieser PT. Ist diese These nicht neu, so erlaubt sie St. doch einige ungewohnte Einblicke und Durchblicke: sowohl das private als auch das öffentliche Christentum grenzen sich auf je verschiedene Weise kritisch von der kirchlich organisierten Religion ab und verbünden sich hinter dem Rücken der Kirche miteinander (284). Auch die politischen Liturgien erscheinen so bei St. unter der Überschrift Privatisierung des Gottesdienstes (336-362) in dem zentralen Kapitel 2.1.2 über das private Christentum. Insgesamt wird so die Unterscheidung von privater und öffentlicher Lebenssphäre zum basalen Grundmuster einer dual strukturierten Theoriearchitektur erhoben (85). Neben allem Komplizierten in der Gliederung und Darstellung liegt an diesen beiden Punkten der Kern des Systems von St.: 1. in der zweifachen, öffentlichen und privaten Beschreibung der Lebenswelt und 2. im zentralen Erklärungsmuster des privaten Christentums.

Sympathisch ist insgesamt, dass St. nicht den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie ist (98), sondern seine Analysen als theoretische und damit hypothetische Konstruktionen angesehen wissen will (204).

Entsprechend seien denn auch einige wenige Anfragen genannt: Umschreibt die Schlüsselkategorie des privaten Christentums tatsächlich so viele der Phänomene der Wirklichkeit, wie St. meint? Daran habe ich etwa bei der beschriebenen selbstreflexiven und häuslichen Frömmigkeit gedacht (vgl. etwa 245, 247, 378, 397), als ich diese mit eigener Pfarramtserfahrung verglich. Inwieweit die private Religionsform bei St. als wahrnehmungsleitende Theorieperspektive oder als Empirie gemeint ist, wird so nicht immer deutlich, wobei generell die empirische Perspektive eher zurücktritt (vgl. etwa 257 die Aussagen zum Wandel der Familie). Das breit rezipierte Individualisierungstheorem von U. Beck erscheint bei St. nahezu ohne die damit verbundene Standardisierung, woraus bei St. eine Tendenz zur euphorischen Sicht von Privatisierung und Individualisierung resultiert.

Der phänomenologische Duktus schließlich lässt den Leser nach aller Beschreibung von Wirklichkeit und Positionen aus der Literatur oftmals darüber im Unklaren, welche Handlungsperspektiven St. denn präferieren würde. Sicher liegt das im Konzept der topographischen Methode. Für das Gespräch mit an christlicher Praxis interessierten Lesenden ist das aber wenig förderlich. Bisweilen enden Abschnitte abrupt nach einem Literaturreferat und vermitteln so den Eindruck von collected papers" (etwa 374; 514; 546). Dass St. zwar ein großes Kapitel über Die Bibel als Medium religiöser Selbstvergewisserung (437-514) schreibt, aber für die Entwicklung der eigenen Kategorien programmatisch nur selten auf die antiken Ursprünge der christlichen Religionsgeschichte (44, sc.:die Bibel) zurückgreift und dieses Prinzip auch konsequent durchführt, dürfte für die Verständigung der PT mit den biblischen Disziplinen einige Probleme aufwerfen

Zum Formalen: Bei einem Buch diese Umfanges ist es erstaunlich, wie gut es lektoriert ist. Es finden sich fast keine Satzfehler. Die Register sind umfangreich (wenn auch leider durch die Dreiteilung in Kategorien, Phänomene und Disziplinen etwas sperrig). Ein Namenregister fehlt. Gerade wegen der höchst individuellen Zitationsform des Vf.s wäre ein Namenregister allerdings noch notwendiger gewesen als bei anderen Werken.

Da wohl nur eine geringe Zahl von Lesenden die Zeit findet, das gesamte Werk zu lesen, wäre es wünschenswert, wenn der Autor seine beiden konzeptionellen Grundentscheidungen und wichtigsten Einsichten noch einmal an anderer Stelle zusammenfassend böte, damit diese in der Ausbildung und in der Fachdiskussion die gebührende Beachtung finden.