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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

677–680

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reuter, Ingo

Titel/Untertitel:

Predigt verstehen. Grundlagen einer homiletischen Hermeneutik.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 2000. 241 S. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 17. Geb. DM 68,-. ISBN 3-374-01816-5.

Rezensent:

Thomas Klie

Der besondere Reiz formal-homiletischer Untersuchungen liegt in ihrer Abbildbarkeit auf kirchliche Praxis. In einer solchen Perspektive verschränken sich normative und deskriptive Aspekte. Sie können darum sowohl als eine besonders reflektierte Form der Anleitungsliteratur gelesen werden, als auch als ein empirisch motivierter Metadiskurs. Ingo Reuters homiletische Verstehenslehre lässt beide Lesarten zu. Der Vf. untersucht das homiletische Feld derjenigen neueren Konzepte, in denen das Verstehen als ein re-konstruktiver Prozess beschrieben wird. Re-Konstruktion meint einen Interpretationsvorgang, der durch die Subjektivität des Individuums und seiner Verstehensvoraussetzungen und -tätigkeit geprägt ist, dabei aber bezogen ist auf die Vorgabe des zu Verstehenden, durch die Beliebigkeit von Pluralität des Verstehens unterscheidbar bleibt (12). Der Vf. will also das Verstehen in der Predigt zu verstehen geben - und dies unter den Bedingungen fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierungen. Ihre hermeneutische Formatierung erhält diese Analyse dadurch, dass sie für die Homiletik einen doppelten Verstehensprozess zu Grunde legt: eine Hermeneutik des Textes und eine Hermeneutik der Situation bzw. des Hörers. Da beides eminent geschichtliche Größen sind, stellt sich auch die Frage nach ihrem kulturhistorischen Ort. Diesen bestimmt Reuter mit Lyotard als Postmoderne.

Die Arbeit gliedert sich in vier große thematische Blöcke. Im 1. Teil (Kap. I u. II) geht es um die allgemeine Veränderung der Wissensorganisation und die Binarisierung des Verstehens in der postmodernen Gesellschaft. Im 2. Teil (Kap. III) werden verschiedene homiletische Entwürfe des 20. Jh. unter dem Verstehensaspekt dargestellt. Der Vf. setzt ein mit Klassikern wie Barth, Bultmann und Bohren, fährt fort mit Lange, Otto, Rothermund und schließt mit den semiotisch orientierten Homiletiken von H. Luther, Theißen und Engemann - Reuters akademischem Lehrer. Im umfangreichen 3. Teil (Kap. IV) geht es um die Fundierung eines theologischen Verstehensbegriffs anhand der Lyotardschen Kategorien Widerstreit, Ereignis und Erhabenes. Der relativ kurze synthetische 4. Abschnitt (Kap. V) ist den homiletischen Konsequenzen gewidmet. Er bildet den Abschluss dieser homiletischen Hermeneutik im Rückblick (14).

Die Frage nach dem Verstehensproblem in der Predigt anhand der jüngsten Geschichte der Disziplin zu verfolgen, macht insofern Sinn, als sie nicht unabhängig von der jeweiligen Theorieumgebung beantwortbar ist. Die knapp gehaltenen Skizzen dringen jedoch nicht immer zur Prägnanz des jeweiligen Ansatzes vor. Es geht dem Vf. hier eher um die großen Linien als um detaillierte Durchdringung. So bleiben z. B. die für das interaktive Predigtverstehen bei H. Luther unabdingbaren spiel- und subjekttheoretischen Implikationen unerwähnt.

Auch G. M. Martins szenischer Verstehensbegriff, der seine Konturen nur vor dem Hintergrund einer literaturästhetischen und bibliodramatischen Orientierung erhält, fällt in der Rekonstruktion vergleichsweise schwammig aus. Und ob bei Theißens exegetischer Homiletik das Primat der Traditionsgeschichte völlig ausgeblendet werden kann, erscheint - selbst wenn die Rekonstruktion seines Konzepts unter dem Aspekt der Verstehensproblematik geschieht - mehr als fraglich. Wichtig ist jedoch das vorläufige Endergebnis dieser diachronen Analyse. So zeichnet sich für den Vf. eine Entwicklung des Verstehensbegriffs ab als einem vom Verstehenden selbst konstruktiv und selektiv durchgeführten Akt, als Entwurf einer eigenen Lesart (116), zu dessen theologischen Voraussetzungen jedoch die Unverfügbarkeit des Offenbarungsgeschehens gehört.

Dem erkenntnisleitenden Interesse, diesen implizit sich durchsetzenden Verstehensbegriff systematisch präziser zu erfassen, ist der folgende Abschnitt gewidmet. Hier soll ein theologisch anschlussfähiger Verstehensbegriff unter Rekurs auf postmoderne Denkfiguren grundgelegt werden. Das Wechselverhältnis zwischen dem pluralen Verstehen der Menschen und dem pluralen Wirken des göttlichen Geistes kann und soll plausibilisiert werden durch strukturanaloge Kategorien aus dem philosophischen System Lyotards. Es sollen dabei Gelingensbedingungen für die Geistwirkungen untersucht und Vorschläge entworfen werden, wie eine homiletische Gestaltung des Wirkraumes in Richtung auf eine dem Wirken des Geistes förderliche Atmosphäre zu erreichen sei (120). Diese Intention ist von der Vorstellung geleitet, induktiv aufweisbare Strukturen des Geistwirkens mit den Möglichkeiten menschlichen Erkennens zu korrelieren, wie sie von einer postmodernen Erkenntnistheorie behauptet werden.

Gemäß dieser Vorgabe appliziert der Vf. die Lyotardschen Kategorien auf die Homiletik. Der unauflösliche Widerstreit (132 ff.), der sich zwischen den gesellschaftlichen Teildiskursen nach dem Tod der großen Erzählungen öffentlich darstellt, spiegelt sich in einer Predigtpraxis, die davon absieht, lediglich eine Perspektive als verbindliche Auslegung zu wollen. Das agonale Element des Sprachspiels Predigt bedingt ein unterschiedliches Verstehen des einen Textes, ohne dass diese Perspektiven untereinander konsensfähig sein müssten. (Lyotard bietet bekanntlich mit dem Akzent auf dem Agonalen eine nietzscheanische Lesart Wittgensteins.) Das plurale Predigtverstehen geht auf ein konstruktives Wirken des Geistes zurück (157); der Geist wirkt dadurch, dass er die unterschiedlichen Perspektiven und Auffassungen in ein konstruktives Spannungsverhältnis bringt. Der Hl. Geist lässt die Gemeinde sich als offene Interpretationsgemeinschaft (165) erfahren. Hier bleibt allerdings zu fragen, ob man mit Lyotard die Pluralität und Heterogenität der Diskurse so ohne weiteres pneumatologisch absolut setzen darf.

Mit dem Ereignischarakter des Erkennens (175 ff.) kommen die transsubjektiven Bedingungen homiletischer Kommunikation in den Blick. In Lyotards Denken ist dies vor allem durch den Topos des Anderen markiert. Ursache eines existentiellen Evidenzerlebnisses (Glaubensgeschehen) ist die geistgewirkte und ereignishafte Verwandlung des verbum externum ins verbum internum, auf Grund dessen sich eine Klärung der Hörersituation einstellt. Die Struktur-Analogie zwischen Lyotards Philosophie und Theologie besteht darin, den Menschen nicht aus sich selbst heraus zu begründen und auf ein Anderes bzw. einen Anderen hinzuweisen (181 f.). Dankenswerterweise verschweigt der Vf. an dieser Stelle weder die bleibenden Differenzen zwischen postmoderner Philosophie und christlicher Homiletik noch die mangelnde Trennschärfe der Lyotardschen Begrifflichkeit.

Als dritte philosophische Kategorie wird das Erhabene (186ff.; französ. le sublime) in Anschlag gebracht, mit dem Lyotard auf das ästhetische Erleben der Avantgarde-Kunst anspielt. Das Sublime zeigt sich im Gefühl für das Undarstellbare, was diese Bestimmung kompatibel macht mit der homiletischen Dialektik von Darstellbarkeit und Nichtdarstellbarkeit, von Reden und Verstummen (189).

Das Ergebnis der Korrelationen zwischen postmodernem Denken und Predigtdidaktik trägt der Vf. im letzten Kapitel (leider in sehr gedrängter Form) zusammen. Leitend sind dabei die Merkmale: Unbestimmtheit, Nicht-Darstellbares, Fragmentarisierung, Relativität des Kanons, Performanz, Kanevalisierung (d. h. Logik des Umgekehrten), Hybridisierung (intertextuelle Verknüpfung), Ironie und Immanenz. Predigen stellt sich dementsprechend als eine Kunstform dar, so von Erhabenem Zeugnis abzulegen, dass dem Geist gestaltet Raum gegeben und so dem Hörer ein re-konstruktives Verstehen ermöglicht wird (202). Verstehen wird dabei (ganz im Sinne postmoderner Rezeptionsästhetiken) als ein synthetischer, Wirklichkeit setzender Akt definiert. In der Nachfolge Jesu Christi verweigert die postmoderne theologische Hermeneutik allen Totalitätsansprüchen von Weltdeutung die Gefolgschaft, in dem Wissen um die radikale Begrenztheit, Perspektivität und Fragmentarität menschlichen Erkennens (229).

Die Systematisierung am Ende der Untersuchung bestätigt also die Tendenzen in der gegenwärtigen Homiletik, die Predigtwahrnehmung - analog zur Pluriformität der Geistwirkungen - als einen konstruktiven Prozess zu verstehen. Diese Argumentation ist schlüssig und markiert so etwas wie einen normativen common sense spät- bzw. postmoderner Predigttheorie. Schwer zu verstehen ist von diesem Ergebnis her allerdings die kulturpessimistische Diagnose im 1. Teil der Arbeit (15 ff.). Das apokalyptische Szenario eines maschinengleichen binarisierten Denkens, das die kreativen Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen bedroht, in Globalisierungsfallen lockt, durch künstliche Intelligenz gefährdet und technokratisch ausbeutet, steht einigermaßen unvermittelt neben einer die Pluralität der Deutungen konstruktiv bejahenden homiletischen Hermeneutik. Dies ist umso erstaunlicher, als mit Gianni Vattimo im letzten Kapitel (223 ff.) nun gerade der Antityp des Verfallstheoretikers zum Kronzeugen erhoben wird. Hier scheint dem Rezensenten die postmodern-schwache Hermeneutik noch zu sehr in spätmodern-starke Erzählungen vom zivilisatorischen Niedergang verstrickt zu sein.

Reuters Konsensmodell des Verstehens muss trotzdem als ein theologischer Gewinn im Konzert homiletischer Theoriebildung betrachtet werden. Erhellend ist vor allem die Synthese derjenigen Strukturen, die die Predigtaufgabe unter den Bedingungen postmoderner Diskurse reflektieren. Überzeugen können auch die pneumatologischen Überlegungen, die ein kritisches Korrektiv bilden gegenüber einer Verabsolutierung ästhetischer Wirkungen, wie sie gerade in der Frühphase zeichen- und kommunikationstheoretisch motivierter Homiletiken vorherrschte.