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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

675–677

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kunz-Herzog, Ralph

Titel/Untertitel:

Theorie des Gemeindeaufbaus. Ekklesiologische, soziologische und frömmigkeitstheoretische Aspekte.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag 1997. 398 S. gr.8. Kart. DM 78,- . ISBN 3-290-17181-7.

Rezensent:

Holger Böckel

Nach der Hochphase der Gemeindeaufbaudiskussion in den 80er Jahren und ihrer Modifikation zur Diskussion um Gemeindeentwicklung, -leitung und -management in den 90ern versucht der Autor im vorliegenden Werk eine theoretische Zusammenfassung und theologische Grundlegung desjenigen Zusammenhangs, den er erneut als Gemeindeaufbau definiert und entwickelt. Das Werk ist dabei auf einem hohen Theorieniveau angelegt, will es doch die prinzipielle Fragestellung jeglicher Ansätze um Gemeindeaufbau, -entwicklung oder -leitung bearbeiten. Die schon im Untertitel hervortretende Dreiteilung spiegelt sich in der Anlage der Untersuchung wider. Nach einem Prolegomena-Teil, der die theoretische Grundlegung des Untersuchungsansatzes liefert, folgen drei Hauptteile, welche - in Anlehnung an die homiletische Theoriebildung - den prinzipiellen, den formalen und den materialen Aspekt der vorliegenden Gemeindeaufbautheorie bieten.

Inwiefern diese Theoriebildung es leisten kann, die bisherigen Ansätze zu abstrahieren und zu integrieren, ist Aufgabenstellung und zugleich Anspruch des Werkes, den es kritisch zu hinterfragen gilt. Der inhaltliche Zugang zur Gesamtanlage ist somit in der grundlegenden Theoriebildung des Anfangsteils zu finden. Erkenntnisleitender Zusammenhang ist hier die Polarität von Koinonia und Konziliarität.

Hiervon ausgehend buchstabiert der Autor sämtliche folgenden Aspekte seiner Gemeindeaufbautheorie in immer neuen Spannungspolen bzw. Begriffspaaren durch. Sachlicher Ausgangspunkt scheint die Koinoniarealisierung zu sein, als welche die Gemeindeaufbautheorie im Sinne eines Orientierungskonzepts (59 f.) entfaltet wird. Theologiegeschichtlich greift der Vf. auf D. Bonhoeffer (Nachfolge) und sachlich vor allem auf U. Kuhnke (Koinonia, 1992) zurück. Koinonia wird als Bedingung kirchlicher Praxis reflektiert, welche ihre Stärke in der Konvergenz mit der Lebenswelt und in ihrer vom Autor entfalteten Konziliarität besitze (56). Inwiefern jedoch Koinonia als quasi kybernetisch-ekklesiologisches Grundparadigma dazu dienlich ist, die hier abstrakt gefasste Größe des Gemeindeaufbaus in ihren ekklesiologisch und kybernetisch unterschiedlichen Ansätzen zu beschreiben, ist auf Grund seiner angezeigten Positionalität zu bezweifeln. Der Vf. muss daher einen sehr abstrahierten und formalisierten Gedankengang vollziehen. Auf immer neuen Metaebenen scheint er daher nochmals formaler zu verfahren als es die bisherigen Konzepte bieten und läuft dabei Gefahr, dem selbst gestellten Anspruch einer theologisch-kybernetischen Orientierung nicht mehr zu entsprechen. So kommt er nicht nur in eine sachliche Spannung zum theologischen Koinoniabegriff, der angesichts des Formalisierungsgrades als willkürlich gewählt scheint. Die Schwäche seines Verfahrens liegt - wie er selbst eingesteht - überdies darin, dass dieser Grad an Abstraktion zwar Konsensfähigkeit erzeugen könne, jedoch an konkreter Gestaltungskompetenz verliert (62f.). Diese lässt sich nämlich nur im Kontext einer bestimmten Spiritualität gewinnen, wie der Autor im 3. Hauptteil zu Recht entfaltet und vorab systemtheoretisch darlegt. Die theoretische Problematik im Grundansatz des Werkes lässt sich leider nicht durch die aspektivische Entfaltung des Gedankengangs in den drei Hauptteilen beheben. Im Gegenteil spiegeln sie jene Grundaporien durchgehend wider. Gleichwohl lassen sich hier anregende Gedankengänge finden.

So weist der Vf. im prinzipiellen Aspekt erstmals den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Gemeindeaufbaukonzepten, ihrer Ekklesiologie und ihrer Soteriologie auf (105 ff.) und versucht diesen anhand der Gegenbegriffe Heil und Heilung mit dem Koinoniaansatz zu verbinden. Kritisierbar ist jedoch die zu idealistische Koinoniabestimmung als Heilung und Beteiligung (136 ff.), welche diese auf das gelingende Leben gesunder Beziehungen fokussiert. Letzteres gewinnt so ungewollt den hinterfragbaren Rang einer nota ecclesiae. Hierdurch will der Vf. das Konziliaritätsprinzip, seinen zweiten begrifflichen Brennpunkt, theologisch qualifizieren (142) und so dem Sog selbstgewählter Formalisierungstendenzen entziehen.

Die formalen Aspekte seiner Koinonia-Realisierung behandeln erneut das weite Feld allgemein-soziologisch kybernetischer Zusammenhänge der Gemeinde und referieren zunächst die Gemeinschaftstheorien von Ferdinand Tönnies, Ernst Troeltsch und Max Weber. Weiterhin wird Gemeindeaufbau - dessen historisches Paradigma der Pietismus sei (256 ff.) - systemtheoretisch als Bewegung im Gegenüber zur Institution gesehen, was den Autor zu interessanten Beobachtungen zum organisationsstrategischen Dilemma der Institution Kirche führt: Sie ist auf solche Bewegungsstrukturen angewiesen, die sie zugleich in Frage stellen. Gemeindeaufbau erzeuge so, obwohl notwendig, strukturelle Konfliktkonstellationen (283f.). Einen überzeugenden Ausweg aus diesem Dilemma zeigt der Vf. nicht auf.

Die materialen Aspekte der Gemeindeaufbautheorie wollen Koinonia-Realisierung als Koinonia-Gestaltung thematisieren. Letztere entfaltet der Autor im Begriff der Spiritualität bzw. Frömmigkeit, welcher in einem letzten Schritt auf das Spannungsfeld zeitgenössischer Religiosität hin ausgedehnt wird. Während der Autor theologiegeschichtliche Stationen zum Thema Frömmigkeit und Praktische Theologie, Evangelische Spiritualität und Frömmigkeitskritik referiert, stehen die Ergebnisse auffallend unverbunden neben den zuvor entfalteten strukturellen Überlegungen zum Koinonia-Begriff. Wiederum formal entfaltet er Spiritualität als Gestalt-Prinzip der Frömmigkeit, wobei er sich inhaltlich hauptsächlich kritisch mit dem Pietismus und seinen Folgewirkungen in neueren Ansätzen, etwa zum missionarischen Gemeindeaufbau, beschäftigt. Richtigerweise zeigt der Vf. auf, dass die Gestaltung von Koinonia nur auf eine bestimmte Spiritualität hin zu realisieren ist (316) und dies formalen Integrationskonzepten entgegensteht. Als ein solches muss jedoch auch das vorliegende Werk gelten.

Begrüßenswert ist, dass der Vf. Strukturmerkmale zeitgenössischer Religiosität (Individualisierung als Modus der Vergesellschaftung, Patchwork und Exklusivität als religiöse Orientierungsmuster) als eine für den Gemeindeaufbau relevante Thematik entfaltet. Um dies nicht aus dem Blick zu verlieren, plädiert er für eine Verschränkung exklusiver und inklusiver Strukturen (365), wonach in Annäherung und Distanz zur religiösen Situation nach Diversifikationsmöglichkeiten der Koinonia-Gestaltung gesucht werden müsse (367, Hervorhebung im Original). Wie dies jedoch Gestalt werden kann, bleibt der Autor dem Leser auch am Ende des Buches zu antworten schuldig.

Zu fragen bleibt, worin der erkenntnistheoretische Fortschritt des Werkes besteht. In einem kurzen Fazit resümiert der Autor seinen Ertrag: Als Antwort auf die im Gemeindeaufbau deutlich werdende ekklesiologische Grundproblematik der Integration verschiedener Frömmigkeitsformen will er anstelle der falschen Alternative von Einheitsvorstellungen einer be- stimmten Gestalt einerseits und prinzipieller Gestaltungsfreiheit andererseits das Gestaltungsprinzip der Koinonia setzen, womit die Koinonia-Realisierung als Grundanliegen des Gemeindeaufbaus zum Stehen kommt. Spielregel der Koinonia-Realisierung sei die Konziliarität (378).

So weist der Vf. indirekt nochmals die anfangs konstatierte Grundaporie seines Werkes auf: Entweder die Koinonia-Realisierung verliert ihre Gestaltungskraft auf Grund des zu hohen Grades an Formalisierung oder sie definiert selbst eine gestaltete christliche Spiritualität, welche ihrerseits ein Harmonisierungsideal darstellt. Dass der Vf. nicht frei davon ist, in beide Richtungen abzugleiten, ist deutlich geworden. Eine Überwindung der Aporie kann er indes nicht liefern. Damit führt der Ansatz jedoch nicht über die bisherigen konziliaren Lösungsversuche hinaus. Wie bei diesen ist auch hier offen, woher die Motivation zur Teilnahme am dialogisch-konziliaren Prozess kommen soll, wenn sie nicht durch die immer nur positionell verortete Spiritualität begründet sein kann, sondern im formalen und - sieht man von allzu idealistischen Einzelaussagen ab - inhaltlich blassen Prinzip der hier entfalteten Koinonia liegen soll. Es bleibt der Eindruck eines impliziten Harmonisierungsbestrebens, das man gerade bei evangelikalen Gegenpositionen zu identifizieren glaubte und das hinsichtlich seiner denkbaren Gestaltung unrealistisch wirkt.

Fazit: Die Diskussion um Gemeindeaufbau in Deutschland scheint - ganz im Unterschied zu seiner Praxis - zu einem vorläufigen, gewissen Ende gekommen zu sein, ohne dass die aufgezeigten Aporien überwunden wurden. Es ist zu fragen, ob dies überhaupt möglich ist. Eine generalisierte Theorie des Gemeindeaufbaus müsste sich, wie im vorliegenden Werk, gleichwohl dieser Aufgabe stellen. Als theoretische Grundlegung zu dieser Fragestellung kann, ja muss es - entgegen seinem Anspruch - enttäuschen.