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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

671–673

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gutmann, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Ich bin's nicht. Die Praktische Theologie vor der Frage nach dem Subjekt des Glaubens.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag; Wuppertal: Foedus 1999. 280 S. 8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-7887-1754-8 u. 3-932735-39-0.

Rezensent:

Martin Kumlehn

Auch und gerade eine Praktische Theologie, die sich - wie G. im Anschluss an seinen Lehrer Manfred Josuttis fordert - verstärkt der Wahrnehmung der Wirklichkeit und Macht des Heiligen (8) zuwenden soll, braucht ein kritisches Element, das Differenzierungen vorzunehmen erlaubt: Wie kann ich die Macht des ,Heiligen', des ,Göttlichen', die mir in der ,religiösen Trance' begegnet, mich fordert und mein Leben neu macht, von ausgesprochen ungöttlichen und unheiligen Überwältigungserfahrungen unterscheiden? (10) Für G. ist damit die Frage nach dem Subjekt religiöser Lebenspraxis (17) gestellt. Er behandelt diese Fragestellung in sechs, mit einer Ausnahme bislang unveröffentlichten Studien, wobei die ersten drei - Subjekt (13-101), Ich (103-144), Körper (144-171) - einen stärker prinzipiell-systematischen Charakter haben, während die letzten drei - Intimität (173-222), Lebenswelt (223-243), Verkündigung (245-267) - Verbindungen zu Handlungsfeldern christlicher Praxis (Eheberatung, Religionsunterricht, Predigt) herstellen. G. verfährt dabei stets so, dass er die jeweils zur Klärung anstehenden Sachfragen nicht nur unter Bezugnahme auf moderne sozial-, kultur- und humanwissenschaftliche Theoriemodelle (u.a. S. Freud, N. Elias, M. Foucault, M. Mauss, V. Turner), sondern vor allem im ausführlichen Dialog mit den theologischen Klassikern Augustin, Luther, Hirsch und Barth erörtert. Diese Verknüpfung von zeitgenössischen sozialphilosophischen, anthropologischen bzw. kulturwissenschaftlichen Perspektiven einerseits mit der systematisch-theologischen Theorietradition andererseits stellt zweifelsohne eine Stärke des Buches dar. Vielfach gelingt es dem Autor zu zeigen, dass der prakt.-theologische Diskurs durch solche theologiegeschichtlichen Anknüpfungen und Vergewisserungen erheblich an Klarheit und Tiefe gewinnt (vgl. z. B. die der Erhellung des Zusammenhangs von Erinnerung und Rechtfertigungsglauben dienende Analyse der ,Bekenntnisse' Augustins, 105-118).

Schon im Titel signalisiert G.s Buch einen heftigen Widerspruch: ,Ich bin's nicht.' Das soll Martin Luther ausgerufen haben, als er in Anwesenheit seines Vaters sowie der anderen Mönche seine erste Messe las. Luthers Vater sah im Entschluss seines Sohnes, ins Kloster einzutreten, eher einen Ausdruck von Besessenheit als von Heiligkeit (7). Im Anschluss an E. H. Eriksons psychoanalytische Studie zum jungen Luther interpretiert G. Luthers Ausruf als dessen verzweifelten Widerspruch sowohl gegen den Vorwurf der Besessenheit als auch gegen den Versuch, die Macht des Heiligen auf die Rolle des Impulsgebers für individuell-menschliche Selbstreflexion einzugrenzen; der Ausruf zeigt die fundamentale existenzielle Erfahrung, daß ich keinesfalls derjenige bin, der ,meine Lebensgeschichte schreibt' (8 f.). Eben diese Erfahrung, die sich theologisch als Rechtfertigungslehre bzw. als Konstitutionstheorie von Subjektivität reformulieren lässt, sieht G. durch einen gegenwärtig sehr einflußreiche[n] Gesprächszusammenhang in der Praktischen Theologie (8) in Frage gestellt. Sein Widerspruch richtet sich gegen die namentlich von Wilhelm Gräb geltend gemachte Einsicht, dass sich die Inhalte, Sinndeutungsmuster und Ausdrucksformen von Religion ,der in diesen Gehalten sich auslegenden religiösen Subjektivität' verdanken, denn dies bedeute, dass die Rede von Gott ihren Plausibilitätsgrund in der religiösen Subjektivität des menschlichen Individuums und sonst nirgends (14) finde. G. bezieht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Karl Barths Kritik an der natürlichen Theologie bzw. Religion. Dass Barth die Lebenswelt vom Subjekt Gott her, senkrecht von oben konzipiere, sei, anders als oft beklagt, gerade die Stärke dieser Theologie (236). Denn nur so könne vermieden werden, dass Individualisierung und Verinnerlichung normative Geltung für ein Konzept menschlicher Subjektkonstitution beanspruchen (58).

Ein derartiges Konzept sieht G. vor allem im Werk Emanuel Hirschs vertreten: Hirschs Nachdenken steht ingesamt für einen Theologie-Typus, der die Reflexion auf das Subjektsein Gottes zu Gunsten eines emphatischen Begriffs menschlicher Subjektivität unterbetont (63). Nun wird man nicht um- hin können, der Überzeugung G.s beizupflichten, dass das menschliche Individuum ... heillos überfordert [wäre], würde es zum Haltepunkt theologischer Reflexion auserkoren (173). Ebenso wird man seiner These zustimmen: Wer die Einsicht in die Grenze seines Subjektseins verfehlt, der verfehlt zugleich die Einsicht in das Subjektsein Gottes (271). Aber es stellt sich doch die Frage, ob nicht die aus der Gegenüberstellung von Barth und Hirsch gewonnenen Einsichten einem wesentlichen Merkmal neuzeitlichen theologischen Denkens zu wenig Rechnung tragen, der Unterscheidung nämlich von Religion und Theologie. Wer ist Subjekt des Glaubens und der Theologie?, fragt G. (100). Das aber sind zwei durchaus verschiedene und darum auch - gerade um der heilsamen doxologischen Unterscheidung von Gott und Mensch (173) willen- stets voneinander zu unterscheidende Fragestellungen. Im einen Fall geht es um die Frage, wer oder was menschliche Subjektivität begründet, im anderen um die Frage, durch wen und auf welche Weise es zur Artikulation der Antwort auf die Frage, wer oder was menschliche Subjektivität begründet, kommt. Dass Gott als der Urheber - G. sagt: Subjekt - menschlichen Selbstseins erfahren wird, ist in keiner Weise unmittelbar abbildbar. Das räumt im Übrigen auch G. ein, etwa wenn er konstatiert, Barth habe in seiner Dogmatik die Beziehung zwischen Gott Vater, Sohn und Geist, ebenso [wie] die zwischen Gott und seinen Menschen ... ,faktisch' als symbolische Rede erzählt (74 f.). Es geht eben nicht ohne eine solche symbolisch darstellende Vermittlung, wenn Menschen artikulieren, woher sie ihr Leben haben und in welcher Weise sie dieses Leben und die Welt gestalten wollen. Subjekt solcher rituellen, symbolisierenden und auch reflektierenden Darstellungen ist nicht Gott, sondern der Mensch. Insofern verdankt sich, was als Gegenständliches der Religion, als Bibel, Dogmatik, sakramentaler Akt, gottesdienstliche Feier, Gebet oder Predigt hörbares und/oder sichtbares Geschehen ist, in der Tat der in diesem Reden und Tun ihren Glauben auslegenden und begreifenden Subjektivität.

Im Lichte dieser Unterscheidung dürfte schließlich auch deutlich sein, wie auf die eingangs formulierte Leitfrage G.s geantwortet werden kann. Ob und inwiefern man es nämlich in religiösen Vollzügen tatsächlich mit dem ,Heiligen', mit dem ,Göttlichen' zu tun hat und nicht mit ,ausgesprochen ungöttlichen und unheiligen Überwältigungserfahrungen', ob und inwiefern Gott erneut als Urheber des subjektiv angeeigneten und explizierten Glaubens erfahrbar wird, also wiederum geschieht, wovon das symbolisierende Handeln Zeugnis ablegen will, - das zu beurteilen ist unmittelbar nur der jeweils beteiligten, gläubigen Subjektivität gegeben. Die Theologie dagegen muss sich auf eine kritische Interpretation der kommunikativen Ausdrucksformen und ethisch-sozialen Handlungsweisen der gläubigen Subjekte beschränken. Kritisch ist eine solche Interpretation genau dann, wenn sie - um der Freiheit des Menschen sowohl als auch um der Gottheit Gottes willen - zwischen Gott und Mensch, Glaube und Ritual, Religion und Theologie stets unterscheidet und zugleich deren unauflöslichen Zusammenhang erkennbar macht.

Insofern möchte ich G. ausdrücklich beipflichten, wenn er feststellt: Genausowenig wie menschliche Individualität kann menschliche Sozialität die zureichende Antwort auf die Frage nach dem Subjekt des Glaubens sein (243). Auf der Suche nach einer solchen zureichenden Antwort formuliert G. freilich theologische Positionen, die ihrerseits zu produktiver Nachfrage anregen - sicher ganz im Sinne des Autors.