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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

663–665

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Benzenhöfer, Udo

Titel/Untertitel:

Der gute Tod? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart.

Verlag:

München: Beck 1999. 272 S. 8 = Beck'sche Reihe, 1328. Kart. DM 24,-. ISBN 3-406-42128-6.

Rezensent:

Mirjam Zimmermann

Bei der aktuellen Diskussion um Euthanasie und Sterbehilfe geht es in ethischer und juristischer Hinsicht um die gewichtige Frage der Aufhebung des Tötungsverbots. Der Vf., der Medizingeschichte und Ethik an der Medizinischen Hochschule Hannover lehrt, erörtert diese Frage in 10 Kapiteln im geschichtlichen Längsschnitt von der Antike bis in die Gegenwart. Benzenhöfer geht von der These aus, dass gerade aus der eingehenden Untersuchung existierender Positionen in Geschichte und Gegenwart Nutzen für die aktuelle Debatte gezogen werden kann.

Bereits die Definition des Euthanasie-Begriffs unterliegt der diachronen Zugangsweise, indem der Vf. euthanasia in der Antike bis zu den etymologischen Wurzeln im antiken Griechenland (Menandros u. a.) zurückverfolgt. Dabei wird deutlich, dass bereits seit den ersten Reflexionen über den guten Tod Sterbehilfe fast das ganze Spektrum der Bedeutungen einschließt, die auch heute noch unter dem Konzept subsumiert werden: ärztlicher Umgang mit unheilbar Kranken, der leichte und leidfreie Tod, Selbsttötung aus Krankheitsgründen, Beihilfe zur Selbsttötung, Tötung auf Verlangen und Infantizid. Die einzelnen Textgruppen werden nach Recht, Philosophie und Medizin gegliedert.

Im zweiten Kapitel (43-60) wird untersucht, wie das Problem innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition aufgegriffen wurde. Da das Thema der Tötung Schwerkranker auf Verlangen erst in neuerer Zeit explizit von Juden und Christen erörtert wurde, behandelt der Vf. in seiner historischen Betrachtung einschlägig verwandte Themen, wie Legitimität der Fremdtötung bzw. Selbsttötung oder Umgang mit Schwerkranken ausgehend von zentralen Stellen in Talmud und Bibel sowie deren Rezeptionsgeschichte. Die Entwicklungen vom 16. bis zum 19. Jh. werden knapp durch die Thesen von Thomas Morus, Francis Bacon und einzelnen weiteren Beiträgen abgesteckt (Kap. III: 61-76). Der Diskurs über die Ausscheidung der Schwachen in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s wird unter den Stichworten Sozialdarwinismus, Rassenhygiene und Eugenik anhand der Vertreter Ch. Darwin, E. Haeckel, A. Tille, A. Ploetz, F. Nietzsche aufgearbeitet (Kap. IV: 77-91). Sein Schwergewicht legt der Autor auf die Entwicklungen zum und im Nationalsozialismus sowie deren Nachwirkungen (Kap. V-VII: 92-144): Über Adolf Jost, Ernst Haeckel, Karl Binding und Alfred Hoche wird erst die theoretische Grundlegung, dann die Praxis im Nationalsozialismus dargestellt. Der Schwerpunkt in der Auseinandersetzung um die Vernichtung lebensunwerten Lebens und die Umsetzung der Theorie in einer Vernichtungspraxis wird auf die Zeit zwischen 1939 bis 1941 gelegt. In diese Zeit fällt der Beginn des so genannten Kindereuthanasieprogramms und die erste Phase der Erwachseneneuthanasie. Während die Entwicklung nach 1941 leider ohne Angabe von Gründen nur sehr knapp behandelt wird, versucht der Vf. noch einige Aspekte der Diskussion um die Sterbehilfe nach 1945 darzustellen, wobei er sein Augenmerk auf die Aufarbeitung bzw. die Nichtaufarbeitung der NS-Euthanasie richtet. In der Analyse des weiteren Verlaufs der Euthanasie-Debatte in Deutschland bis ca. 1980 fokussiert der Vf. vor allem ärztliche Richtlinien und den Aspekt der Enttabuisierung. Zur neuesten Diskussion werden dann Fallbeispiele mitsamt der rechtlichen und öffentlichen Diskurse dargestellt wie z. B. der Hackethal-Fall als ärztliche Beihilfe zum Suizid oder der Kemptener Fall zum Abbruch der Sonderernährung bei einer Apallikerin (Kap. IX: 184-204). Ein Überblick über die Sterbehilfe-Diskussion in einigen ausgewählten Ländern (USA, Großbritannien, Australien und Niederlande) ergänzen den umfassenden diachronen Abriss des Problems (Kap. VIII: 145-183).

Im Anhang werden historische (Hippokratischer Eid) und vor allem aktuelle Dokumente, Richtlinien, Grundsätze (z. B. der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung von 1998) und beispielhafte juristische Stellungnahmen im Wortlaut beigefügt. Ein Personenregister schließt das Werk ab, ein Sachregister fehlt leider. - Aus der Untersuchung lassen sich für die aktuelle Diskussion folgende Impulse gewinnen:

1. Im Bereich der passiven Sterbehilfe scheint sich ein Konsens herauszubilden, dass die Nichtaufnahme oder der Abbruch einer Behandlung auch bei einem nichteinwilligungsfähigen Patienten zulässig sei. Der Arzt ist also nicht (mehr) zu einer Lebensverlängerung bis zum Äußersten verpflichtet (vgl. auch die Grundsätze der Bundesärztekammer von 1998).

2. Problematisch schätzt der Vf. allerdings den Bereich der passiven Sterbehilfe bei noch nicht Sterbenden ein, z. B. bei schwerstgeschädigten Neugeborenen oder Patienten mit apallischem Syndrom. Die Erhebung eines mutmaßlichen Willens als Grundlage für die Therapiebegrenzung ist hier äußerst schwierig. Auf Grund dieser Unklarheiten könnte leicht eine Dammbruchbewegung entstehen, d. h. eine Ausweitung der passiven Sterbehilfe als Unterlassenshandlung in den Bereich der bewussten Tötung als Ausnahme vom Tötungsverbot.

3. Schwierig ist bei der Eruierung sowohl des mutmaßlichen bei nicht mehr bzw. noch nicht einwilligungsfähigen Patienten aber auch des aktuellen Willens des zu behandelnden Patienten, dass Willensbekundungen immer zutiefst situativ abgefasst und deshalb zeitlich schwer auf die aktuelle oder einer zukünftigen Situation kompatibel sind, die vorrausfügende Autonomie ist deshalb nicht unproblematisch.

4. Im Sinne der Sterbensqualität des schwerkranken Patienten ist eine indirekte Sterbehilfe zulässig, sofern die Grenzen der medizinischen Kunst erreicht sind und die Zustimmung des Patienten eingeholt wurde. Dabei wird bei der Schmerzlinderung das Risiko eingegangen, den Tod als unbeabsichtigte Nebenfolge zu beschleunigen.

5. Die größte ethische Herausforderung stellt allerdings die Frage nach der Aktiven Sterbehilfe, deren Befürworter sich sowohl in Holland als auch in Australien durchgesetzt haben. Hier gelte es, weitere Diskussionen wach zu verfolgen.

Die Position des Vf.s kann trotz seines Bemühens um neutrale und sachliche Darstellung unschwer in der Befürwortung einer passiven Sterbehilfe und Palliativmedizin gesehen werden, die indirekte Sterbehilfe mit dem Ziel der akuten Schmerzbekämpfung einschließt. Der Vf. lehnt aber jede Form aktiver Sterbehilfe ab, selbst in der Intention der Leidvermeidung also als Akt des Mitleid(en)s oder aus Gründen der Akzeptanz der Patientenautonomie. Diese deutliche Absage an aktive Sterbehilfe (Euthanasie) kann zugleich als Lernen aus der Geschichte, d. h. als Ergebnis der geschichtlichen Betrachtung der Sterbehilfe bezeichnet werden. Da es dem Vf. offenbar um eine Rehabilitierung des in der deutschsprachigen Debatte tabuisierten Euthanasie-Begriffs im Sinne einer Sterbebegleitung bzw. des ,Sanften Tods' geht, bleibt unverständlich, weshalb er die seit C. Saunders ständig wachsende Hospizbewegung nicht als Gegengewicht zur aktiven Sterbehilfe untersucht.

Der besondere Beitrag des Buches liegt jedoch weniger in einer präskriptiven Stellungnahme zum aktuellen Problemfeld als in der umfassenden deskriptiven Darstellung historischer Positionen. Mit der Monographie liegt ein fundiertes und vielfach an Quellentexten erarbeitetes kleines Kompendium zur Euthanasie-Geschichte vor, das sowohl den Sachkundigen und Lehrenden als auch den interessierten Laien wichtige Anregungen zu geben vermag.