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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

645–647

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wasserberg, Günter

Titel/Untertitel:

Aus Israels Mitte - Heil für die Welt. Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XVII, 418 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 92. Lw. DM 198,-. ISBN 3-11-015864-7.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Wasserbergs Studie wurde 1996/97 in Kiel als Dissertation angenommen. Sie wurde von Jürgen Becker angeregt, hat sich allerdings im narrative criticism ein angemessenes methodisches Instrumentarium gerade zur Interpretation des lukanischen Doppelwerks durch Peter Lampe vermitteln lassen (VII-VIII). Diese Methodik - narrative oder literary criticism, in der deutschen Sprache gelegentlich mit ,neue Literarkritik' übersetzt (31 Anm. 2) - wird von W. recht apodiktisch vorausgesetzt. Lukas erzählt Theologie (4). Lukas ist ein narrativer Theologe (5). Lukas ist ein beeindruckender Erzähler und Lehrer ... (274). Lk-Act ist ein in sich geschlossenes Erzählganzes (31). Mit J. D. Kingsbury wird davon ausgegangen, daß das von Lukas verfaßte Evangelium primär als ein Vorlesewerk ... geschaffen wurde (31).

Freilich kann W. auf bedeutende Werke in der amerikanischen Lukas-Exegese verweisen und sich an sie anschließen, die hier vorgearbeitet haben und deren Perspektiven mittlerweile die Synoptiker-Exegese insgesamt beeinflusst haben. Es sind dies R. C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts (2 vol.), 1986.1990, von W. zu Recht als Meilenstein (9, Anm. 16) betrachtet, und J. D. Kingsbury, Conflict in Luke, 1991. Im deutschsprachigen Raum erkenne ich in W.s. Studie einen der ersten maßgeblichen und ohne Einschränkung zu begrüßenden Beiträge zur Lukas-Exegese mit Hilfe dieser Methode, deren Absicht es ist, die von Lukas erzählte Welt zu untersuchen und darzustellen (31).

Die Untersuchung zerfällt in zwei Hauptteile. In der Grundlegung (3-67) wird die Themenstellung umrissen. W. fragt nach dem Verhältnis des lukanischen Doppelwerks zum Judentum. Die hier bislang bestimmende Forschungsposition bringt W. auf die Formel Kontinuität mit dem Israel der Vergangenheit, Diskontinuität mit der Synagoge zur Zeit des Lukas (13) und ordnet sie in die gegenwärtige Diskussion um Antijudaismus vor und nach Auschwitz ein. Es schließt sich ein Abschnitt zur Methodik narrativer Exegese an, der nach meiner Einschätzung nicht wirklich das methodische Instrumentarium beschreibt, sondern sich zu einzelnen Forschungspositionen zustimmend oder kritisch verhält. Schließlich wird eine Bestimmung des impliziten Leserkreises gesucht und gegenüber jeglicher Eingrenzung weit offen gehalten (67).

Der zweite Hauptteil erfüllt weitgehend, was in der Grundlegung als methodische Vorgabe angekündigt war: Zur Klärung dieser Frage muß das lk Erzählwerk von Anfang bis Ende durchschritten werden, um Daten für die Erfassung der lk Konzeption der Heilsvermittlung zu gewinnen (6). Von Anfang bis Ende - in insgesamt dreizehn Großabschnitten kommen sodann wesentliche Abschnitte in ihrer Abfolge im Doppelwerk oder Themen desselben in narrativ-synchroner Interpretationsweise zur Sprache. Hierbei wird die Schlussperikope der Act als hermeneutischer Schlüssel zum Gesamtverständnis von Lk-Act und als deren von Anfang an intendierter Schluss (114) aufgewertet und korrespondierend Lk 1-2 als Introitus in das lk Gesamtwerk wirklich aufgenommen und den weiteren Analysen vorangestellt. Die Arbeit schließt mit einer knappen Bilanz, mit Literaturverzeichnis und Register.

Der Wert der Untersuchung liegt nach meiner Einschätzung in einem Doppelten:

a) Sie erhebt den Anspruch, Lk-Act sei nur in Bezugnahme auf narrativ-synchrone Exegese angemessen auszulegen, und sie löst diesen Anspruch überzeugend ein. Andererseits aber bedenkt W. gegenüber jedem Versuch, diese Methode ausschließlich anzuwenden, dass dies zu einem geschichtslosen, rein literarischen Verstehen führen muss (34). Die Quellenbindung hindert Lukas, einen freien Roman zu schreiben, lässt ihn vielmehr sein Evangelium stets mit leserorientierter Auslegung auf dem Hintergrund des Markusevangeliums verfassen. Im Einzelfall liest sich freilich manches doch anders: Wie auf einem Schachbrett werden die einzelnen Figuren aktiviert, gezogen und dann wieder beiseitegestellt (279, auch 237).

b) W. trägt eine klare These zur lukanischen Israeltheologie vor, die sich von den redaktionsgeschichtlich orientierten Arbeiten im Gefolge von Conzelmann und Haenchen klar abhebt. Nicht durch die ablehnende Haltung des Judentums zur christlichen Botschaft führt die Mission zu den Heiden, sondern Gottes Heilswille gilt von Anfang an gleichermaßen Juden und Heiden. Um dieses von Anfang an in der von Lukas erzählten Welt festmachen zu können, verweist W. mehrfach und in fundamentaler Weise auf die Simeonweissagung Lk 2,29-35 (vor allem 134-147). Ihr Thema hat - leicht abgewandelt - konsequenterweise W.s Untersuchung den Titel gegeben. W. spricht mit Blick auf diesen Text funktional von gewichtigen, programmatischen Lesehinweisen und sachlich von der bereits hier angezeigten konstitutiven Universalität des Heils. Die verwendete Metapher von Fall und Aufstehen beschreibt den Verlauf der Verkündigung an Israel bis zur Verstockung der Mehrheit des jüdischen Volkes.

Die Stärke der Untersuchung liegt darin, dass W. stets einen Blick für das lukanische Doppelwerk insgesamt hat und eben nicht einzelne Perikopen in ihrer Leistungsfähigkeit für das Ganze überfrachtet. Die Arbeit ist fraglos ein Gewinn für die Rekonstruktion der lukanischen Theologie. Zugleich gefallen die klare Sprache und das eindeutige Urteil. Als Beispiel verweise ich auf die Auseinandersetzung mit H. Conzelmann auf S. 116, wo die Worte vorgeben, ignorieren, dem eigenen Anspruch zuwider, eklektisch, stiefmütterlich, übersehen u. a. fallen, in der Sache aber treffen. Die Schwäche der Arbeit liegt nach meiner Einschätzung darin, dass die Methode des narrative criticism in W. bisweilen eine Lust des Nacherzählens hervorruft, wo exegetische Arbeit gefragt gewesen wäre. Schon die gewählten Überschriften des zweiten Hauptteils gleiten ins Romanhafte ab.

Ich will den angesprochenen Sachverhalt verdeutlichen. Die Einkehr des Petrus im Hause Simons des Gerbers ist in Act 9,43; 10,6.32 insgesamt dreimal angesprochen und verdient daher mit Recht erhöhte Aufmerksamkeit. W. interpretiert: Petrus sei auf dem Weg, sich aus der Mitte des jüdischen Glaubens zu entfernen, da der Kontakt mit einem Gerber kultische Unreinheit bedeute (280). Der letztere Sachverhalt wird allerdings nicht aus den Quellen belegt, sondern mit Verweis auf Sekundärliteratur (z. B. Billerbeck) angesprochen. Die erzählte Welt hätte hier, wie auch an anderen Stellen, der Abstützung aus den Realien bedurft. W. spricht häufig von Signalwirkung im Text, von Lesehilfe etc. Solange allerdings nicht belegt wird, was in antiker Literatur und Rhetorik überhaupt in solche Funktionen treten kann, bleibt das Urteil des Auslegers subjektiv, wenn nicht sogar beliebig. Würden hingegen narrative criticism und überkommene Methoden stärker verzahnt, so wäre dies für den eigenen Ansatz und für die Exegese insgesamt nur von Vorteil. Überhaupt wird die zukünftige Forschung die Vorgabe, das ganze Doppelwerk in narrativ-synchroner Interpretationsweise zu analysieren, in etlichen Einzelentscheidungen kritisch bedenken, da W. erhebliche Angriffsflächen bietet.

Doch sind dies Einzelfragen, die den Wert der vorgelegten Untersuchung und der in ihr unterbreiteten Ergebnisse in keiner Weise schmälern wollen. Letztlich wird zu fragen sein, ob denn die These überzeugt und ob sie allen Texten, auch den von W. nicht analysierten (z. B. Lk 17,11-17 und die Sonderrolle der Samaritaner), standhält: Nicht erst Israels Ablehnung führt zur Mission der Heiden, vielmehr ist die universalistische Ausrichtung der Heilsbotschaft von Anfang an gegeben. Israels Ablehnung dieser Botschaft ist ein Aspekt, der mit der Berufung der Heiden nicht zu verrechnen ist. Wie nun die Völkerwelt in dieses Heil einbezogen wird, wie die Simeonweissagung durch Petrus und Paulus umgesetzt wird, das ist der andere Aspekt. Daher zögert W. nicht, das Anliegen des Lukas als Legitimierung der Völkermission des Paulus und sein Werk als eine breit angelegte Paulusapologie zu verstehen (365, auch 276.324 Anm. 44 u. ö.).

Die lukanische Israeltheologie wird letztlich mit dem Verstockungswort unter Ausblendung einer besonderen Heilsperspektive für Israel in Act 28 theologisch gedeutet (353.365). Gleichfalls hat Lukas eine Außenperspektive, die sich missionarisch an Juden wendet, aufgegeben (66). Das lukanische Doppelwerk enthält polemische Spitzen, ist aber von einer antijüdischen Grundtendenz entfernt (362).