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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

632–634

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bergmeier, Roland

Titel/Untertitel:

Das Gesetz im Römerbrief und andere Studien zum Neuen Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. VIII, 355 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 121. Lw. DM 178,-. ISBN 3-16-147196-2.

Rezensent:

Walter Klaiber

Dieser Aufsatzband gewinnt sein Thema und sein Gewicht durch die unveröffentlichte Studie Das Gesetz im Römerbrief (31-102). Ihr soll auch in dieser Rezension die größte Aufmerksamkeit gewidmet sein. Bergmeier bietet zur viel verhandelten Frage nach der Bedeutung des Gesetzes bei Paulus eine sorgfältige Analyse des Befundes im Römerbrief. Ich nenne die wichtigsten Ergebnisse seiner Beobachtungen:

(1) Der Röm wendet sich nicht nur an Heidenchristen (35f.). Der Duktus des Briefes und gerade auch 1,6 (in deren Mitte auch ihr lebt) legen nahe, dass die primären Adressaten einer Reihe von Passagen Judenchristen sind.

(2) Mit Werken des Gesetzes meint Paulus die Regelungen des Gesetzes selber und nicht Werke, die der Mensch tut oder getan hat (41).

(3) Dass das Gesetz nicht zur Gerechtigkeit führt, liegt daran, dass die Menschen es nicht erfüllen. Das Gesetz dokumentiert das Sündersein der Menschen (59), und deswegen können die Vorschriften der Tora den Sünder nicht rechtfertigen. Das bedeutet aber keineswegs, dass das Tun des Gesetzes als solches verworfen wird. Die traditionelle Gegenüberstellung von Glaube und Leistung ist verfehlt.

(4) Darum verfehlen die Juden den Weg der Gerechtigkeit nicht deswegen, weil sie der Selbst- bzw. Werkgerechtigkeit frönen, sondern weil sie in der Begegnung mit dem Evangelium nicht zum Glauben an Christus gekommen sind (77). Was als Ziel der Tora gesucht wird, ist in Wahrheit Christus, der jedem, der glaubt, die Gerechtigkeit schenkt (ebd.). So ist Christus nicht Ende des Gesetzes, sondern Ziel des Gesetzes (10,4), was mit 3,31 übereinstimmt. Die Tora findet ihre Erfüllung im Leben der Glaubenden (vgl. 13,8).

(5) Aus diesen Argumenten folgt: Die Lehre von Gesetz und Rechtfertigung war nicht Botschaft an die Heiden, sondern theologische Grundlegung ,des Evangeliums für die Unbeschnittenen' (Gal 2,7) (87). Sie ist Wort eines geborenen Juden an geborene Juden (88).

Es ist unschwer zu erkennen, dass B. damit einer heute sehr verbreiteten Interpretation des paulinischen Gesetzesverständnisses folgt, die in den letzten Jahren wachsende Zustimmung gefunden hat. Aber er geht argumentativ seinen eigenen Weg. Es lässt sich mitverfolgen, wie er von Fall zu Fall seine eigenen exegetischen Entscheidungen trifft. Fast überzeugt hat er mich im Blick auf 10,4, dass Christus nicht Ende, sondern Ziel des Gesetzes ist, und zwar nicht nur durch den Verweis auf 3,31, sondern vor allem durch den eindrucksvollen Vergleich mit 1,16.

Problematisch aber bleibt für mich die Antwort auf die Frage, warum das Gesetz als Heilsweg ausgeschlossen ist. Richtig ist zwar, wenn B. mit Schlatter und Wilckens betont, dass für Paulus das Tun des Gesetzes als solches keinesfalls als Sünde angesehen werden kann. Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden (2,13). Und doch gibt es hier bei Paulus eine Dialektik, die nicht übersehen werden darf. Dass das Rühmen ausgeschlossen ist (3,27 f.), liegt nicht nur daran, dass alle Sünder sind und deshalb keinen Grund zum Rühmen haben, sondern vor allem daran, dass das Rühmen eigenen Tuns und Könnens überhaupt die falsche Haltung vor Gott ist (vgl. 1Kor 1,29). Es wird eben nicht durch das Gesetz der Werke ausgeschlossen, weil ihm niemand genügen kann, sondern durch das Gesetz des Glaubens, das einen anderen Weg zum Heil aufzeigt.

So beruht auch die Argumentation in Röm 4 nicht auf dem Nachweis, dass nicht einmal Abraham das Gesetz erfüllen konnte bzw. dass zu seiner Zeit die Vorschriften des Gesetzes noch nicht gegeben waren. Die Möglichkeit, dass er auf Grund von Werken gerechtfertigt worden wäre, wird grundsätzlich ausgeschlossen. Gott gegenüber wäre auch das nicht Grund zum Rühmen gewesen, und so hat auch Abraham Gnade darin gefunden, dass er auf Grund des Glaubens gerechtfertigt wurde (4,1-5).

Und so wird auch in 9,30-10,4 der Grund dafür, dass die Juden den Weg zum Heil verfehlen, nicht allein darin gesehen, dass sie nicht zum Glauben an Christus gefunden haben, sondern das hat wiederum seinen Grund darin, dass sie versucht haben, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten (10,3), und zwar als Gerechtigkeit auf Grund der Werke (9,32). Unheilstiftend ist nicht, dass sie es nicht geschafft haben, das Gesetz zu erfüllen, also Sünder geblieben sind (davon spricht Paulus in 9-11 überhaupt nicht), sondern dass sie dieser Weg in die falsche Richtung führt (gegen 77).

Widerspruch möchte ich auch gegen die These einlegen, die Lehre von Gesetz und Rechtfertigung sei für Paulus nicht Inhalt der Evangeliumsverkündigung an die Heiden. Richtig ist zwar, dass Paulus diese Lehre in der Auseinandersetzung mit Judenchristen über die Frage, wie das Evangelium an Heiden weitergegeben werden soll, entfaltet. Aber was in Röm 1,16 f. als Inhalt des Evangeliums - für die Juden zuerst und auch für die Griechen - genannt wird, kann von der Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Rechtfertigung nicht getrennt werden. Zumindest den Gottesfürchtigen gegenüber musste sie geklärt werden; und gerade weil das Gesetz weiter als Zeuge für die Rechtfertigung in Christus in Anspruch genommen werden soll, bleibt die Frage nach ihrem Verhältnis zur Forderung des Gesetzes ein wichtiger Aspekt der Rechtfertigungsverkündigung- auch an die Heiden.

Diese grundsätzlichen Anfragen ändern nichts daran, dass die Untersuchung von B. eine Studie zum paulinischen Gesetzesverständnis darstellt, die wegen ihrer eindringlichen exegetischen Argumentation hohe Beachtung verdient. Zum Formalen möchte ich freilich eine Anmerkung machen: Im Vorwort schreibt B., dass er auf förmliche Auseinandersetzung mit anderen exegetischen Positionen weitgehend verzichtet und [sich] eher auf zustimmende Wahrnehmung der Literatur beschränkt habe (VII). Das kommt der Lesbarkeit und Darstellung sehr zugute. Aber es führt zu der eigentümlichen Situation, dass z. B. O. Hofius häufig als Gewährsmann für exegetische Einzelbeobachtungen zitiert wird, aber der uneingeweihte Leser nicht erfährt, dass er in einigen grundsätzlichen Fragen gerade die Gegenposition zu B. vertritt.1

Die anderen beigefügten Aufsätze sind Abdrucke schon veröffentlichter Artikel, die in fünf thematische Gruppen eingeteilt sind. Unter der Überschrift Das Gesetz im Römerbrief und weitere Studien zum Verständnis von Schrift und Tora im NT findet sich neben der genannten Arbeit noch Röm 7,7-25a (8,2): Der Mensch - das Gesetz - Gott - Paulus - die Exegese im Widerspruch? (103-112); TETELESTAI Joh 19,30 (113-121) und Und deinen Feind hassen (122-128). Der zweite Themenbereich ist überschrieben Annäherungen an Röm 13,1-7 und umfasst Loyalität als Gegenstand paulinischer Paraklese (131-143; die früheste Arbeit des Bandes aus dem Jahr 1966 in der Auseinandersetzung mit E. Käsemann) und Die Loyalitätsparänese Röm 13,1-7 im Rahmen von Römer 12-13 (144-160; der jüngste Beitrag in Auseinandersetzung mit J. Vollmer, Römer 13,1-7, DtPfrB 11, 95, 1995, 454-458).

Der dritte Bereich heißt Paulus und Johannes - Tradition und Interpretation und enthält die Aufsätze Weihnachten mit und ohne Glanz. Notizen zu Johannesprolog und Philipperhymnus (163-184) und Gottesherrschaft, Taufe und Geist. Zur Tauftradition in Joh 32 (185-205). Im vierten Bereich geht es um das Problem vorchristlicher Gnosis: Untersuchungen zur Gestalt des Simon Magus in Act 8 und in der simonianischen Gnosis werden vorgelegt: Quellen vorchristlicher Gnosis? (209-229), Zur Frühdatierung samaritanischer Theologumena: ,Die große Macht' (230-237); und Die Gestalt des Simon Magus Act 8 und in der simonianischen Gnosis - Aporien einer Gesamtdeutung (238-246).

Ein letzter Bereich ist dem Seher Johannes als Interpret von Vorlagen und Quellen gewidmet: Altes und Neues zur ,Sonnenfrau am Himmel (Apk 12)' (249-261); Jerusalem, du hochgebaute Stadt (262-282); Die Buchrolle und das Lamm (Apk 5 und 10) (283-300) und Die Erzhure und das Tier (Apk 12,18-13,18 und 17 f.) (301-320) - alles Studien, in denen die quellen- und redaktionskritische Analyse im Vordergrund steht.

Der Sammelband erhält gegenüber anderen vergleichbaren Publikationen eine besondere Note durch die ausführliche Einleitung, in der der Autor alle Arbeiten kurz vorstellt und bei den älteren die weiterführende Literatur kritisch bespricht und im Detail gelegentlich auch selbst Korrekturen vornimmt. Das gibt ihrer Neuveröffentlichung über die nochmalige Dokumentation hinaus ein eigenes Gewicht.

In all diesen Arbeiten besticht B. durch eine sorgfältige Argumentation und eine breite Kenntnis und Verarbeitung von Quellen und Sekundärliteratur, was für einen Forscher, der im nichtakademischen Bereich tätig ist, besonders hervorzuheben ist. Die detaillierte und akribische Auseinandersetzung mit Gegenpositionen macht allerdings einen Teil dieser Studien (besonders zur Apokalypse) zu einer nicht immer leichten Lektüre, verleiht ihnen aber zugleich besonderes Gewicht.

Fussnoten:

1) Vgl. O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Paulusstudien, WUNT 51, 1989, 50-74 (bes. 64-66) und ders., Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, ebd. 75-120 (besonders prägnant S. 110, A. 217: Daß telos in Röm 10,4 nur ,Ende' und nichts anderes heißen kann, ergibt sich zwingend aus dem Argumentationszusammenhang des Kontextes ... wie auch aus der paulinischen Gesetzestheologie insgesamt!).