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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

625–629

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Heinrich

Titel/Untertitel:

Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999. 367 S. gr.8 = Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 23. Geb. DM 148,-. ISBN 3-525-53377-2.

Rezensent:

Roland Deines

Ziel dieser Arbeit, einer 1995 in München eingereichten Dissertation im Neuen Testament (Doktorvater H.-W. Kuhn), ist die Untersuchung der Rolle des Gesetzes in der frühjüdischen Apokalyptik (17). Die Druckfassung stellt die leicht überarbeitete und um wichtige neuere Literatur ergänzte Fassung dar (7). Wie nötig eine solche Arbeit war, zeigt beispielhaft der Artikel Gesetz II. Judentum in der TRE (Bd. 13, 52-58), in dem die Apokalyptik überhaupt nicht vorkommt. H. will seine Arbeit zugleich als Beitrag zu einem angemessenen Verständnis der paulinischen Gesetzesaussagen verstanden wissen, da die Versuche, die paulinische Gesetzesproblematik werkimmanent zu lösen (18), zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hätten. Die ausführliche Einleitung (21-70) enthält einen eher allgemeinen Überblick über die Forschungsgeschichte zur Apokalyptik und schließt mit einem eigenen Definitionsversuch für das Phänomen der Apokalyptik (66-68). Demnach ist das zentrale inhaltliche Kriterium, das einen Text letztlich als apokalyptische Schrift ausweist ... die radikale Eschatologisierung des Geschichtsbewußtseins. Das bedeutet nach H.: Da Gottes Heilssetzungen der Vergangenheit nicht mehr in der Lage sind, zukunftsgründend zu wirken, wird angesichts der völlig gescheiterten Geschichte Israels alles Heil von einem völlig neuartigen Akt Gottes von der Zukunft her erwartet. ... Die Erwartung einer rein jenseitigen Heilsverwirklichung ist als das "sine qua non" der Apokalyptik zu bezeichnen (Hervorhebung R. D.). Es liegt auf der Hand, dass sich diese Definition auf die Analyse der Gesetzesaussagen auswirkt, deren soteriologische bzw. bundestheologische Funktion in einem so definierten eschatologischen Determinismus nur sehr eingeschränkt gewürdigt werden kann. Den Eingangsteil beschließt das Problem der Textauswahl (68-70). H. entscheidet sich dafür, nur einen bestimmten Traditionskreis aus der Umwelt des Paulus herauszugreifen, nämlich die apokalyptischen Dokumente, die zwischen 200 v. und 150 n. Chr. in Palästina ursprünglich in hebräischer oder aramäischer Sprache abgefaßt wurden (19).

Warum gerade die Sprachenfrage und der Entstehungsort die entscheidenden Kriterien sind, wird nicht begründet (vgl. 68). Das fällt auf, da die Arbeit nicht einfach die jüdische Apokalyptik behandeln, sondern nach den frühjüdischen Wurzeln des paulinischen Gesetzesverständnisses fragen will. Aber Herkunft und geistige Heimat des Paulus, der immerhin griechisch schrieb und in der jüdischen Diaspora geboren wurde, sind dem Vf. weder in der Einleitung noch im Schlusskapitel (Paulus und das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik, 335-348) eine Anmerkung wert. So überrascht es auch nicht, dass ohne Begründung mit IVEsr u. syrBar Texte herangezogen werden, die nach 70 und damit erst nach dem Tod des Paulus entstanden sind und eine Situation reflektieren, die mit der des Paulus nicht wirklich vergleichbar ist.

Im Hauptteil (71-321) behandelt H. nacheinander - weitgehend in Form einer Paraphrase - die Gesetzesaussagen in Dan, äthHen, AssMos, IVEsr u. syrBar (als Anhang noch Jub). Dadurch wird deren Funktion im Kontext der jeweiligen Schrift erkennbar, und H. kann zeigen, dass der Gesetzesthematik jeweils eine zentrale, wenngleich unterschiedliche Funktion zukommt. Eine philologisch-exegetische Behandlung der relevanten Stellen findet man nur ausnahmsweise und auch dann nur knapp, auf eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur wurde ebenfalls verzichtet. Im Vordergrund seiner Analysen stehen systematische Fragestellungen, die sich aus seiner Apokalyptik-Definition ergeben, allen voran die Möglichkeit der freien Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun angesichts des radikal theozentrische[n] Ansatz[es] der frühjüdischen Apokalyptik (323). Der Hauptteil endet mit einem Ergebnisse überschriebenen Abschnitt (320-323).

Aufschlussreich ist die Behandlung des Danielbuches, weil H. in dessen einzelnen Teilen (er behandelt nacheinander Dan 2; 7; 8; 9; 10-12; 1-6) eine Entwicklung bezüglich der Tora erkennt, die in der Folgezeit das apokalyptische Denken prägt. So sei in Dan 2, das er zeitlich deutlich vor Antiochus IV. Epiphanes ansetzt, die gesamtisraelitische Heilsperspektive der apokalyptischen Frühzeit noch dominierend. Erkennbar ist dies für H. am Bundesgedanken (dessen Relevanz für Dan 2 mir nicht einleuchtet), der dem Gesetzesgedanken noch eindeutig vorgeordnet sei, weswegen nicht radikaler Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora, sondern einzig die Zugehörigkeit zum Volk Israel ... für die Stellung im Eschaton entscheidend ist (83, vgl. 322). Mit den Ereignissen ab 175 v. Chr. und im Gefolge davon der makkabäischen Erhebung erfährt der Bundesgedanke ... eine deutliche Einschränkung dahingehend, dass nun der einzelne Torafromme anstelle des Volkes ins Zentrum rücke. Schon in Dan 7, geschrieben unter dem Einfluss des Wirkens von Antiochus IV., wird das zukünftige Ergehen im Gottesreich mit dem ethischen Verhalten in der Gegenwart verknüpft. Kosmische Ordnung (vgl. Dan 7,25; 8,10) und Sinaigesetz sind so verbunden, dass der Verstoß gegen eines zugleich der Angriff auf das andere ist (vgl. 94). Dan 9 dagegen interpretiert er als Versuch des Verfassers, das in der Gegenwart kraftlos gewordene deuteronomisch-deuteronomistische Geschichts- und Gesetzesverständnis zu korrigieren, bzw. apokalyptisch zu transformieren. Dabei sei der Autor von Dan 9 noch nicht in der Lage, die Tora einem solchen apokalyptisch gewandelten Verständnis zu integrieren. Erst mit IVEsr und syrBar sei dies gelungen (106), indem nun - am Ende der in der Arbeit behandelten Entwicklung - der Bundesgedanke ... eindeutig von einem unbedingten Gehorsam fordernden Gesetzesgedanken her bestimmt wird (297). Das Gesetz wurde aus dem Dokument der Erwählung zur beständigen Infragestellung derselben, indem sich die auf das ganze Volk zielende Heilsperspektive der Frühzeit individualistisch verengte (322).

Das hier skizzierte Entwicklungsschema und die damit verbundenen Fragestellungen bestimmen auch die Analyse der übrigen Texte. Ähnlich wie in Dan ist auch im äthHen eine solche Entwicklung in den einzelnen Teilen des Werkes selbst zu erkennen, da das astronomische Buch (Kap. 72-82) und das Buch der Wächter (Kap. 6-36) ebenfalls noch in die Zeit vor Antiochus IV. gehören, während die übrigen Teile aus der Zeit der Makkabäerherrschaft und danach stammen. Dennoch besitzen die Gesetzesaussagen des äthHen unter den von H. behandelten Schriften eine Sonderrolle, die bei ihm jedoch nicht deutlich genug zum Ausdruck kommt, weil er - ausgehend von seiner Analyse des Danielbefundes - kosmische Ordnung und Sinaitora miteinander identifiziert. Er sieht daher im äthHen ein derart radikalisiertes Gesetzesverständnis und einen so weitgefaßte[n] Torabegriff, dass die Einzelgebote so selbstverständlich darin enthalten seien, dass sie keiner gesonderten Erwähnung bedurften. Die Verbindung von Tora und Weisheit sowie die kosmische Ausweitung der Tora hätten dies möglich gemacht (192). Hier wäre H. vielleicht besser seiner einleitenden Bemerkung über die Vielschichtigkeit des antiken Judentums zur Zeit des zweiten Tempels (18) gefolgt. Dann könnte nämlich gefragt werden, ob hier nicht ein mit Dan und anderen Texten konkurrierendes Verständnis von Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik vorliegt.

Der Schlußteil enthält zwei als Ausblick bezeichnete Anhängsel: Anmerkungen zum Gesetzesverständnis der Qumrangemeinde (324-334) sowie Paulus und das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik (335-348). Ersteres wirkt etwas beziehungslos innerhalb des Buches, der Leser erhält keine Auskunft darüber, in welchem Verhältnis denn nun das qumranische Gesetzesverständnis zum apokalyptischen bzw. paulinischen steht. Der zweite Ausblick stellt vier Sachverhalte heraus, bei denen es Verbindungslinien zwischen dem paulinischen und dem Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik gibt: a) die absolute Rede von ,dem Gesetz', bei der die Unbedingtheit und Totalität des geforderten Verhaltens herausgestellt werde (342); b) die Einschränkung des Bundesgedankens vom Gesetzesgedanken her, wobei in beiden Traditionen die scharfe Betonung gerade des verpflichtenden Charakters der Tora im Mittelpunkt stehe (345); c) das spannungsvolle Verhältnis von totaler Sündenverfallenheit der gegenwärtigen Welt einerseits und der Vorstellung von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Tun (345) andererseits sowie d) die Vorstellung einer engen Verbindung von kosmischer und irdischer Gesetzlichkeit (346). Damit ist für H. die anfangs gestellte Frage, inwieweit die apokalyptische Gesetzestradition für entscheidende Aspekte des paulinischen Gesetzesverständnisses verantwortlich zeichnete (19), positiv zu beantworten.

Dem Buch fehlen Register, was durch das ausführliche Inhaltsverzeichnis nur teilweise ausgeglichen wird. Das Literaturverzeichnis offenbart zusammen mit den Anmerkungen eine gewisse Schwäche dieser Arbeit. Der Schwerpunkt der Literatur liegt in den siebziger und frühen achtziger Jahren, die moderne Apokalyptikforschung vor allem aus dem angelsächsichen Bereich fehlt zu großen Teilen, und das wenige, das sich im Literaturverzeichnis findet, wird weder in den Anmerkungen noch der Darstellung wirklich diskutiert.

Man vergleiche etwa, was H. für J. J. Collins u. G. W. E. Nickelsburg im Lit.verz. aufführt; die Neubearbeitung von Schürer ist überhaupt nicht genannt; als inhaltliche Beispiele vgl. man die Lit.angaben S. 164 Anm. 182 zur Kalenderdiskussion (die neuen Arbeiten von M. Albani sind zwar im Lit.verz. aufgeführt, aber nicht hier, wo sie hingehören, und sind, so weit ich sehe, auch sonst nirgends erwähnt) oder S. 193 Anm. 1+2 zur AssMos, wo mehr oder weniger Zufälliges aufgelistet ist, während die grundlegende Arbeit von J. Tromp, The Assumption of Moses. A Critical Edition with Commentary, SVTP 10, Leiden u. a. 1993, fehlt. Für das rabbinische Gesetzesverständnis, das überhaupt nur in zwei Anmerkungen vorkommt, verweist er auf F. Weber, Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften (1897!); die Arbeit von F. Avemarie, Tora und Leben. Untersuchung zur Heilsbedeutung der frühen rabbinischen Literatur (TSAJ 55, 1996), ist zwar im Lit.verz. genannt, taucht aber an den einschlägigen Stellen nicht auf.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Interesse des Autors liegt erkennbar in systematischen Fragestellungen (Gesetz und Erwählung, die Ermöglichung einer Gesetzesethik angesichts einer determinierten Heils- bzw. Unheilsgeschichte), die allerdings nirgends klar benannt werden und zudem stark, wenn auch unterschwellig und unreflektiert, von einem christlich-dogmatischen Fragehorizont her gestellt sind (was nicht an sich ein Problem darstellt). Besonders störend ist, dass H. beständig von einem unbedingten, radikalen oder absoluten Gehorsam in Bezug auf die Tora redet (besonders gehäuft 295, aber auch sonst das ganze Buch hindurch) und das Leben mit der Tora bzw. die Gesetzesfrömmigkeit als Gesetzlichkeit (113 u.ö.) bezeichnet. Das ist vom Autor zwar nicht abwertend gemeint, aber es ist der falsche Ausdruck für das, was er eigentlich sagen will und mindert dadurch den Wert seiner zahlreichen hilfreichen Beobachtungen.

Auch stilistisch ist er in der Wahl seiner Ausdrücke nicht immer glücklich. Da stellen sich Probleme erbarmungslos entgegen (54), Forschungspositionen verlangen nach einem Gegenschlag (56), sprechen sich selbst ihr Urteil und der Leser wird mit den verheerenden Auswirkungen solcher abgelehnten Meinungen konfrontiert, so dass er eingeschüchtert die Position des Autors einnimmt, hinter die unter keinen Umständen zurückgegangen werden darf (59).

Als Verdienst dieser Arbeit bleibt festzuhalten, dass sie auf den vielschichtigen und zu wenig beachteten Zusammenhang von Gesetz und Apokalyptik aufmerksam gemacht hat. Zukünftig nötig ist darüber hinausgehend eine präzise Bestimmung des Verhältnisses der mosaischen Sinaitora und der kosmologisch orientierten Ordnungsethik mancher Apokalypsen, allen voran äthHen. Weiter ist danach zu fragen, welche Bedeutung die Kalenderthematik, deren Verständnis durch die Arbeiten von Matthias Albani bedeutende Fortschritte gemacht hat, für das Gesetzesverständnis einzelner Schriften besitzt. Denkbar ist, dass am Kalender die Auseinandersetzung darüber geführt wurde, ob die natürlichen Ordnungen der Schöpfungswirklichkeit den normativen Rahmen des Gebotenen vorgeben, oder die Mose am Sinai offenbarte Tora und ihre halachische Wirkungsgeschichte. Zu klären wäre ferner, inwieweit eine primär an der Schöpfung orientierte Ordnungs-Theologie auch soteriologisch universaler dachte als die an die Mosetora gebundene (vgl. H.s Behauptung 112 u. ö.).

Bei der vielfach behaupteten Identifikation von Gesetz und Weisheit wäre zu fragen, welches Gesetzesverständnis ihr jeweils zu Grunde lag. Außerdem müsste, ausgehend von H.s Hinweisen auf diese Thematik, präzisiert werden, was mit Identifikation gemeint ist: bei IVEsr und syrBar ist die Weisheit (und auch das apokalyptische Sonderwissen) der mosaischen Tora integriert und durch diese bestimmt, während in der Henochüberlieferung und dem Jubiläenbuch eine Tendenz vorzuliegen scheint, die mosaische Tora durch die Vorordnung der kosmologischen Gesetzmäßigkeit zu relativieren. Es lohnt sich in jedem Fall, die Ansätze von G. Boccaccini (Beyond the Essene Hypothesis: The Parting of the Ways between Qumran and Henochic Judaism, 1998) und jetzt Andreas Bedenbender (Der Gott der Welt tritt auf den Sinai. Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik, 2000), nach denen ein henochitisch-vormosaisch orientiertes Judentum einem deuteronomistisch-pharisäischen gegenüber zu stellen ist, auch in diesem Zusammenhang weiter zu verfolgen. Die Arbeit von H. kann hierzu hilfreiche Anregungen geben und auf ungeklärte Fragehorizonte hinweisen, auch wenn sie in Durchführung und Ergebnis nicht völlig zu überzeugen vermag.