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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

577–580

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Tebartz-van Elst, Franz-Peter

Titel/Untertitel:

Gemeinde in mobiler Gesellschaft. Kontexte - Kriterien - Konkretionen.

Verlag:

Würzburg: Seelsorge Echter 1999. 815 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 38. Kart. DM 88,-. ISBN 3-429-02148-0.

Rezensent:

Leo Karrer

1. Das Thema Pfarrei bzw. Gemeinde mit seinen analytischen, theologischen und praktischen Aspekten füllt inzwischen wohl ganze Bibliotheken. Sind der akademischen Worte damit nicht genug gewechselt? So mag es erstaunen, dass Franz-Peter Tebartz-van Elst mit einem voluminösen Werk von 815 Seiten diese publizistische Fülle aufstockt.

Die Fragerichtung indes lässt aufhorchen, denn Gemeinde in mobiler Gesellschaft trifft auf die Herausforderungen, die sich aus der wachsenden Mobilität der Menschen ergeben und die eine vornehmlich territorial bestimmte Pfarrei vielfach überfordern. Der Vf. will in seiner Studie herausarbeiten, welche Gestaltungsebenen und Formen von Gemeinde in einer mobilen Gesellschaft aus einer Communio-Ekklesiologie und aus den kultursoziologischen Konditionen gewonnen werden können, "damit Kirche ihre Sendung in dieser offenen Gesellschaft ,glaubwürdig' leben und darstellen kann" (45), denn die Gemeinde soll aus der Gefangenschaft eines pastoralen Versorgungsdenkens befreit werden (44). Die Bedingungen des gemeindlichen Lebens gilt es somit in soziologischer, theologischer und in pastoral-praktischer Hinsicht zu bedenken und zu reflektieren. Damit ist schon die Grundstruktur der Arbeit - durchaus im Sinn der praktisch-theologischen Erkenntnisschritte: Sehen, Urteilen, Handeln - vorgegeben: Kontexte - Kriterien - Konzeptionen.

2. Im ersten großen Teil "Kontexte" (51-359) führt der Autor analytisch in die humanwissenschaftlichen Perspektiven der Mobilität ein, um damit die Spannung zwischen Mobilität und Stabilität aufzuweisen, am Beispiel der Stadt mit der komplizierten wie komplexen Organisation des modernen Lebens vertraut zu machen und das Phänomen Mobilität in seinen vielfältigen Aspekten zu systematisieren. Dabei werden die einschlägigen sozialwissenschaftlichen Forschungen zur Mobilität und ihrer Geschichte eingehend berücksichtigt.

In einem ersten Schritt werden die Kontexte von Mobilität phänomenologisch aufgezeigt, zuerst in der Spannung zwischen Mobilität und Stabilität und dann fokussiert auf mobile Lebenswelten im Kontext der Stadt. In einem zweiten Schritt wird das Phänomen Mobilität systematisch entfaltet und zwar entlang der vertikalen Mobilität (Auf- bzw. Abstieg), der horizontalen Mobilität (räumlich, politisch, beschäftigungsmäßig, in den Beziehungen religiös usw.) und der gesellschaftlichen Mobilität im Zusammenhang mit Lebensstilen, Politikstilen, Religionsstilen, Mentalitätsstilen. Es zeigte sich dabei, dass es die Rede von Mobilität mit äußerst komplexen wie individuellen Vorgängen zu tun hat, die jeweils wieder aufeinander verwiesen sind (263). Im dritten Schritt möchte der Autor der Frage nach religionsproduktiven Orten nachgehen und bemüht dafür soziologische Klärungsversuche, um die komplexen Standorte des Individuums zu erfassen, wie z. B. die Paradigmen der Individualisierung und Differenzierung (Luhmann), der System- und Lebenswelt (Habermas), Risikogesellschaft (Beck), der Multioptionsgesellschaft (P. Gross), der Erlebnisgesellschaft (Schulze) usw. Daran anschließend werden die Ambivalenzen der mobilen Lebenspraxis unter den Stichworten Entzauberung der Moderne, Entbettung aus ortsgebundenen Lebensbezügen, Entsolidarisierung und Einbettung in neue Stil- und Ortsbezüge thematisiert.

3. Im zweiten großen Teil "Kriterien" (391-602) ist nun im Anschluss an den soziologischen Befund die theologische Rechenschaft zur Sachproblematik beabsichtigt. Theologische und praktisch-theologische Erkenntnisse ergeben Hinweise zum Ort der Gemeinde in mobiler Gesellschaft. Der Vf. will keinem Soziologismus das Wort reden, erblickt aber in der von ihm betriebenen soziologischen Analyse "auch eine theologische Qualität" (363), die er im inkarnatorischen Prinzip des christlichen Glaubens verankert sieht.

Ein erster Zugang ergibt sich aus der pastoral-geschichtlichen Entwicklung, aus der sich Kriterien als Perspektiven für die heutigen Gehversuche der Gemeinden zwischen Stabilität und Mobilität herausdestillieren lassen. Dadurch wird eine argumentative Horizonterweiterung erreicht: Gemeindebildung kann auch aus pastoralgeschichtlichen Erwägungen (Lehren) heraus nicht gegen gesellschaftliche Entwicklungen und Differenzierungen durchgedrückt werden. Die Dichotomie von Mobilität und Stabilität ist eindeutig in der neutestamentlichen und antiken Phase der Kirchengeschichte auszumachen. Selbst unter den Voraussetzungen der seit der konstantinischen Wende einsetzenden volkskirchlichen Tendenzen gibt es auf der Ebene des Gemeindeortes ein hohes Maß an differenzierten und komplementären Formen, vor allem in den aufkommenden Städten. Seit dem Konzil von Trient ist eine starke Konzentration auf die Pfarrei als territorial-administrative Größe erfolgt, auch wenn es selbst dort noch Raum für personale Gemeindebildung gab. Selbst der im 19. Jh. einsetzende Vereinskatholizismus hat sich trotz aller Horizonterweiterung stark ins territorial-pfarreiliche Leben integriert.

Im Anschluss an die geschichtliche Vergewisserung geht es um die biblisch-systematische Orientierung, um damit zu "einer Kriteriologie zu finden, die in der gegenwärtigen Phase kirchlicher Übergangssituation zu primären Handlungsoptionen führt" (451). Schon neutestamentlich ist die Entwicklung von einem Nebeneinander unterschiedlicher theologisch reflektierter Kontexte feststellbar hin zu einem Miteinander unterschiedlicher Glaubens- und Gemeindeorte, bei der eine Vielfalt von Kirchen denkbar wird, weil Kirche primär als sakramentale Gemeinschaft mit der zentralen Bedeutung der Eucharistie verstanden wird und als Weggeschehen, das aus den situativen Kontexten heraus unterschiedliche Dynamiken freisetzt. Als weitere theologische Fährten, die eine Communio-Verortung im Plural denken lassen (601), werden die trinitätstheologische Sichtweise der Beziehungswirklichkeit als Quelle und Wesen christlich-kirchlicher communio differenziert, die eucharistisch-sakramentale Dimension der Kirche und das synodal-hierarchische Wesen als communio thematisiert. Communio als organisatorisches Prinzip von Gemeinde wird anhand der Grundfunktionen martyria, diakonia, liturgia und koinonia als Leitkriterien entwickelt.

Gleichsam als Brückenschlag zum folgenden dritten Teil wird unter dem Stichwort "Pastoraltheologische Implikationen" und im Anschluss an Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Würzburger Synode communio als pastoraltheologische Denkfigur für die konkrete Verortung von Kirche bzw. Gemeinde und zwar in der Spannung zwischen universaler Kirche und lokaler Gemeinde entfaltet. - Mit Bezug zu Ansätzen von K. Rahner und J. Ratzinger wird Kirche entscheidend als Ereignis definiert, das im eucharistischen Herrenmahl auf aktuellste und intensivste Weise zum Vollzuge kommt.

4. Mit den soziologischen und pastoralsoziologischen Analysen sowie mit den pastoral-theologischen Reflexionen ist eine äußerst breite Argumentationsgrundlage gegeben, die nun der Konkretisierung harrt, denn immerhin hat man sich durch 600 Seiten auf z. T. sehr abstraktem Niveau hindurchgearbeitet. Dies ist im dritten Teil "Konzeptionen" (603-755) beabsichtigt.

In der Perspektive der vertikalen Gemeindeverortungen werden nun Wege und Strukturen benannt, die erste praktische Handlungsansätze erkennen lassen sollen. Als Beispiel, wie unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen pastoral neue Wege sondiert und beschritten werden, dient die Pastoralreform in Frankreich als Konkretion einer Suchbewegung von Gemeinde in mobiler Gesellschaft. Strukturell werden das Bistum, die Gemeinden und Regionen als pastorale Handlungsfelder bei der Suche nach neuen Verortungsformen der Kirche in den Blick genommen. - In der horizontalen Perspektive thematisiert der Autor die Gemeindeverortung im Territorium (Stadt, Land, Diaspora) und im kategorialen Sinn (Themen, Rhythmen, Personen, Stile).

Von diesen vertikalen und horizontalen Verortungsaspekten her stellt sich die Frage nach dem System der Koordinierung dieser pluralen Knotenpunkte. Die Überlegungen gelten dem lokalen Netzwerk, das die unterschiedlichen Gemeindeverortungen sammelt. Gemeinde muss aber aus theologischen Gründen entscheidend auch sozusagen auf Sendung sein, weshalb für die vernetzten Communio-Orte nach deren Handlungsoptionen gefragt wird. "Die Ergebnisse zur soziologischen Erkundung der Lebensverortung des Individuums in der Spannung von Mobilität und Stabilität legen es nahe, fünf Kontexte zu identifizieren, in denen sich in modern-mobiler Gesellschaft Deutungs- und Verortungsbedarf auftut: Not, Kontraste, Biographie, Fest und Feier sowie Symbole" (696).

Zum Abschluss gelangt das umfassende uvre mit der Kriteriologie für eine pastoraltheologische Verortung von Gemeinde in mobiler Gesellschaft. Nach Meinung des Autors sollen diese Kriterien helfen, die in den gegebenen und auf dem Weg prospektiver Gemeindeentwicklung entstehenden neuen Spannungen und Antagonismen zu vermeiden und gleichzeitig produktives Spannungsgeschehen auszuloten. "An dieser Stelle will die Studie in die unmittelbare Praxis überleiten und Gemeinde wieder ,spannend' machen" (712). Als solche Auffindungs-Stichworte werden jeweils pastoralsoziologisch, pastoraltheologisch und pastoralpraktisch skizziert: Mobilität versus Stabilität, Offenheit versus Identität, individuelle Lebensverortung versus Communioverortung, punktuelle Glaubensverortung versus kontinuierliche Gemeindeverortung, Territorialität versus Kategorialität, Betreuung versus Mündigkeit, Pfarrei versus Gemeinde, Vielfalt versus Einheit, Sammlung versus Sendung.

5. Die Aktualität des von Tebartz-van Elst aufgegriffenen Themas ist offenkundig und von ihm in seiner Publikation auch breit, kenntnisreich und differenziert dokumentiert worden. Mit großem Interesse habe ich mich auf den Weg vor allem seiner humanwissenschaftlichen Ausführungen mitnehmen lassen. Interessant finde ich auch seine Systematisierung der verschiedenen Paradigmen der individuellen Kontexte von Mobilität, auch wenn sie inhaltlich schon ausführlich in praktisch-theologischen Publikationen thematisiert sind. Die gemeinde- bzw. pfarreigeschichtlichen Ausführungen ergänzen von einem aktuellen Problemfeld der heutigen Zeit ausgehend die Pfarreigeschichte, die ohnehin ein Stiefkind der Kirchengeschichte bzw. der Pastoralgeschichte darstellt. Die Überlegungen zu den Grundfunktionen und deren Verhältnis zur koinonia (communio) kann ich nur unterstreichen.

Verweisen möchte ich auch auf die Kriteriologie für eine pastoraltheologische Verortung von Gemeinde in mobiler Gesellschaft, wo für die Praxis bedenkenswerte Denkanstöße gegeben werden, auch wenn sie insgesamt eine hohe Fluglinie zwischen Theorie und Praxis markieren. Um des aktuellen Themas willen hätte ich eine knappere Fassung und eine konkretere "Verortung" (das Wort spielt doch im Duktus der Gedankenführung eine eminente Rolle) gewünscht. Man darf mit den hilfreichen Hinweisen auf die mobilitätsbedingten Herausforderungen nicht jene Probleme unterschlagen, die auf binnenkirchliche Ursachen zurückzuführen sind. Der Entscheidungsstau bleibt bestehen. Dadurch werden die Entscheidungsinstanzen in der Kirche geschont. Pfarrei ist ja ein multidimensionales Geschehen, bei dem der territoriale Aspekt einer unter mehreren ist. Die kirchlich-strukturellen Bedingungen bleiben analytisch und pastoralplanerisch ausgeblendet, so dass das Anliegen der communio doch recht "stromlinienförmig" in Blick gerät und die Realität in Kirche und Gesellschaft kaum Einspruchschancen erhält. Trotzdem bin ich für dieses mit viel wissenschaftlicher Aszese verfasste Buch dankbar. Es lenkt den Blick der Pastoral und der Pastoraltheologie auf unverzichtbare Aspekte beim Wagnis und Versuch, dem Anliegen der Kirche und ihrer Berufung gangbare Zukunftswege zu eröffnen.