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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

568–570

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Friedrichs, Lutz

Titel/Untertitel:

Autobiographie und Religion in der Spätmoderne. Biographische Suchbewegungen im Zeitalter transzendentaler Obdachlosigkeit.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 1999. 252 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 40. Kart. DM 58,-. ISBN 3-17-015755-8.

Rezensent:

Walter Sparn

Die aus dem Marburger Graduiertenkolleg "Religion in der Lebenswelt der Moderne" (K.-F. Daiber) hervorgegangene Dissertation betritt in der theologischen Literaturforschung insofern Neuland, als sie Texte von Wolfgang Koeppen (Jugend, 1976) und Peter Handke (Die Wiederholung, 1986) in ihrer pragmatisch-ästhetischen Dimension religionstheoretisch analysiert. Es werden nicht religionspsychologisch die religiösen Überzeugungen der Autoren erhoben, auch nicht religionssoziologisch die Fortdauer protestantischer oder katholischer Milieuprägungen, aber auch nicht bloß die in den Texten vorkommenden religiösen bzw. christlichen Sprachmuster. Vielmehr wird rezeptions- und wirkungsästhetisch nach der inneren, durch die Perspektiven des Erzählers, der Figuren, der Handlung und der markierten Leserfiktion gebildeten Textperspektivität gefragt, d. h. nach den "in die Textstruktur eingeschriebenen Wirkpotentiale[n] einer autobiographischen Erzählung" (67). Der Vf. nimmt Anregungen H. Schröers und der mit H. Luther einsetzenden theologischen (Auto-)Biographieforschung auf, um freilich jede Eintragung normativer Erwartungen ganz zu vermeiden zu Gunsten der im Textarrangement als solchem codierten Religiosität. Denn sie, nicht schon etwaige christliche Topik oder Konfessorik, stellen die eigentliche theologische Herausforderung dar. Der Vf. vermag diese These m. E. überzeugend darzutun.

Einleitend nennt A.1 die Zielsetzung der Untersuchung, begründet die Auswahl der Texte und charakterisiert die Vorgehensweise, nicht primär das ,Was', sondern das ,Wie' autobiographischer Kommunikation zu betrachten, also die Gesamtkompositionen wirkungsästhetisch zu analysieren (12 f.). A.2 gibt einen theologischen und literaturwissenschaftlichen Forschungsüberblick (13 ff.). Teil B (16-70) stellt dicht und umsichtig die theoretischen und methodischen Annahmen der Analyse heraus.

B.1 zeichnet ein Profil des autobiographischen Erzählens in der Spätmoderne als "Appell zur Selbsterkundung" anhand von Texten und Interpretationen aus dem deutschen Sprachraum (natürlich sind auch Ph. Lejeune oder R. Pascal vertreten): sein pragmatischer und dialogischer Charakter als Sprachhandlung (17 f.); sein in Diskontinuität und Fragmentarität erzählstrukturell sich äußernder Funktionswandel, d. h. die Veränderung im "Pakt" mit den Lesern auf Grund der Krise des Autobiographischen im 20. Jh. (19 ff.); seine "Akte des Fingierens" (W. Iser), die in Finden, Auffinden und Erfinden (P. Härtling) einen sinnstiftenden Zusammenhang aufbauen (27 ff.) - freilich in einer Pragmatik bzw. einem Appell zweiter Ordnung (19.31), der Sinnangebote durch mimetisches Abbilden gerade verweigert, vielmehr das poietische Potential der Leser zur Sinngebung anstiftet (30 f.). Die autobiographische "Schwebe zwischen Ganzheit und Fragment" versteht der Vf. als Kennzeichen der krisenhaften "Spätmoderne" (22); er entzieht sich zu Recht dem vereinfachenden Gegensatz von "Moderne" und "Postmoderne" (21 ff., 99, "Moderne" so 20.27.58.208 u. ö.). Die kommunikative Struktur der Autobiographie als "ästhetisch-symbolische Konstruktion" (27) bestimmt B.2 (32 ff.) in seiner religiösen Dimension. Fraglos, dass der (Nicht-)Gebrauch des Wortes "Gott" darüber nichts sagt; auch "Religion" ist bei den gewählten und anderen Autoren kaum präsent. Es ist, wie der Vf. an H.-E. Bahr und D. Sölles Begriff der "Realisation" anknüpfend sagt, das eben Ästhetische in seiner kommunikativen Plausibilität "die zentrale Vermittlungsform des Absoluten" (37). Hier darf nach "Religion" nicht gegenständlich, sondern muss, wegen ihrer ästhetisch-weltlichen Formen, funktional gefragt werden; mit P. Tillich danach, "was unbedingt angeht" (42). Ob Religion als "biographische Tiefendimension" in der "expressiven Profanität" wirklich präsent ist und worin sie, nach Säkularisierung, aber auch Scheitern autonomer Subjekthaftigkeit (47 ff.) inhaltlich besteht, muss in der Expression selbst nachgewiesen werden. Das erfordert die hermeneutische Rekonstruktion der "in der autobiographischen Erzähltextstruktur eingeschriebenen Aktstruktur ihrer Lektüre" (52) im Zusammenspiel der biographischen Welt (Thema), der ästhetischen Form (Erzählstruktur) und, über Tillichs Stiltheorie (45 f.) hinaus, des Entstehungskontextes (des Erwartungshorizontes, 52 ff.).

B.3 stellt hierfür das methodische Instrumentarium vor, im Anschluss an die von W. Iser, H. R. Jauß u. a. ausgearbeitete pragmatische Theorie ästhetischer Wirkung (57 ff.). Sie hebt auf das Generieren von Bedeutung im Leseakt ab, d. h. auf die Kommunikation des illokutionären Sprechaktes "Text" mit den in ihm implizierten Lesern, die nämlich provoziert werden durch Unbestimmtheiten, Leerstellen, Zwischenräume und "Entpragmatisierung", d. h. durch Verflüssigung konventioneller Erwartungshaltungen und Brechung geltender Normen (62 f.69 f.). Ziel ist "die hermeneutische Rekonstruktion des impliziten Lesers als der je spezifischen Leserrollenanforderung einer autobiographischen Erzählung" (66). Hier, in seiner literarischen Kommunikation als solcher, steckt die einem Text gegebenenfalls eingeschriebene Religiosität.

C (71-203) eruiert auf dieser Grundlage die religiöse Dimension der Autobiographien Koeppens (71 ff.) und Handkes (123ff.) in gründlicher Kenntnis auch ihrer übrigen Texte und mündlicher Äußerungen sowie der Forschungslagen ("Zwischen Sinnkonstruktion und Sinndekonstruktion", 75 ff.; "Zwischen neoromantischer Kunstreligion und postmoderner Mystik", 130ff.). Die Analysen konzentrieren sich jeweils auf die Eingangssequenz, die autobiographische Kommunikation, auf thematische Konstellationen, die Komposition des "Lebensgefühls" und die explizit religiöse Sprache und Motivik in der erzählten Welt, in der Erzählwelt und in der literarischen Kommunikation. Diese Bausteine ergeben die über die lebensweltlichen und speziell kirchlichen Bezüge und über das in Anspruch genommene religiöse und biblische Deutepotential hinausgehende religiöse Dimension. In "Jugend" wird die Schwebe zwischen Fragment und Ganzheit im Modus der Klage aufgebaut, allerdings i. U. zu dem von Koeppen aufgerufenen Hiob: einer gebrochenen Klage, die einen letzten Lebenssinn ebenso destruiert wie ästhetisch beschwört. Hier ist, in radikalem, biographische Zentralperspektivik verunmöglichendem Zweifel, das Fragmentarische offen auf Ganzheit hin (116ff.). Gegenläufig hierzu lässt "Die Wiederholung" und ihre zentralperspektivische Epik deren Fragilität ebenso radikal zu und spielt ein "einsames" und "wildes Erzählspiel" im Modus des gebrochenen Lobs - "Ich bin einverstanden, geboren zu sein" (192 ff.).

Diese Charakterisierungen sind auch im Einzelnen gut begründet. Im besonders schwierigen Fall des Textes von Handke, der verquaste mystische Initiation oder reaktionäre religiöse Observanz ("Prozession", "Bildstock" usw.) zu signalisieren scheint, begründet der Vf. überzeugend, dass dieser eine "archaisch-moderne Augenblicksreligion" verschlüsselt, die z. B. in Gestalt der "Bundeslade" das Archaische radikal ästhetisiert und subjektiviert und es material in einer "modern-säkularen Schriftreligion" überschreitet (179 f.189). Hier, wie auch in dem (auf seine Weise schwierig zu interpretierenden) Text Koeppens wird im Zusammenspiel von Thema, Erzählstruktur und Erwartungshorizont eine religiöse ,Botschaft' erkennbar (der Vf. gebraucht dies meist durch die Trennung von Inhalt und Form verdorbene Wort klugerweise nicht!), die die Leser weder über etwas (und sei es Gott) belehrt, noch zu etwas ermahnt (und sei es das Gute), sondern als Expressivität eines Lebensgefühls, das sie zu sinnvergewissernder Teilnahme anstiftet, nämlich zu einer selbsterkundenden Lektüre, die "von identifikatorischer Nähe wie Distanz zugleich bestimmt ist" (195). Dies ist möglich, weil die Texte den "autobiographischen Pakt" mit dem Leser nicht auf der Ebene des inhaltlich Referentiellen, sondern auf der Ebene des suchenden und versuchenden Fiktionalen schließen, auf der Ebene des Schreibens und Erzählens als solchem. Denn nur die Teilnahme am "Spiel des Spiels" ermöglicht die - literarisch-religiös allein angemessene - assoziativ-ironische Identifikation zweiter, gebrochener Ordnungen (92.101.121 f.173.198 f.).

Die theologische Herausforderung dieses Befundes macht D (204-226) unter dem an Handke (124.189) bzw. W. Weiss (56) angelehnten Titel "Psalmodieren vor leerer Transzendenz" namhaft. D.1 kritisiert das ästhetische Defizit der neueren theologischen Autobiographieforschung, die immer noch inhaltliche (dogmatische) Erwartungen eintrage (W. Gräb, W. Sparn, H. Rosenau, F. Schweitzer). Eine solche Projektion dürfte evangelikale Autoren (C. P. Thiede u. a., 14 u. ö.) kennzeichnen, aber der Vf. sieht die Genannten m. E. zu nahe an der Verdrängung der religiösen Erfahrung und ihrer (krisenhaften!) Subjektperspektive durch die Dialektische Theologie (205 f.219; vgl. aber 208 A.19 oder "Grundentscheidung" 16.211). Die spätmoderne Autobiographik würdigt D.2 in ihrer seismographischen Rolle für die gegenwärtigen Kommunikationsbedingungen für Religion und in ihrem prophetischen Profil (208 ff.): ihr theokritischer Grundzug; ihr sprachkritischer Weltbezug, der, ohne selbst sich religiös oder christlich zu verstehen, Lebensgeschichte in einer Weise konstruiert, die deutliche biblische Entsprechungen hat (210 ff.; rechtfertigungstheologisch nur beiläufig identifiziert, 205.207); ihr mythopoetisches Erkunden der biographischen Tiefenschicht, in welchem literarische Fiktion nicht als Gegensatz zum ,Realen', sondern als wirklichkeitsvertiefendes Imaginäres zum Tragen kommt (215 ff., gegen K.-J. Kuschel, mit W. Pannenberg!); ihre einer Haggadah ähnliche, subjektive Aneignung nicht nur von Mythos und Märchen, sondern auch von religiösen und biblischen Traditionen, v. a. Schöpfung, Moses (217 ff.).

Dies wird D.3 an den expressiven Kommunikationsformen von Klage und Lob verdeutlicht (220 ff.). Koeppens und Handkes Autobiographien thematisieren die Frage nach Herkunft bzw. Heimat als letztangehende Themen, d. h. religiös, und in ihrer Eigenschaft als individuelle Mythisierungen, mythisch-religiös (219, vgl. 52.55 f., 202). Aber sie rekurrieren nicht auf "Gott" als letzte Sinninstanz, sondern lassen in je spezifischer Weise diese Stelle der Transzendenz unbesetzt; sie sind, wie der moderne Roman nach G. Lukács, "Ausdruck transzendentaler Obdachlosigkeit" (220; vgl. 213 A.42). Die "ironische" Freiheit des Dichters Gott gegenüber ist hier - spätmodern- jedoch in der Form wirksam, dass die "leere Immanenz" zugleich magisch-mythisch und reflexiv-argumentativ transzendiert wird, in einer "Sprachmagie zweiter, sich selbst entlarvender Ordnung" (222). Deshalb räumt der Vf. zwar die Problematik der mythopoetischen Entgeschichtlichung der Biographie in "Raum und Rondo" (Koeppen) bzw. "Kindheitslandschaft" (Handke) ein (219), sieht aber die Klage, die das Bedürfnis nach Ganzheit nicht abbricht, vor bloßer Weinerlichkeit, und das gebrochene Lob der "lieben Welt" vor zynischem Schönreden geschützt. Gerade weil das Klagen keinen Zielpunkt, das Loben keinen Haftpunkt behauptet, halten sie die Gottesfrage in der Art der theologia negativa offen: "heilige Leere" (224; vgl. 207).

Ist dieser Tillichsche Ausdruck nicht schon zu stark? Der Vf. bräuchte seine Interpretation nicht als "theonom" (225; 43 ff. 204 ff.) zu positivieren und die analysierten Autobiographien "auf dem Weg" (der Grundoffenbarung) zu sehen (226) - auf dem Weg wohin? Die Gegenkritik an A. Grözingers Tillich-Kritik (44 f.225) überzeugt mich nicht (und ich selbst fühle mich in der Metapher von der autobiographischen "Autorschaft" Gottes zentralperspektivisch missverstanden - eine "Hörer-" oder "Leserschaft" ist da eingeschlossen, 223 f.). Überzeugend gelungen ist jedoch der Nachweis, dass Koeppen und Handke ("das expressiv-melancholische Erzählen der ,Leere', nicht ohne eine Vorstellung, was die ,Fülle' ist [Koeppen], und das expressiv-beschwörende Erzählen der ,Fülle', nicht ohne deren Unerfüllbarkeit zu sehen" [Handke], 225) literarische Kommunikation zur religiösen machen, nämlich die Leser in Klage und Lob zur eigenen autobiographischen Expedition provozieren.

Das Buch, mit Vorblicken und Zusammenfassungen leserfreundlich geschrieben, enthält vier Literaturverzeichnisse: Autobiographien des 19. und 20. Jh.s, primäre und sekundäre Literatur zu beiden Autoren (einschließlich Interviews bzw. Rezensionen) sowie literaturwissenschaftliche, religionstheoretische und theologische Literatur (227-252); ein Register fehlt leider. Formale Fehler sind selten ("Kontrafraktur" 167.209).