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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

980–983

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Berger, Klaus

Titel/Untertitel:

Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums.

Verlag:

Stuttgart: Quell 1997. 312 s, gr.8. geb. DM 48,-. ISBN 3-7918-1434-6.

Rezensent:

Ingo Broer

Das Buch umfaßt vier Teile. I Einführung, in der die klassisch gewordenen Gründe für die Spätdatierung des Joh dargelegt und erste Traditionen angeführt werden, die diese in Frage stellen. II behandelt Einleitungsfragen, natürlich mit einem Schwergewicht auf der Datierung. Im umfangreichen Teil III werden theologische Themen behandelt, z. B. Präexistenz, Menschensohn-Christologie, die p joh Wunder usw., Teil IV geht den Beziehungen zwischen dem Joh und anderen neutestamentlichen Dokumenten nach. Der Ausblick nimmt die Eingangsfrage noch einmal auf: "Muß die Jesusüberlieferung neu gedeutet werden?"

Gewinnt man von daher den Eindruck, ein klassisches Werk zu einem Evangelium vor sich zu haben, das nach den sogenannten Einleitungsfragen die Theologie des Evangelisten erhebt und sodann auch noch nach dessen Wirken in der Umgebung fragt, so ist dieser Eindruck nur teilweise richtig, denn es folgen zwar durchaus diese Schritte hintereinander, aber auch in den die Theologie beschreibenden Passagen finden sich immer wieder Abschnitte, die darauf hinweisen, daß die hier vorliegenden Vorstellungen alt oder jedenfalls nicht nach-synoptisch o. ä. sind. Da also die Titelformulierung wirklich die Perspektive des Gesamtwerkes bestimmt, sei das Werk auch primär unter dieser Perspektive dargestellt, wobei naturgemäß gerade angesichts der vielen kleinen Schritte, die B. geht, vieles außer acht gelassen werden muß. Welche Gründe bestimmen B., das Joh in den Jahren 67-70 abgefaßt sein zu lassen?

Die klassischen Argumente für die Spätdatierung treffen nach B. ebensowenig die Sache wie die Argumentation mit der hohen Christologie und den Anspielungen auf das AT und/oder die Synoptiker, denn hohe Christologie findet sich ja auch schon bei Paulus und Steigerung der Wundermacht ist auch bei den Synoptikern auf dem Hintergrund des AT zu verzeichnen. Die "Anspielungsmanie" wird aufgrund nichtzutreffender Voraussetzungen abgelehnt. Das Gleiche gilt für literarkritische Scheidungen in Joh 3.5-7 und 20-21. Die solcher Scheidung zugrundeliegenden Textprobleme werden mit der Wiederaufnahmetechnik des Evangelisten begründet. Das Nebeneinander zweier Eschatologien in Joh hat darin seinen Grund, daß der Evangelist zwischen dem ",Leben’ jetzt" und der ",Auferstehung’ dann" unterscheidet. Auch gibt es das von den Kritikern monierte Nebeneinander von Gabe des Lebens schon jetzt und der zukünftigen Auferstehung bereits in Röm 6. Ein literarkritischer Schnitt erübrigt sich so auch bei den eschatologischen Aussagen. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung ist nach B. im Joh durchaus mit authentischen Jesustraditionen zu rechnen, denn was die Syn "quasi-historisch" zu erreichen versuchen, das versucht das Joh "christologisch und pneumatologisch". Weder bei den Synoptikern noch im Joh ist Authentizität oder deren Gegenteil zu beweisen, gleichwohl ist im Joh mit "Felsgestein von Überlieferungen, die sehr alt sein müssen", zu rechnen. Ein solcher Fall liegt z. B. in Joh 9,35 ff. par Q=Lk 12,10 vor: "Joh 9 bietet ein Stadium der Diskussion über die Sünde gegen den Menschensohn, das von der Überlieferung der Logienquelle vorausgesetzt und interpretiert wird. Der umgekehrte Vorgang ist nicht vorstellbar" (32, im Original kursiv). Was die Kriterien nach echten Jesusworten angeht, so lassen sich weder aufgrund verschobener Interessenlage noch mit Hilfe der Parusieverzögerung oder gar des Differenzkriteriums echte Jesusworte erkennen, weil es zu allem und jedem im Judentum und in hellenistischer Umwelt Parallelen gibt. Das Kriterium der "historischen Kontextplausibilität" (Theißen/ Merz) ist abzulehnen, denn es "scheitert bei jeder denkbaren Anwendung". Es kann z. B. nicht ausgeschlossen werden, daß Jesus Mk 7,15 gesprochen hat. Auch Nähe zum Judentum besagt gar nichts. "Alles Jesuanische ist sowohl jüdisch als auch ganz neu." Im übrigen ortet B. hinter der Frage nach echten Jesusworten "ein pseudoreligiöses Sicherheitsbedürfnis" und einen verkappten "Kanon der Interpretation". Die Exegeten täten besser daran, "die Schrift vor jeder ideologischen Vereinahmung zu schützen". Auch die titularen christologischen Aussagen sind vorösterlich - es hat sich nirgendwo eine "Erinnerung daran erhalten, daß man eben erst nach Ostern und aufgrund von Ostern zu der entscheidenden Ansicht gelangt ist". Nachösterliche neue Erkenntnisse sind zuzugeben, aber sie beziehen sich nicht auf die Christologie.

Der Verfasser ist B. zufolge seiner Herkunft nach Alexandriner und hatte "Kontakt mit den Christen in Palästina", vielleicht in Damaskus, ist also via Palästina nach Kleinasien und vielleicht auch wieder zurück nach Alexandria gekommen.

Für alexandrinische Herkunft und die Nähe zu Damaskus wird ein Bündel von Argumenten angeführt, u. a. daß der Evangelist selbst die Logos-Vorstellung in die christliche Tradition vom Schöpfungsmittler eingebracht hat, daß Analogien zu den Ich-Bin-Sätzen nur im griechisch-sprachigen Alexandria vorhanden sind, der joh Dualismus Anlehnung des Joh an Philos In Flaccum sei und das joh "Bleiben" sich auch dem alexandrinischen Platonismus verdankt. Für Damaskus werden angeführt: Die Bedeutung der Taufe dort und im Joh, die Selbstbezeichnung der Gemeinde von Damaskus als "der Weg" Apg 9,2 und die Selbstbezeichnung Jesu als der Weg im Joh, die Bedeutung des Titels Sohn Gottes in Damaskus und im Joh. Schließlich erinnere die Verknüpfung von Blindenheilung und Bekenntnis in Joh 9 an die Heilung des blinden Paulus nach seiner Bekehrung in Apg 9. Auch entspreche die Wertschätzung der Taufe des Paulus in Apg der Wertschätzung der Taufe im Joh.

Was die Adressaten des Joh angeht, so verfolgt der Evangelist ein integratives Ziel, er will versprengte Judenchristen ohne eigenen Namen und ohne eigene kirchliche Identität und Organisation, die aus den im Joh erwähnten Gruppen bestehen (Täuferjünger, christl. Pharisäer, christl. Samaritaner usw.) und über die wir sonst allenfalls rudimentäre Kenntnisse haben, mit Hilfe seines Evangeliums sammeln.

Diese Gruppen befinden sich offensichtlich noch in einem Frühstadium: "Noch gibt es Täuferjünger, noch gehören samaritanische Christen nicht zum ,Kirchenverband’, noch ist Petrus nicht ,der’ alleinige Träger der Jesus-Traditionen und vor allem des frühen Bekenntnisses geworden". Daher ist eine späte Entstehung des Joh ausgeschlossen. Die Auseinandersetzung mit den Juden ist keineswegs spät, sondern spiegelt ein frühes Stadium wie in Q, die Nichterwähnung der Tempelzerstörung weist in dieselbe Richtung. Da Petrus und der Lieblingsjünger bereits gestorben sind, dürfte das Joh "zwischen 67 und 70 n. Chr. entstanden sein". Dafür spricht auch, daß das Joh im Gegensatz zu den Synoptikern und Paulus, dessen älteste Briefe bereits "regelrecht hierarchische Strukturen in der Gemeinde erkennen lassen", nichts Entsprechendes kennt. Der Lieblingjünger ist mit Andreas identisch. Daß der Evangelist diese Identifikation nicht ausdrücklich vornimmt, hängt mit dem Charakter des Werkes als "Insider-Evangelium" zusammen. Eine Konkurrenz zwischen Lieblingsjünger und Petrus besteht nicht, und angesichts der Einheitlichkeit des Evangeliums ist davon auszugehen, daß die Leser um die Identität des Lieblingsjüngers wußten oder sie durch die Lektüre des Werkes herstellen konnten. Im übrigen ist auch "Philippus ein noch lebender Garant der (sc. joh) Überlieferungen über Jesus" und könnte der aus Alexandrien stammende Autor des Evangeliums sein. Joh 21 kann B. sich nicht als nach Mt 16,18 f. entstanden denken, denn "für das JohEv sind Erwählung und intime Nähe zum Herrn und Leitungsfunktion für die Gemeinde zwei verschiedene Dinge".

Diese Sicht auf das 4. Evangelium bestätigt auch die Theologie des Joh, denn hier erweisen sich viele Themen, wenn man nur richtig hinsieht, als früh und keinesfalls nachsynoptisch. So ist z. B. der joh Gebrauch des Menschensohn-Titels von Ez her im Sinne eines prophetischen Gesandten zu erklären und genuin im Judentum verankert. Evtl. ist die joh Theologie hier älter als die syn Menschensohnkonzeption. "Reinheit ist für das JohEv nach wie vor zentral, darum fehlen auch im Unterschied zum MkEv Reinheitsdebatten mit den Pharisäern. In diesem Punkt haben sie den Christen nichts vorzuwerfen." Auch die Parakletvorstellung hat mit den übrigen Geistkonzeptionen des NT wenig gemeinsam und enthält alte Elemente. Das Gleiche gilt für die Präexistenzvorstellung, die deswegen keineswegs spät sein muß. Die "Ich-Bin"-Formeln des Joh sind in der neueren Exegese systematisch theologisch überfrachtet worden. Das "Ich bin" signalisiert von sich aus keineswegs hohe und damit späte Christologie. Auch die Fußwaschung basiert auf alter Tradition. Der Evangelist "kennt noch keine Deutung des Todes Jesu im Sinne des stellvertretenden Todes zur Beseitigung der Sünden. Formeln wie 1 Kor 15,3 ... haben den vierten Evangelisten noch nicht erreicht".

Das Buch zeugt wie alle Bücher B.s von einer umfassenden Kenntnis der das NT umgebenden Literatur, weist in nicht unerheblichem Maße Überschneidungen mit anderen Werken B.s auf, stellt sich bewußt in Widerspruch zum mainstream der Exegese des Joh, spart nicht mit Kritik an diesem und ist teilweise auch polemisch. Den bereits zitierten Satz "Dieses Kriterium scheitert bei jeder denkbaren Anwendung" (42) näher zu kennzeichnen, scheut sich der Rez. Insofern ist eine faire Wertung nicht ganz leicht. - So lange Exegese Wissenschaft sein will, muß sie für die Überprüfung alter und eingefahrener Denkgewohnheiten plädieren. Insofern die B.sche Argumentation die Spätdatierer zur Überprüfung ihrer Argumente zwingt, muß man B. dafür dankbar sein. Aber ob die Gründe das Argument tragen, scheint mir nicht so sicher wie B. Insofern darf man auf die detaillierte Reaktion der angesprochenen Joh-Zunft gespannt sein. Die Argumente B.s können hier natürlich nicht vollständig geprüft werden, aber einige Fragen sollen doch angerissen werden.

B. wirft der Zunft vor, sie denke nach dem Schema hoch/entwickelt, ergo spät (z. B. bei der Christologie). Ist das von B. häufig angewandte Denkschema: kommt bei Joh nicht vor, ergo ist es ihm unbekannt und gab es das auch zu seiner Zeit noch nicht, wesentlich besser? Zumal auch umgekehrt argumentiert werden kann: Reinheitsprobleme spielen keine Rolle, also war man in dieser Hinsicht jüdisch. Es gibt Verläufe innerhalb des NT, die in sich relativ schlüssig und nicht einfach umkehrbar sind (vgl. für den historischen Jesus dazu Bergers Jesusbuch S. 35), dazu gehört die Behandlung der Taufe Jesu bei Mk, Mt und Joh und die sog. Malchus-Episode. Wie man dagegen mit der Überlegung ankommen will, bei den Syn werde die Taufe Jesu erzählt, um die christliche Wassertaufe zu begründen, scheint mir schwierig zu sein, weil Markus eine christliche Taufe nicht erwähnt (gab es sie also zu seiner Zeit/in seiner Gemeinde noch nicht?), v. a. aber weil Matthäus bei seiner Erwähnung des Taufbefehls keine Verbindung zur Taufe Jesu aufzeigt. Auch spiegelt der Prolog des Joh doch deutlich Anschauungen über den Täufer, die der Evangelist nicht teilt und ausdrücklich korrigiert. Insofern ist die verhüllte Aussage über Jesu Taufe durch den Täufer in Joh 1,33 f. m. E. immer noch am besten als ein entwickeltes Stadium der Tradition zu verstehen, das auf Schwierigkeiten zwischen Jesus- und Johannesanhängern zurückgeht. Aber daß man daraus noch nicht zwingend auf eine Abfassung um 100 kommt, ist bekannt. Auch die Charakterisierung des Joh als Insider- und integratives Evangelium zugleich, dessen Leser möglicherweise auch noch die Identität des Lieblingsjüngers mit Andreas kannten, ist nicht leicht nachzuvollziehen. Wenn die gegenwärtig zunehmende Tendenz, im Judentum zur Zeit Jesu alles für möglich zu halten und so dem historischen Jesus sogar den Satz von Mk 7,15 zuzutrauen, weiter zunimmt, wird man zwar mit einigen im Verruch des Antijudaismus (zu dem sich bei B. im übrigen Erhellendes findet) stehenden ntl Stellen etwas leichter fertig werden, aber um den Preis, daß man den Tod Jesu überhaupt nicht mehr oder allenfalls als rein machtpolisches Kalkül erklären kann.

Wenn B. hinter dem Versuch zwischen echten und unechten Jesusworten zu unterscheiden, "ein pseudo-religiöses Sicherheitsbedürfnis" vermutet, so macht er sich m. E. die Dinge nicht nur ein bißchen zu leicht. Es gehört doch einfach zu den Binsenweisheiten neutestamentlicher Exegese, daß die historische Rückfrage nicht in der Lage ist, dem Glauben einen zuverlässigen Stand zu geben. Die Phase der liberalen Leben-Jesu-Forschung ist nun einmal lange vorbei und auch B.s "Gegner" kennen ihren Lessing! Was er an dessen Stelle setzen will, ist dem Rez. nicht klar geworden. Seine Sympathie kann doch wohl kaum den Verhältnissen gelten, wie er sie bis zur Aufklärung beschreibt: "Das, was gelten soll, wählt die Kirche in ihrer jeweiligen Verkündigung aus dem Kanon aus. Nur eine starke kirchliche Autorität konnte sich den Kanon der vier Evangelien leisten".