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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

553 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Seidel, Thomas A. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Thüringer Gratwanderungen. Beiträge zur fünfundsiebzigjährigen Geschichte der evangelischen Landeskirche Thüringens. Hrsg. im Auftrag der Evang. Akademie Thüringen und der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte e. V. Bearb. von D. Wiegand.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1998. 326 S. gr.8 = Herbergen der Christenheit, Sonderbd. 3. Kart. DM 24,80. ISBN 3-374-01699-5.

Rezensent:

Norbert Friedrich

Die kirchlichen Verhältnisse in Thüringen waren lange Zeit, gerade wenn man ,von außen', etwa aus preußischer Perspektive schaut, ausgesprochen komplex und heterogen. Die verschiedenen kleineren Territorialkirchen wurden, parallel zu staatlichen Entwicklungen nach der Novemberrevolution im Jahr 1921 zur Thüringer evangelischen Kirche zusammengeführt. Mit der Gründung begann eine wechselvolle Geschichte, die von Zeitzeugen und kritischen Betrachtern häufig wegen exzeptioneller Entwicklungen mit Attributen wie "Thüringer Weg" o. ä. beschrieben wurden.

Der vorliegende Band, der in seinem Kern eine Tagung zum gleichnamigen Thema dokumentiert, versucht nun, diese wechselvolle Geschichte der Thüringer Landeskirche zwischen Diktaturen und Demokratie mit Hilfe verschiedener Aufsätze zu problematisieren. Die einzelnen Beiträge sind chronologisch angeordnet, sie behandeln die Zeit der Weimarer Republik ("Eine Heimat evangelischer Freiheit und Duldsamkeit", 14-77), die NS-Zeit ("Gleichschaltung und Kirchenkampf", 78-163) sowie die ersten Jahre nach 1945 ("Im Übergang der Diktaturen", 164-221). Ergänzt werden diese Beiträge noch durch zwei "zeithistorische Dokumente", eine Darstellung der Thüringer Kirchengeschichte von 1918-1933 von Georg Witzmann aus dem Jahr 1934 und persönliche Erinnerungen des damaligen Dorfpfarrers und späteren Kirchenrates Günther Zahn an die Jahre 1933-1945. Eine Übersicht über Thüringer Archivbestände zur Geschichte der Deutschen Christen und ausführliche Register schließen den sorgfältig bearbeiteten und mit Fotos ergänzten Band ab.

Vom Umfang und von der Zahl der Beiträge nimmt dabei die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einen zentralen Platz ein. Die auch in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren durchaus kontrovers diskutierte Stellung der Thüringer Landeskirche bzw. einzelner Vertreter der Landeskirche zum Staat, steht dagegen nicht im Mittelpunkt des Bandes, hier zeigt sich der ansonsten durchaus urteilsfreudige Band ausgesprochen zurückhaltend.

Drei Beiträge beschäftigen sich mit der Weimarer Republik. Beate Schreier gibt zunächst einen sachkundigen Überblick über die Entstehung und die Geschichte der Landeskirche in einem schwierigen Umfeld. Die in ihrer Grundausrichtung liberale Landeskirche sah sich zunächst einer antikirchlichen Politik einer Linksregierung gegenüber, Schulfragen und Probleme der Finanzierung der Kirchen entwickelten sich zu großen Konfliktfeldern. In der Endphase der Weimarer Republik, als die NSDAP in Thüringen mitregierte, wandten sich viele Pfarrer und Kirchenmitglieder der NSDAP und den Deutschen Christen zu. Schreier gelingt es, die Heterogenität der Landeskirche, den Niedergang des theologischen Liberalismus, die Anfälligkeiten aber auch die Widerständigkeiten gegenüber antidemokratischen, die Freiheit der Kirche einschränkende Bewegungen zu schildern.

Die beiden anderen Beiträge behandeln Einzelfragen. Dietmar Wiegand schildert minutiös und ausführlich auf der Grundlage umfangreicher Archivstudien die Anfänge kirchlicher Sozialarbeit innerhalb der Thüringer Landeskirche, die, anders als in anderen Kirchen, eine besondere Nähe zur liberalen Theologie aufwies. Reinhard Creutzburg skizziert die Geschichte der Religiösen Sozialisten, die in Thüringen besonders aktiv waren, auch im frühen Kampf gegen die Nationalsozialisten.

Der zweite Teil des Buches weist einen ähnlichen Aufbau auf. Zunächst gibt Ernst Koch einen knappen Überblick über die kirchenpolitischen Ereignisse zwischen 1933 und 1939. Daran schließen sich vier Einzelstudien an, über die Theologische Fakultät Jena (Tobias Schäfer), über das deutschchristliche Gesangbuch "Großer Gott wir loben dich" von 1941 (Birgit Gregor), über die religionspädagogischen Überlegungen des deutschen Christen Wilhelm Bauer (Oliver Arnhold) und schließlich über die Thüringer Kirche vor der "Judenfrage" (Ralf Meister-Karanikas). Diese Studien beleuchten dabei zwar spezifische, mit der kirchlichen und politischen Situation Thüringens verbundene Ereignisse, sie liefern aber zugleich wichtige Informationen, besonders über die Deutschen Christen.

Der dritte Teil des Buches weicht vom vorgegebenen Muster ab. Nicht eine Skizze der kirchlichen Entwicklung von den Nachkriegsjahren bis 1989 steht am Anfang sondern eine Studie zur verfassungsrechtlichen Neuordnung der Thüringer Kirche zwischen 1945 und 1951 (Thomas A. Seidel). Eine wichtige Studie zum Thema Kirche und Öffentlichkeit in der DDR liefert schließlich Susanne Böhm, die die Geschichte der Evangelischen Akademie Thüringens bis zum Ende der fünfziger Jahre nachzeichnet. Der dritte Beitrag hat demgegenüber einen anderen Charakter. Christoph Markschies macht vorsichtige "kirchenhistorische und systematisch-theologische Bemerkungen zur Diskussion über den "Thüringer Weg". Dieser Beitrag, der auf der Grundlage einer Podiumsdiskussion mit Zeitzeugen entstanden ist, macht nicht nur die Probleme einer politisch-theologischen Urteilsfindung deutlich, er erinnert zugleich an die Bedeutung einer sorgfältigen und kritischen Geschichtsschreibung. Nach Markschies braucht es für den "Umgang mit Schuld in Kirche und Theologie" "Zeit, Geduld und ein gerütteltes Maß an historischen Kenntnissen und historischer, philosophischer und theologischer Methodik."

Der vorliegende Band erweitert ohne Zweifel unsere historischen Kenntnisse der Kirchengeschichte Thüringens im 20. Jh. Dies gilt besonders für die Einzelstudien. Da aber auf eine systematisierende, die verschiedenen dargestellten Ergebnisse zusammenfassende Darstellung verzichtet worden ist und der durchaus gewinnbringend benutzte Begriff der "Gratwanderungen" nur in der knappen Einleitung problematisiert wird, bleiben zentrale Fragen letztlich doch offen. Das Problem eines differenzierenden Systemvergleichs, welches sich durch die Anlage durchaus nahe legt, wird so weitgehend ausgeklammert.