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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

550–552

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Schmid, Josef

Titel/Untertitel:

Kirchen, Staat und Politik in Dresden zwischen 1975 und 1989.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 1998. 521 S. gr.8. = Geschichte und Politik in Sachsen, 7. Geb. DM 128,-. ISBN 3-412-11497-9.

Rezensent:

Friedemann Stengel

Von wenigen, vor allem in jüngster Zeit erschienenen Untersuchungen1 abgesehen, blieb die regionalgeschichtliche Perspektive im umfangreichen Gesamtbereich der Forschungen zu den DDR-Kirchen bisher vernachlässigt. Die vorliegende Hamburger geschichtswissenschaftliche Dissertation von Josef Schmid scheint diesen Mangel zu beheben: Sie wendet sich mit Dresden einem der für die jüngste DDR-Kirchengeschichte etwa neben Berlin, Leipzig oder auch Jena bedeutenden Ort zu, von dem immer wieder Anstöße ausgingen, die für die kirchenpolitische Situation in der gesamten DDR maßgeblich waren. Die sächsische Metropole bot sich außerdem in ökumenischer Hinsicht an, weil sich hier die Kirchenleitungen der größten evangelischen Landeskirche der DDR und des Bistums Dresden-Meißen befinden. Die vorliegende Studie will vor allem dem Verhältnis zwischen "sozialethisch engagierten Gruppen" und Kirchenleitungen nachgehen - die staatliche Kirchenpolitik wird allerdings lediglich "mitdiskutiert", sofern sie Einfluss auf dieses Verhältnis hatte (21). Ihr regionaler Charakter soll die "Entwicklung in Gemeinden" aufhellen (22). Der Bearbeitungszeitraum beginnt 1975 mit der Schlussakte von Helsinki, wobei allerdings die Wahl dieses Datums weniger regionalen Überlegungen entspricht.

Als Voraussetzung und Rahmen werden umfassend das politische Engagement beider Kirchen, die staatliche Kirchenpolitik und die speziellen Dresdner Bedingungen abgehandelt. Der Hauptteil der Arbeit ist in vier zeitliche Phasen gegliedert: Ende der 70er Jahre, Konfrontationen zu Beginn der 80er Jahre, Herausforderungen Mitte der 80er Jahre, Zuspitzung der Konflikte bis zum Herbst 1989. Dem sind informative Ausführungen über die Strukturen und die Lage der beiden großen Kirchen in Sachsen und ein knapper Überblick über die staatliche Kirchenpolitik in Dresden vorangestellt. Bereits hier wird eine im Vergleich mit anderen DDR-Bezirken einerseits und gegenüber den Einflussversuchen des MfS und der SED-Zentrale in Berlin andererseits gemäßigte kirchenpolitische Linie der Funktionäre um Hans Modrow behauptet, die allerdings im Wesentlichen nur durch dessen eigene Aussagen und durch ein Zeitzeugeninterview mit dem ehemaligen Sektorenleiter für Kirchenfragen Gerhard Lewerenz begründet wird.

Schwerpunkt der Arbeit sind die kirchenpolitischen Konflikte um die vor allem von evangelischen Gruppen und einzelnen Amtsträgern ausgehenden oppositionellen Aktivitäten. Die verschiedenen Perspektiven der Akteure auf Gruppenebene, der kirchenleitenden und der staatlichen Seite werden dabei aufeinander bezogen. Die spannungsreichen Ereignisse um die von Dresden ausgehenden Friedensdekaden, die Initiative zur Schaffung eines "Sozialen Friedensdienstes" (SoFD) der Dresdener Weinbergsgemeinde, das ebenfalls in Dresden "erfundene" Symbol "Schwerter zu Pflugscharen", die teils brisanten Veranstaltungen zum Gedenken an die Zerstörung der Stadt 1945, der bedeutende Kirchentag 1983 und die Aktivitäten der Friedens- und Ökologischen Kreise wie auch einer unabhängigen, anarchistisch orientierten Gruppe werden bis 1989 umfangreich und detailliert dargestellt. Daneben stehen entsprechende Ausführungen zur Situation in der katholischen Kirche auf der Ebene der Kirchenleitung und einzelner Gruppen, mit dem Höhepunkt des großen Katholikentreffens 1987.

Eigene Kapitel sind den örtlichen ökumenischen Beziehungen gewidmet, die im Stadtökumenekreis repräsentiert waren, auf dessen Initiative 1988 die DDR-weite, politisch und auch international vielbeachtete Ökumenische Versammlung zu den Themen "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" zustande kam. Trotz der im Titel angekündigten zeitlichen Ausdehnung bis 1989 werden die gerade in Dresden dramatischen Wendeereignisse nicht mit in die Arbeit einbezogen, so dass der zeitliche Rahmen etwas verschwimmt.

Kritische Einwände ergeben sich nun aus der Art des von Schmid verwendeten Quellenmaterials. Neben den erwartungsgemäß nicht sehr umfangreichen Beständen der SED-Bezirksleitung, des Rates des Bezirkes und der Stadtregierung ist nur eine geringe Zahl der Akten aus den kirchlichen Archiven verarbeitet worden, wobei natürlich die bekannte restriktive Handhabung vor allem auf evangelischer Seite in Rechnung zu stellen ist. Vor allem aber finden sich kaum Unterlagen des MfS, wenige Sachakten aus dem Berliner Zentralarchiv, nur ein einziger aus einem Privatarchiv zur Verfügung gestellter sog. "Operativer Vorgang" (OV). Dafür hat Sch. einige Privatsammlungen benutzt und 21 Interviews geführt, mit 14 Amtsträgern beider Konfessionen, mit sechs Vertretern der Gruppen und mit dem ehemaligen Sektorenleiter für Kirchenfragen des Rates des Bezirkes, Gerhard Lewerenz. So anerkennenswert diese umfangreiche Einbeziehung der oral history auch ist, stellen sich angesichts der nicht herangezogenen Bestände allerdings Fragen. Die Archive der Berliner Leitungsebene der SED und der Regierung, also des ZK der SED und des Staatssekretärs für Kirchenfragen, wurden nicht gesichtet, was in Anbetracht der zentralistischen Struktur des DDR-Staatsapparats trotz der regionalen Perspektive der Studie als problematisch anzusehen ist. Die CDU auf regionaler und überregionaler Ebene wurde ebenfalls nicht einbezogen. Noch problematischer ist allerdings die Zurückhaltung des Autors gegenüber den Akten des MfS, gerade weil seine Arbeit sich das Ziel setzt, das Beziehungsgeflecht "Kirchen, Staat und Politik" zu untersuchen. Ohne einer Überbewertung des MfS und einer entsprechend vielbeklagten einseitigen Fokussierung auf seine Akten das Wort reden zu wollen, ist es schlechthin nicht möglich, ohne sie eine wirklich erhellende Untersuchung unter der hier in Angriff genommenen Fragestellung anzustellen. Davon abgesehen hatte das MfS nicht nur über "normale" Partei- und Regierungsinstanzen hinausgehende Einblicksmöglichkeiten in das innerkirchliche Geschehen auf Leitungs-, Gemeinde- und Gruppenebene, so dass aus seinen Akten wichtige Informationen zu erwarten sind, sondern war auch schlicht ein wichtiger institutioneller Faktor im Staat-Kirche-Verhältnis. - So geht der Autor bereits zu Beginn zwar von einer guten "Informiertheit" (30) des MfS aus und resümiert auch am Ende dessen "wesentlichen Einfluß auf die Praxis staatlicher Politik" (485), konkretisiert und durch dieser Feststellung angemessene Quellenstudien belegt wird dies allerdings ebensowenig wie die Nichteinbeziehung der MfS-Akten begründet wird. Es findet sich zwar der Hinweis, dass die Rolle des MfS in Dresden noch nicht hinreichend analysiert worden sei (102), das hätte aber wenigstens im Rahmen dieser Untersuchung unbedingt geschehen müssen.

So wird beispielsweise die Isolierung des Pfarrers der Weinbergsgemeinde, Wonneberger, und die Zerschlagung der SoFD-Initiative als konspirativ-operativer Erfolg des MfS durch Inoffizielle Mitarbeiter (IM) in Kirchenleitung und Gruppen dargestellt, durch entsprechende Einsichtnahme in die IM-Akten aber nicht erhellt. Dass es IM in den Gruppen bis in die Ökumenische Versammlung hinein gegeben hat, gibt der Autor zu, ohne dass er die Bedeutung und Wirkung dieses Faktums erklärt. Noch schwieriger wird es da, wo anstelle der Einbeziehung von MfS-Akten Deutungen und Legenden von Zeitzeugen erscheinen. So habe es nach Aussage des Sektorenleiters für Kirchenfragen Lewerenz einen ",Widerstand'" gegen zunehmende Einflussversuche des MfS gegeben, der von Hans Modrow unterstützt wurde (103), eine These, die auf der Linie der von Sch. immer wieder behaupteten gemäßigten Position der Dresdner SED um Modrow liegt. Wie kann man verkennen, dass Modrow als Bezirkschef der SED nicht Auftragnehmer, sondern Auftraggeber des MfS war? Warum sollte ausgerechnet Lewerenz anderes zugestehen, wo er doch, wie in der Regel alle für Kirchenfragen zuständigen Funktionäre der Räte der Kreise und Bezirke, von 1971 bis 1989 selbst ein IM war (die Akten sind vorhanden), der noch im Oktober 1989 von Erich Mielke ausgezeichnet wurde? Seine in wichtigen Zusammenhängen als Belege benutzten Ausführungen im Interview können von daher kaum als glaubhaft angesehen werden. Da nützt es auch nichts, wenn für seine Integrität als kirchenleitendes Zeugnis herangezogen wird, dass Lewerenz im Gegensatz zu anderen Funktionären seines Ranges keinen Spitznamen gehabt habe.

Hier und an vielen anderen Stellen ist der Autor den Beteuerungen mancher Zeitzeugen eben gerade deshalb erlegen, weil er sie durch Aktenstudien nicht zu relativieren vermag oder wenigstens in Frage zu stellen versucht. Dass er einleitend mit Blick auf Gerhard Besier ankündigt, ohne "Denunziationsinteresse" (20) vorgehen zu wollen, wirkt sich - trotz berechtigter kritischer Distanz Besier gegenüber - aufklärungshemmend aus und bringt oftmals einen geradezu irenischen Zug in die Arbeit hinein. Die vorliegende Studie hinterlässt aus diesen Gründen viele Fragen, obgleich dem Autor ausdrücklich das Verdienst zu bescheinigen ist, umfangreich - und zudem gut geschrieben - die kirchenpolitische Situation in Dresden dargestellt zu haben.

Fussnoten:

1) So etwa Rahel von Saß: Der "Greifswalder Weg": die DDR-Kirchenpolitik und die Evangelische Landeskirche Greifswald 1980 bis 1989. Schwerin 1998; Peter Beier: Missionarische Gemeinde in sozialistischer Umwelt: die Kirchentagskongreßarbeit in Sachsen im Kontext der SED-Kirchenpolitik (1968-1975). Göttingen 1999 (AKIZ: B; 32); Georg Diederich: Nationale Front und SED-Kirchenpolitik 1949-1961: Regionalstudie an Beispielen aus dem Norden der ehemaligen DDR. Rostock; Schwerin 1999.