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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

549 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jung, Martin H.

Titel/Untertitel:

Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 164 S. gr.8 = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, III/3. Geb. DM 38,-. ISBN 3-374-01794-0.

Rezensent:

Hartmut Lehmann

In der "Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen", die von Ulrich Gäbler zusammen mit Gert Haendler und dem vor kurzem verstorbenen Joachim Rogge herausgegeben wird und die sich vor allem an die "Studierenden der Evangelischen Theologie" wendet sowie an "Religionspädagogen, Historiker, Lehrende und Lernende und an alle kirchengeschichtlich und historisch Interessierten", schließt der von Martin H. Jung vorgelegte Band eine wichtige Lücke. Unabhängig davon, ob man Jungs Behauptung (24) zustimmt, "das 19. Jahrhundert mit seinen vielfältigen Aspekten" sei "für den deutschen Protestantismus die wichtigste Epoche seit der Reformation" gewesen (könnte man dies nicht auch für das 18. oder das 20. Jh. sagen?), ist J.s grundsolide Leistung hoch zu bewerten. Zwischen zwei einleitenden Kapiteln (über den Protestantismus nach dem Ende der Befreiungskriege sowie über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1815-1870) und einem abschließenden Kapitel (über den Protestantismus am Vorabend der Reichsgründung) erörtert er in vier großen Kapiteln die wichtigsten Aspekte seines Themas: 1. die Rolle der Theologie und der Theologen; 2. die Bedeutung des Pietismus und der Erweckungsbewegung; 3. die innerkirchlichen Verhältnisse und Entwicklungen; und 4. das Verhältnis von "Kirche und Welt".

Besonders hervorzuheben ist, dass J. auch auf die "alten Sondergemeinschaften" (Waldenser, Hugenotten, Mennoniten) sowie auf die "neuen Kirchen" (Baptisten, Methodisten und andere Freikirchen) eingeht, dass er das Thema "Frauen in der Kirche" behandelt und dass er nicht nur die "Protestantische Frömmigkeit" diskutiert, sondern ebenso "Entkirchlichung und Entchristianisierung". Besonders gelungen scheinen mir die Abschnitte über die Folgen der Industrialisierung und des Pauperismus, also die Auseinandersetzung des Protestantismus mit der sozialen Frage, sowie der Abschnitt über das Verhältnis des Protestantismus zum Judentum.

Dass auf 164 Seiten (inklusive Quellen- und Literaturverzeichnis) nicht alles, was eigentlich zum Thema gehört, erwähnt werden kann, ist selbstverständlich. Nicht als Kritik, wohl aber als Anregung sei deshalb auf einige Punkte verwiesen, wo die Akzente vielleicht etwas anders hätten gesetzt werden können und wo mir bei einer Neuauflage Ergänzungen sinnvoll erscheinen. Stärker, als J. es getan hat, sollte die Erinnerung an die Französische Revolution akzentuiert werden sowie die Erfahrung der Revolution von 1848: In beiden Fällen waren fromme deutsche Protestanten mit der Frage konfrontiert, was der Zusammenbruch der äußeren Ordnung bedeutete und in beiden Fällen reagierten sie geradezu panisch. Im Kapitel über die Frömmigkeit hätten die diversen Formen der Alltagsfrömmigkeit erwähnt werden können. Angaben zum sozialen Hintergrund, zur Ausbildung und zum Amtsverständnis der Pfarrerschaft wären ebenso nützlich gewesen wie Ausführungen über die auch im 19. Jh. signifikante Rolle der Pfarrfrauen. Viel zu knapp geraten sind die Darlegungen zum Verhältnis des Protestantismus zu den modernen Wissenschaften (und zwar zu den Natur- ebenso wie zu den Geisteswissenschaften). Gewünscht hätte ich mir auch einen Abschnitt über die Bedeutung der Massenauswanderung (nicht nur über die Emigration der Altlutheraner, die J. erwähnt). Viel zu knapp scheint mir auch das Kapitel über die Mission, wo doch im 19. Jh., wie die Popularität der Missionsfeste beweist, nichts die Imagination braver Protestanten so sehr inspirierte wie Berichte vom Kampf für das Reich Gottes draußen in den unwirtlichen und gefährlichen Weiten Afrikas und Asiens. Zum Themenbereich Nation und Nationalismus hätte schließlich auch ein Abschnitt über die Stilisierung Luthers zum vorbildlichen deutschen Nationalhelden gehört.

Diese Hinweise mögen andeuten, wie viele Anregungen J.s kluge und flüssig geschriebene Ausführungen bieten. Er besitzt nicht nur die Fähigkeit, eine imposante Fülle von Informationen zu ordnen, es gelingt ihm vielmehr auch, prägnante Akzente zu setzen. "Die größten theologischen Leistungen" hätte im 19. Jh. "die von der Aufklärung beeinflußte Theologie hervorgebracht", schreibt er resümierend, "die größten praktischen" Leistungen seien dagegen "den Erweckten zu verdanken". Er verweist zurecht auf den Prozess "einer partiellen Rekonfessionalisierung im deutschen Protestantismus" jener Zeit sowie auf den Einfluss des Nationalismus, "der sich mit dem neuen Antisemitismus zu verschmelzen begann". Parallel zu "Entkirchlichungs- und Entchristianisierungsprozessen" hätte sich, so noch einmal J., im 19. Jh. "in Teilen der Bevölkerung aber auch eine ungeheure Vitalisierung der Religiosität vollzogen" (155 f.). J.s ausgewogenen Darlegungen über diese komplexen und teilweise widersprüchlichen Entwicklungen ist eine weite Verbreitung zu wünschen, und ebenso ist zu wünschen, dass sich die kirchenhistorische Forschung den Themen, die er diskutiert, weiterhin mit großer Intensität zuwendet. Denn vielleicht ist J.s Beobachtung doch richtig, in der Geschichte des deutschen Protestantismus sei das 19. J. das wichtigste seit der Reformation gewesen.