Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

542–544

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Brecht, Martin, u. Eberhard Zwink [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Eine glossierte Vulgata aus dem Umkreis Martin Luthers. Untersuchungen zu dem 1519 in Lyon gedruckten Exemplar in der Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Arbeitsgespräch in der Württembergischen Landes- bibliothek Stuttgart vom 20. bis 22. Februar 1997.

Verlag:

Bern-Berlin-Frankfurt/M.-New York-Paris-Wien: Lang 1999. 407 S. m. 27 Taf. gr.8 = Vestigia Bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs Hamburg, 21. Geb. SFr 115,-. ISBN 3-906762-86-6.

Rezensent:

Hellmut Zschoch

Die Ende 1995 beträchtliches Aufsehen erregenden Sensationsmeldungen von einer Vulgata, die Luther bei der Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg und später bei der Übersetzung der ganzen Bibel als Handexemplar gedient haben sollte, sind der nüchternen Arbeit an jenem 1519 in Lyon gedruckten, reich glossierten Exemplar der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart gewichen. Die Beiträge eines 1997 veranstalteten Arbeitsgesprächs sind im vorliegenden Band dokumentiert und weiter ausgearbeitet; darüber hinaus bietet er eine Edition der Glossen zur Genesis (durch Herrad Spilling, 117-212), zum Galaterbrief (durch Stefan Strohm, 251-299), zum Kolosserbrief (durch Manuel Santos Noya und Manfred Schulze, 343-360) sowie zum Titusbrief und zum Philemonbrief (durch Herrad Spilling, 361-370) und der handschriftlichen Eintragungen außerhalb des Bibeltextes (durch Reinhard Schwarz, 58-60). Auch die ergänzenden 27 Abbildungen (381-407) vermitteln einen Eindruck der Glossierung. Die Hgg. weisen darauf hin, dass eine Reproduktion der gesamten Stuttgarter Vulgata (im folgenden = StVulg) samt Recherchesoftware auf CD-ROM vorliegt (Kirchheim u.T./Stuttgart 1996) und das Bildmaterial über die Homepage der Württembergischen Landesbibliothek zugänglich ist

Im Blick auf die Deutung der Glossen der StVulg gehen alle Beiträge von der Einsicht aus, dass der Kern der ursprünglichen Sensationsmeldung dem paläographischen Befund geopfert werden muss: Martin Luther ist zweifelsfrei nicht der Glossator. Das ist das Ergebnis der genauen Untersuchungen von Herrad Spilling (Paläographische Sichtung der anonymen Einträge und Glossen, 15-50). Die Einträge sind alle von derselben Hand, sie lassen auf mehrere Durchgänge der Arbeit am Text schließen. Eine größtmögliche Luthernähe der Glossen erreicht Spilling durch die Vermutung, der Glossator sei ein ständiger Mitarbeiter des Reformators, der dessen "Übersetzungsarbeit nach- und mitvollzogen" habe (27), ja es handele sich bei ihm um einen "Protokollanten", "der für sich selbst oder in offiziellem Auftrag Diskussionsergebnisse mitschreibt" (41). Dagegen hält Reinhard Schwarz (Das handschriftliche Rahmenmaterial, Einträge außerhalb des Bibeltextes, 51-60) den Glossator für einen mitunter gedankenlosen Abschreiber. Unter seinen Notizen befinden sich zwei kleine bisher unbekannte Luthertexte, die Schwarz in den Zusammenhang der Tischredenüberlieferung einordnet und auf die Zeit nach 1530 datiert.

Mitarbeiter oder Abschreiber? - Damit ist die Frage gestellt, die in den weiteren Beiträgen kontrovers diskutiert wird, die Frage nach der Nähe des Glossators zu Luthers Übersetzertätigkeit. Sören Widmann (Von der Wartburgpostille bis zum Septembertestament 1522: Luther als Übersetzer des Neuen Testaments, 61-93) und Manuel Santos Noya (Die Notizen zu den paulinischen Briefen, 213-246) vertreten die "Protokollhypothese": In den Glossen zum NT spiegelt sich die zweite Phase von Luthers Übersetzungsarbeit, der Wittenberger Teamarbeit zwischen März und September 1522; sie dokumentieren Schritte vom Vulgatatext über lateinische Varianten zum Septembertestament. Beide Autoren besprechen eine Fülle einzelner Glossen, um sie im Sinne dieser Hypothese zu interpretieren, erweisen die Hypothese selbst dabei freilich bestenfalls als möglich. Alle besprochenen Stellen lassen sich von einer anderen Ausgangshypothese aus auch anders deuten, nämlich als vom bereits erschienenen Septembertestament abhängige Eintragungen eines fleißigen und akribischen Benutzers von Lutherdrucken. Widmanns Argumentation führt entgegen seiner Intention zu genau dieser Annahme: Wenn er resümiert, dass "in keinem einzigen Fall die Randnotitzen [sic] der StVulg einen muttersprachlichen Übersetzungsvorschlag unterbreiten, der nicht ins Septembertestament aufgenommen wäre" und häufig "Einträge der Textgestalt des Septembertestaments bis ins Orthographische" entsprechen (90), weisen beide Beobachtungen eigentlich deutlich auf eine literarische Abhängigkeit vom Septembertestament hin. Santos Noya vermeidet derartige lapsus, kommt im Blick auf die Entstehung der Glossen aber gleichfalls nicht über Wahrscheinlichkeitsurteile hinaus, die mich durchweg nicht überzeugen. Zwei Beispiele: 1) Die aus den nicht sehr zahlreichen lateinisch-deutschen Eintragungen gefolgerte Annahme, der Glossator habe im Laufe des Übersetzungsvorgangs sich "den Text zunächst auf Lateinisch" zurechtgelegt, "um dann im zweiten Schritt die passende deutsche Formulierung zu erstellen" (227), erscheint mir äußerst unwahrscheinlich. Das Übersetzen ist auf die richtige Formulierung in der Zielsprache ausgerichtet; die zu erwartenden zahlreichen deutschen Formulierungsversuche fehlen aber augenscheinlich. Entgegen Santos Noya ist es durchaus plausibel, dass ein Benutzer der Lutherübersetzung in sein Arbeitsexemplar der Vulgata sowohl den deutschen Text wie eine lateinische Rückübersetzung einträgt, gelegentlich womöglich noch kleine eigene Notizen.

2) Zu Gal 5,6 bietet die Glosse in StVulg den massiven Fehler des Septembertestaments ("Liebe, die durch den Glauben tätig ist"), der erst in der Ausgabe 1526 beseitigt wurde. Nach Santos Noya deutet ein "M" (für "Martinus") an dieser Stelle an, "daß diese Variante auf Luthers ausdrückliche Initiative zurückgeht" (236). Es ist mir ganz unglaubhaft, dass Luther an einer derartig prominenten und viel diskutierten Stelle sehenden Auges den Urtext verdreht hätte, obwohl doch deren eigentliche Aussage seinem Glaubensverständnis stärker entgegenkommt als ihre Umkehrung (trotz 236-239). Dass das "M" eine persönliche Aussage Luthers bezeichnen soll, ist im Übrigen hier wie an anderen Stellen eine bloße Annahme.

Die Gegner der Protokollhypothese vertreten eine Art "Exzerpthypothese": Ein unselbständiger Benutzer der Lutherübersetzung hat Übersetzungsfetzen unregelmäßig und ohne erkennbaren Zusammenhang deutsch bzw. in lateinischer Rückübersetzung in seine Vulgata eingetragen. Dieser Position arbeitet der Beitrag von Michael Beyer zu (Luthers Übersetzerregel[n], 95-116), der Luthers Verbindung von philologischem und rhetorischem Übersetzen darstellt und angesichts des "vehement bessernden" Übersetzers Luther in der StVulg "einfach ein zu getreues Abbild von bereits im Druck erschienen [sic] deutschen Texten" findet (116). Akribisch und bei aller Weitschweifigkeit nicht ohne Überzeugungskraft durchgeführt ist die Exzerpthypothese von Stefan Strohm (Eine protestantische Biblia cum Glosis und ein Plädoyer für Luthers Deutsche Bibel, 247-327), der hier "ein erstens evangelisches und zweitens privates Gegenstück zum ... veralteten Arbeitsinstrument der Biblia cum Glosis" vorliegen sieht (298). Es ist freilich kaum sinnvoll, daran einen grundsätzlichen Streit über den "Basistext" von Luthers Übersetzung aufzuhängen (s. 322-324; vgl. Santos Noya 239-242), da doch mit oder ohne die Glossen der StVulg klar ist, dass griechischer Text, Vulgatatext und Erasmustext in differenzierter Weise deren "Basistexte" sind. Überzogen ist auch Strohms herabsetzende Charakteristik des Glossators, der - "wohl ängstlich, menschenscheu und skrupulös im Persönlichen" (299) - die Distinktionen von Luthers Theologie nicht verstanden haben soll (296 f.). Im Umfeld der Exzerpthypothese bewegt sich auch der Beitrag von Manfred Schulze (Die Eintragungen zum Kolosserbrief. Textarbeit am Arbeitstext, 329-342), der einen Teil der Glossen zu Kol wegen der Benutzung von Bugenhagens 1524 erschienenem Pauluskommentar sicher auf die Zeit nach dem Druck der ersten Auflagen von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments datieren kann und eine "Zeitgleichheit der Eintragungen" für "wahrscheinlich" hält (338). Die über die Kontroverse hinausführende These, es handele sich bei den Glossen um Zeugnisse der "Mitarbeit in einer Vorlesung" (340), verdiente eine weitere Überprüfung; mit der Zuweisung der Eintragungen an einen unbekannten Wittenberger Studenten und damit an den "Arbeitsalltag des Bibelstudiums" (342) im Kontext reformatorischer Theologie dürfte Wesentliches getroffen sein.

Die Kontroverse über den Sitz im Leben der Glossen der StVulg wird kaum über Wahrscheinlichkeitsurteile hinauskommen, es sei denn, der Glossator könnte eines Tages doch noch paläographisch identifiziert werden. Auch wenn er "nur" ein durchschnittlicher Wittenberger Student gewesen sein sollte, der sich mit neuen und alten Arbeitsmitteln um ein intensives Verstehen des Bibeltextes mühte, verdient er es (gegen Strohm, 299) gerade nicht, "im Dunkel der Geschichte wieder zu verschwinden." Denn ihm ist ein anschauliches Beispiel dafür zu verdanken, dass die Geschichte der Reformation und ihrer Theologie im Kern die Geschichte des mit Arbeit und Mühe verbundenen Verstehens der Bibel ist.