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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

975–980

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Turner, John D., and Anne McGuire

Titel/Untertitel:

The Nag Hammadi Library after Fifty Years. Proceedings of the 1995 Society of Biblical Literature Commemoration.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1997. XVIII, 531 S. gr.8 = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 44. Lw. hfl. 300.-. ISBN 90-04-10824-6.

Rezensent:

Jens Schröter

Der Schriftenfund von Nag Hammadi stellt im Blick auf die Erschließung von Entwicklungen im frühen Christentum zweifellos eines der bedeutendsten Ereignisse unseres Jahrhunderts dar. Anläßlich des 50. Jahrestages der Entdeckung dieser Codices wurde für das Jahrestreffen der Society of Biblical Literature 1995 in Philadelphia ein spezielles Programm organisiert, das sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Bedeutung dieser Schriften beschäftigte. Im Zentrum standen dabei Fragen der Interpretation des Thomasevangeliums (EvThom), die valentinianische Schule sowie die Verarbeitung biblischer Traditionen in der Gnosis. Dieses Programm wurde durch einen öffentlichen Vortrag von James M. Robinson vervollständigt, in welchem er auf die ersten 50 Jahre der Nag Hammadi-Forschung zurückblickt. Bereits einige Tage zuvor fand ein eintägiges Treffen am Haverford College (Pennsylvania) statt, das der Forschung am Apokryphon des Johannes (AJ) sowie am Philippusevangelium (EvPhil) gewidmet war.

In dem vorliegenden Band sind 24 Beiträge aus diesen Sitzungen versammelt. Sie präsentieren auf eindrucksvolle Weise den gegenwärtigen Stand der Nag Hammadi-Forschung und können somit als Zwischenbilanz für zumindest einige von deren zentralen Bereichen gelten. Schon aus diesem Grund stellt der Band ein wichtiges forschungsgeschichtliches Dokument dar, was nicht zuletzt dadurch eindrucksvoll unterstrichen wird, daß etliche Spezialistinnen und Spezialisten aus Koptologie, Gnosisforschung und Patristik sich hier ein Stelldichein geben.

Den Reigen eröffnet der bereits genannte Vortrag Robinsons. Er schildert auf oft amüsante, bisweilen sogar spannende Weise die Geschichte der Auffindung der Codices, den (manchmal regelrecht abgründigen) Kampf um Publikationsrechte sowie die maßgeblich durch sein eigenes Wirken beendete Monopolisierung von Teilen des Fundes in den Händen einiger weniger. Ein Seitenblick auf vergleichbare Vorgänge bei den Qumran-Rollen, wo Robinson ebenfalls zeitweise in die Publikationsvorgänge involviert war, zeigt, wie in beiden Fällen der freie Zugang aller interessierten Gelehrten zu den Handschriften erst gegen mancherlei Widerstände erkämpft werden mußte. Es handelt sich somit nicht zuletzt um ein aufschlußreiches Kapitel Wissenschaftsgeschichte des 20. Jh.s.

Zu den forschungsgeschichtlich interessanten Einblicken gehört auch der Beitrag von Hans-Martin Schenke. Er blickt zurück auf die Forschung des Berliner Arbeitskreises an den Nag Hammadi-Schriften. Unter den schwierigen Bedingungen der DDR-Zeit ist hier eines der Zentren der Nag Hammadi-Forschung entstanden, woran Schenke selbst maßgeblichen Anteil hat. In der Rückschau mit einem Augenzwinkern berichtete Fehlübersetzungen (klassisches Beispiel: der Titel von VI,2) gehören ebenso zum Profil dieses Beitrags wie ein Blick auf seinen eigenen, kürzlich fertiggestellten Kommentar zum EvPhil.

Im letzten Teil seines genannten Beitrages kommt Robinson sodann auf die Bedeutung zu sprechen, die aus seiner Sicht den Nag Hammadi-Schriften für die Erforschung des frühen Christentums zukommt. Eine Herausforderung sieht er zunächst darin, die für die Beschäftigung mit den Texten aus den ersten christlichen Jahrhunderten nicht mehr zu übersehende Bedeutung der koptischen Sprache wahrzunehmen. Weiter gelte es, die Frage nach Ursprung und Wesen der Gnosis neu zu stellen. Gnostisches Denken habe seine Mythologien wesentlich aus alttestamentlichen Traditionen heraus entwickelt, die gnostische Bewegung sei somit als eine weitere jüdische Gruppierung aus der Zeit des Zweiten Tempels anzusehen. Schließlich müsse zur Kenntnis genommen werden, daß das EvThom alte, möglicherweise sogar authentische Jesusüberlieferung beinhalte, was neues Licht auf die Frage nach dem historischen Jesus werfe. - Nicht alle werden diesen Ansichten zustimmen wollen.

Gerard P. Luttikhuizen nimmt in seinem Beitrag Bezug auf die alte Kontroverse zwischen Gilles Quispel und Hans Jonas über die Frage, ob die Gnosis im Judentum wurzele oder aber jüdische Traditionen für ihre eigenen Zwecke nur benutzt habe. Luttikhuizen optiert für letzteres und vertritt anhand von Beobachtungen zum Brief des Petrus an Philippus, der Apokalypse des Petrus sowie den Johannesakten die These, gnostische Texte hätten biblische und andere jüdische Überlieferungen in einen diesen fremden Rahmen eingepaßt, der seine Basis in heidnischem mythologischen Denken habe.

Auch Edwin M. Yamauchi fragt nach den Ursprüngen der Gnosis. Er nimmt die durch die Nag Hammadi-Schriften wieder virulent gewordene Frage nach der Existenz einer vorchristlichen Gnosis auf und beantwortet sie in Auseinandersetzung mit Thesen, die den vorchristlichen Charakter der Apokalypse des Adam, der Paraphrase des Seem und der dreigestaltigen Protennoia aufweisen wollten, negativ. Sein Fazit lautet, daß auch die Nag Hammadi-Schriften keine Basis für die alte These von einem vorchristlich ausgeprägten gnostischen Erlösungssystem, welches dann das frühe Christentum beeinflußt habe, bieten.

Der Vergleich mit der oben genannten Sichtweise Robinsons zeigt somit, daß die Diskussion um das Verhältnis von gnostischem Denken zu Judentum und frühem Christentum weitergehen muß. Dabei wird es unvermeidlich sein, auch die Frage nach der Definition von "Gnosis" wieder aufzunehmen. Yamauchi schließt sich in seinem Beitrag der Definition Birger A. Pearsons an, der sich für eine vergleichsweise enge, präzise Formulierung von Kriterien ausgesprochen hatte. Auf diesem Wege sind zwei nicht unwichtige Ergebnisse zu erwarten: 1. Etliche der Nag Hammadi-Schriften werden auf einer solchen Grundlage nicht als "gnostisch", sondern eher als Fortschreibungen mittelplatonischer Philosophie zu beschreiben sein (Yamauchi postuliert dies z. B. für Eugnostos). 2. Die immer noch fortlebende Auffassung von einer vorchristlichen Gnosis wird einer wesentlich differenzierteren Beurteilung weichen müssen, was etliche Thesen über vermeintlich bereits im Neuen Testament anzutreffendes gnostisches Denken fragwürdig erscheinen lassen dürfte.

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, nicht nur das Verhältnis der Nag Hammadi-Schriften zum Neuen Testament in den Blick zu nehmen, sondern in umfassender Weise auf Entwicklungen im 2. Jh. zu achten.

So macht etwa Anne Pasquier anhand der jeweiligen Interpretation des Johannesprologs darauf aufmerksam, daß zwischen Origenes und der Lehre des Valentinus Verbindungen bestehen, die auf die Partizipation an einer gemeinsamen Tradition hindeuten. Bei beiden findet sich eine Christologie, die auf einer Verbindung von jüdisch-alexandrinischen Gottesspekulationen mit platonischem Denken aufbaut. Dies ist ebenso aufschlußreich wie die Beobachtungen von Christoph Markschies zur Schule des Valentinus. Anknüpfend an Äußerungen Bentley Laytons geht Markschies zunächst auf terminologischem Weg der Frage nach, ob sich die Valentinianer nach dem Modell einer philosophischen Schule organisiert hätten. Wichtig hierbei ist, daß die entsprechende Begrifflichkeit nicht auf die professionellen Philosophenschulen einzugrenzen ist, sondern darüber hinaus in Gebrauch war. Es sind sodann vor allem Äußerungen von Irenäus, im Brief des Ptolemäus an Flora sowie einige weitere Bemerkungen von Kirchenvätern, die die schon bei Clemens und Tertullian belegte Ansicht, Valentinus habe Schüler und Schülerinnen gehabt, die seine Lehre später in zwei Richtungen fortgeführt hätten, bestätigen können. Die auch soziologisch aufschlußreiche Kategorie "Schule" ist demnach nicht nur als Bezeichnung zu verstehen, die den Valentinianern von außen - also im Kontext der Beurteilung als Häresie - beigelegt wurde, sondern gehört vielmehr zum Selbstverständnis dieser Gruppe.

Beide Beiträge zeigen, daß es für die Nag Hammadi-Forschung nur von Vorteil sein kann, ihre Ergebnisse in ein intensives Gespräch mit der Patristik zu bringen, um Einseitigkeiten und historische Kurzschlüsse zu vermeiden.

Ein weiterer Teil des Bandes ist Beiträgen zum AJ gewidmet. Eine Neuausgabe als Synopse der vier Versionen dieser Schrift, hg. von Michael Waldstein und Frederik Wisse, wurde auf dem SBL-Treffen ebenfalls präsentiert und stellt einen wesentlichen Fortschritt für die künftige Forschung dar. Nicht zufällig finden sich darum auch Beiträge beider Forscher in dem dieser Schrift gewidmeten Teil.

Wisse diskutiert die sich aus der nunmehr vorhandenen Synopse ergebenden Aufgaben für die weitere Arbeit. Zum einen gehe es um die Erstellung eines kritischen Textes der Langversion aus den beiden Exemplaren in Codex II und IV. Nicht möglich sei es dagegen, hinter den beiden Kurzversionen sowie der erschlossenen Langversion einen einzigen koptischen Text zu erstellen. Vielmehr müsse eine kritische Übersetzung in eine moderne Sprache auf der Basis der drei koptischen Versionen angefertigt werden. Um dieses zu tun, sei auf die Überlieferungsgeschichte zu achten, die aus den einzelnen Versionen erkennbar werde.

Michael Waldstein fragt nach dem Verhältnis der im AJ verarbeiteten platonischen und jüdischen Motive. Die Analyse von AJ 5,3-17,6 führt zu dem Ergebnis, daß ein spezifisches Merkmal des Gottes Israels, nämlich sein Anspruch, der einzige Gott zu sein, mit dem mittelplatonischen Gott konfrontiert werde, der seine Göttlichkeit gerade nicht eifersüchtig zur Geltung bringe. Somit werde hier ein Christentum erkennbar, das seine Wurzeln in einem platonisierenden Judentum habe. Im Ergebnis würden die zwei Götter - der obere, barmherzige und der untere, bösartige und eifersüchtige Gott - einander gegenübergestellt, die jeweils Züge platonischen Denkens sowie des israelitischen Gottesglaubens aufwiesen.

Karen L. King geht in eine ähnliche Richtung wie Wisse, wenn sie nicht auf den einen Urtext des AJ zusteuert, sondern vielmehr nach den in den einzelnen Versionen erkennbar werdenden Spezifika und theologischen Interessen fragt. Sie macht darauf aufmerksam, daß das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Antike gänzlich anders gestaltet war als in unserer Zeit, was sich auch in den Versionen des AJ zeige, wo Schreiben in den Kategorien von Sprechen und Hören beschrieben werde. In Anknüpfung an die durch Parry und Lord in Gang gekommene Diskussion um das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit plädiert sie dafür, die Versionen des AJ als verschiedene Repräsentationen eines Werkes anzusehen, deren jeweilige Spezifika gerade verkannt würden, wenn man sie lediglich auf einen zugrundeliegenden "Urtext" hin befrage - eine Kategorie, die King mit Lord und Kelber vermutlich ohnehin ablehnen würde.

Die dem EvThom gewidmeten Beiträge zeigen, daß die Diskussion um den theologiegeschichtlichen Ort dieser Schrift weiter im Fluß ist.



Paul-Hubert Poirier beschäftigt sich mit dem Verhältnis von EvThom, ActThom und LibThom und kommt zu dem Ergebnis, daß sich zwei Linien ausmachen lassen, deren eine von EvThom zu ActThom, die andere dagegen von beiden Schriften zu LibThom führe. Poirier ist dabei skeptisch gegenüber Thesen, die eine ins 1. Jh. zurückgehende Thomas-Tradition postulieren. Auch der Beitrag von Philip H. Sellew mahnt zur Zurückhaltung gegenüber allzu weitreichenden Annahmen. Ausgehend von den Thesen Robinsons und Kösters zu Gattung und Charakter des EvThom spricht er sich dafür aus, die Schrift zunächst - anhand des vorhandenen koptischen Textes und nicht postulierter früherer Stufen - in ihrem eigenen Charakter wahrzunehmen, also nicht sofort mit der Frage nach Informationen über den historischen Jesus zu befrachten. Auf diesem Wege kann vermutlich eine Annäherung zwischen der von Robinson, Köster und dem Jesus-Seminar auf der einen und der eher für ein nachsynoptisches Stadium plädierenden Interpretationsrichtung gefunden werden. Erstere Position wird in dem vorliegenden Band von Stephen R. Johnson vertreten, der anhand einer Untersuchung von EvThom 76.3 einschließlich der kanonischen Parallelen zu der überraschenden These gelangt, daß Lukas und Johannes von einer im EvThom erkennbaren Fassung des Spruches beeinflußt seien, welche somit die traditionsgeschichtlich älteste aller zugänglichen Versionen darstelle. Jean-Marie Sevrin geht dagegen in die entgegengesetzte Richtung und sieht das EvThom als eine spätere, die Synoptiker voraussetzende Schrift an, für deren Interpretation von dem Incipit und Spruch 1 auszugehen sei. Diese zeigten, daß das Konzept der "verborgenen Worte" die Lesenden dazu auffordere, den hinter den Worten liegenden, von diesen also verhüllten Sinn zu suchen.

Blickt man auf die Diskussion der letzten Jahre, so scheint in der Forschung am EvThom erfreulicherweise der Druck der Alternative "abhängig oder unabhängig" (deren Relevanz für das Verständnis der Schrift ohnehin nicht selten erheblich überschätzt worden ist) zugunsten einer konzentrierten Zuwendung zu den Interpretationsfragen selbst nachzulassen. Auch hier freilich besteht - blickt man nur auf die eingangs angeführten Äußerungen Robinsons - durchaus eine offene Diskussionslage, auch wenn sich allmählich einige Auslegungsprinzipien durchzusetzen scheinen, die Methodik also stringenter wird, als dies lange Zeit hindurch der Fall war.

In den verbleibenden Beiträgen dieses Teils steht nicht das vieldiskutierte Problem des Verhältnisses zur synoptischen Überlieferung im Zentrum, sondern die Frage nach einer Verbindung zwischen den Kreisen, die sich hinter dem JohEv und dem EvThom vermuten lassen.

Angestoßen wurde diese Diskussion einerseits durch Gregory J. Rileys These, in den Perikopen des JohEv, in denen Thomas vorkomme, werde ein Konflikt mit einer Gruppe ausgetragen, die die Auferstehung leugne. Dies lasse sich mit der im EvThom vertretenen Position in Zusammenhang bringen, wo eben diese Position erkennbar werde. Dem entgegen steht die Auffassung April D. de Conicks, im EvThom werde das Konzept einer mystischen Gottesschau entworfen, eine Auffassung von der Erlösung, gegen die das JohEv polemisiere. Man wird gegenüber beiden Thesen einwenden müssen, daß die Existenz einer vorjoh Gemeinschaft, deren Profil aus dem EvThom zu erheben sei, auf eine Zirkularität in der Argumentation nicht verzichten kann, insofern sie die entsprechenden Passagen aus dem JohEv als Reflex auf eine Position beurteilt, die dann ihrerseits als Grundlage dafür dient, die besagten Joh-Stellen selbst zu interpretieren. Man wird weiter fragen müssen, ob das Postulat eines solchen Konfliktes wirklich die nächstliegende Interpretation der entsprechenden Stellen darstellt und der Konflikt zwischen einer Johannes- und einer Thomasgruppe nicht ein allzu kühnes Produkt der Kombinationskunst darstellt. In diesem Sinne mahnt auch Ismo Dunderberg in seinem Beitrag zur Zurückhaltung gegenüber voreiligen historischen Konstruktionen, die zuweilen über das aus den Quellen Erhebbare hinauszugehen scheinen.

Der Eindruck bleibt, daß der Vergleich des EvThom mit anderen frühchristlichen Konzeptionen den Blick für die Fragen nach der theologiegeschichtlichen Einordnung der Schrift geschärft hat. Daß es dabei schon zu befriedigenden Antworten gekommen ist, wird man nicht sagen können. Weder der bereits ältere Versuch, Q und Thomas eng zueinanderzurücken, noch die neuere These eines Konfliktes zwischen einer Johannes- und einer Thomasgruppe dürften die historische Problematik zufriedenstellend gelöst haben. Auch die hier versammelten Beiträge weisen auf diese durch den Nag Hammadi-Fund ans Licht getretenen historischen Fragen nachdrücklich hin und geben der weiteren Forschung wichtige Aufgaben mit auf den Weg. - Schließlich sei noch auf die Beiträge zum EvPhil hingewiesen:

Martha L. Turner wirft die methodologische Frage nach den angemessenen Prinzipien einer Interpretation dieser Schrift auf. Bemerkenswert hieran erscheint vor allem, daß - ähnlich wie beim AJ und beim EvThom - auch in bezug auf EvPhil die Problematik eines angemessenen Zugangs thematisiert wird. Dies könnte auf eine Neubesinnung bezüglich der Methoden, mit deren Hilfe diesen Schriften auf die Spur zu kommen ist, hindeuten. Turner geht von der heuristischen Annahme aus, daß sich mehrere Arten von Kohärenz als Charakteristika einer Schrift wie EvPhil erweisen könnten (wie z. B. einheitlicher Stil; Basismetaphern; ein Plan, der der Anordnung der einzelnen Teile zugrunde liegt oder ein bestimmter Zweck der Abfassung). Diese Kohärenzebenen könnten wiederum auf verschiedenen Ebenen der Entstehung des Dokumentes anzusiedeln sein. Sie diskutiert sodann verschiedene Modelle der Erklärung der Schrift (als Florilegium, zusammengestellt aus verschiedenen Quellen; als Anordnung von Einzelstücken unter thematischen Gesichtspunkten) und kommt zu dem Schluß, daß die auf den ersten Blick vorherrschende Inkohärenz der Schrift es keineswegs ausschließt, mit der Anordnung größerer Komplexe zu rechnen, die untereinander durch immer wieder auftauchende inhaltliche Topoi thematisch verbunden sein können.

Einar Thomassens Beitrag könnte diesen Zugang möglicherweise stärken. Er geht der immer noch virulenten Frage nach dem valentinianischen Charakter des EvPhil nach. Ausgangspunkt ist Schenkes Urteil, die Schrift sei valentinianisch, enthalte jedoch darüber hinaus Stücke verschiedenen Ursprungs, was die Festlegung auf eine einheitliche Ausrichtung erschwere. Thomassen spricht sich demgegenüber zunächst dafür aus, die fehlende textliche Kohärenz nicht mit der Frage der Homogenität der zugrundeliegenden theologischen Vorstellungen zu vermischen. Er möchte sodann durch den Vergleich von Passagen aus EvPhil mit anderen Texten, die gängigerweise dem Valentinianismus zugerechnet werden, aufweisen, daß EvPhil in wesentlich größerem Ausmaß, als es bei Schenke erscheint, valentinianisch geprägt ist. Freilich muß auch Thomassen am Ende des Beitrages einräumen, daß die These des durchgehend valentinianischen Charakters nur dann aufrecht erhalten werden kann, wenn die Verwendung des Begriffs "die Mitte" sowie die Abwertung der Apostel in EvPhil 55.29-30 als Ausnahme bzw. als Interpolation angesehen werden.

Elaine H. Pagels fragt nach dem Verständnis der Taufe im EvPhil. Die Problematik entsteht daraus, daß die christliche Taufe hier keineswegs abgewertet und durch ein anderes Ritual ersetzt wird, auf der anderen Seite ihr jedoch keine grundsätzliche Wirksamkeit als Wiedergeburt zugeschrieben werden kann. Die im EvPhil angebotene Lösung lautet, daß die Archonten die Wirkung des Sakramentes in ihr Gegenteil verkehrt hätten, indem sie die Namen der guten Dinge an die schlechten banden und die Menschen damit betrogen. Auf diese Weise hätten sie auch die wahre Wirkung der Taufe in ihr Gegenteil verkehrt, die nämlich an die göttliche, vom Geist bewirkte Geburt Jesu gebunden sei und von daher Wiedergeburt und Auferstehung bewirke. Hier läßt sich also eine Aufnahme und Fortschreibung von Gedanken feststellen, die bereits in der paulinischen und johanneischen Interpretation der Taufe begegnen und die in EvPhil zur Konzeption vom vollkommenen Menschen führen.

50 Jahre Nag Hammadi-Forschung - der Ertrag kann sich sehen lassen. Es ist gelungen, viele Fragen nach der Entstehung und Entwicklung von Systemen und Gruppen der gnostischen Bewegung zu konkretisieren und damit zugleich Licht auf die Zeit des frühen Christentums fallen zu lassen. Die Verbindung von jüdischen Traditionen mit philosophischen Spekulationen tritt in den Nag Hammadi-Texten auf eine zuvor in dieser Intensität nicht bekannte Weise ans Tageslicht. Die Frage nach den Beziehungen von Gnosis und frühem Christentum sowie diejenige nach einer vorchristlichen Gnosis haben angesichts der Erkenntnisse aus den Originaldokumenten neuen Auftrieb erhalten.

Freilich - die Nag Hammadi-Forschung ist weit entfernt von einem "trägen Forschungskonsens". Die hier versammelten Beiträge zeigen, daß methodische, historische und religionsphänomenologische Probleme auch in Zukunft einer intensiven Bearbeitung bedürfen. Robinson spricht im Titel seines Beitrags darum zu Recht von den ersten 50 Jahren der Nag Hammadi-Forschung. Gerade darin kann das Stimulierende des vorliegenden Bandes gesehen werden. Er macht in der Vielfalt der angesprochenen Fragen weiter deutlich, daß es eine unausweichliche Aufgabe künftiger Forschung sein wird, die Arbeit an den aufgeworfenen Fragen in gemeinsamer Bemühung auf den Feldern der Judaistik, des Neuen Testaments, der Koptologie und der Patristik voranzutreiben. Darin kann wohl - über die einzelnen inhaltlichen Aspekte hinaus - ein für die Perspektive dieser Fächer wesentlicher Beitrag aus 50 Jahren Nag Hammadi-Forschung gesehen werden.