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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

535–538

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schlosser, Jacques

Titel/Untertitel:

Jésus de Nazareth.

Verlag:

Paris: Ed. Noesis 1999. 375 S. 8. Kart. fFr 160.-. ISBN 2-911606-489-5.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Wenn Vertreter der neutestamentlichen Wissenschaft Bücher über Jesus schreiben, so erfüllen sie damit vor allem eine Informationspflicht gegenüber der weiteren Öffentlichkeit. Gerade nachdem in den letzten Jahren zahlreiche, im Stil eines schrillen Enthüllungsjournalismus gehaltene Jesus-Darstellungen aus der Feder von Nicht-Fachleuten die öffentliche Diskussion über Jesus angeheizt haben, ist wissenschaftlich fundierte, solide Information nötig, die den komplizierten Forschungsstand in einer auch für theologische Laien verständlichen Form darlegt. Nur so kann der in der Öffentlichkeit entstandene Eindruck widerlegt werden, heutige theologische Fachwissenschaft verschweige aus Verlegenheit und wider besseres Wissen die Wahrheit über Jesus.

Jacques Schlosser, Neutestamentler an der katholisch-theologischen Fakultät Strasbourg, nimmt mit dem vorliegenden Buch diese Informationspflicht nachdrücklich wahr. In einer Einleitung, vier Hauptteilen und einem Epilog wendet er sich an ein breiteres Leserpublikum, um es konsequent und geradlinig auf einem gedanklichen Weg zu geleiten, der - von der Behandlung formaler Fragen ausgehend - alle Bereiche der Thematik durchmisst und zu einem in sich plausiblen Gesamtbild führt.

Die Einleitung handelt von Möglichkeiten und Grenzen einer historischen Erfassung der Gestalt Jesu. Das Problem des Verhältnisses zwischen dem "historischen Jesus" und dem "kerygmatischen Christus" wird dabei eher beiläufig behandelt. Offensichtlich hat es im Bereich französischsprachiger Theologie nur eine geringe Rolle gespielt. Nicht R. Bultmann, sondern der französische Philosoph H.-I. Marrou (De la connaissance historique, Paris 1954) ist der Hauptgesprächspartner Sch.s. Unter Berufung auf ihn will er sich als Historiker seinem vergangenen Gegenstand mit "Sympathie" nähern; allein diese Haltung könne Quelle und Bedingung von Verstehen sein. An Marrou orientiert sich auch sein Verständnis des Verhältnisses zwischen dem "Wirklichen" und dem "Historischen": Das "Historische" ist das, was der Historiker aus lückenhaften und einseitigen Quellen in kritischer Handhabung seiner wissenschaftlich bewährten Methoden zu rekonstruieren vermag. Es umfasst bestenfalls nur einen fragmentarischen Ausschnitt aus dem "Wirklichen", der ungleich komplexeren, vielschichtigeren Lebenswirklichkeit. Der Rekurs auf das Wort "historisch" impliziert so zwar "ein Eingeständnis der Unzulänglichkeit und der Bescheidenheit" (21), keineswegs jedoch einen Gegensatz zum Wort "wirklich". Dies gilt auch im Blick auf das Verhältnis zwischen dem "historischen" Jesus und dem Christus des Glaubens.

Der erste Hauptteil ("Approches") handelt von den Grundvoraussetzungen heutiger Jesusforschung. Er setzt mit einer Beschreibung des historischen und geographischen Rahmens ein. Ausführlich wird dabei auf die Verhältnisse in Galiläa eingegangen: Von einer Laxheit des dortigen Judentums kann keineswegs die Rede sein, und auch die feste Verwurzelung Jesu im jüdischen Milieu sollte als unstrittig gelten. Sodann werden die Quellen vorgestellt und gewichtet: Außerchristliche Quellen sind wenig ergiebig; wir bleiben im Wesentlichen auf die christlichen Quellen angewiesen, wobei neben den kanonischen Evangelien auch - zumindest punktuell - den Fragmenten außerkanonischer Evangelien eine gewisse Bedeutung zukommt. Der Aufwertung des Thomasevangeliums zum "fünften Evangelium" steht Sch. jedoch (m. E. mit guten Gründen) eher skeptisch gegenüber. Hinsichtlich der Kriterienproblematik weiß er sich mit der gegenwärtigen Forschungsmehrheit einig in der Warnung vor einer Überbewertung des Unähnlichkeitskriteriums, ohne dessen relatives Recht zu bestreiten.

Der zweite Hauptteil ist einer Darstellung der zentralen Aspekte des öffentlichen Wirkens Jesu gewidmet. Ausgangspunkt ist dabei das Verhältnis Jesu zu Johannes dem Täufer. Sch. spricht hier - vielleicht etwas überpointiert - von einer "zweifachen Bekehrung": Die erste Bekehrung war die Hinwendung Jesu zur Verkündigung des Täufers, der Eintritt in dessen Schülerkreis und die Taufe durch ihn, die zweite sodann die Trennung vom Täufer, wohl auf Grund eines eigenen Berufungserlebnisses (Lk 10,18!), das ihm die Gewissheit der gegenwärtigen Nähe der Gottesherrschaft und - als weiteres Zentralthema seiner Verkündigung - die grenzen- und bedingungslose Güte Gottes erschlossen habe. Es folgt eine differenzierte Charakteristik der "Jesus-Gruppe" und der Stellung Jesu in ihr: Jesus hatte zwar auch Züge des Weisen wie des Lehrers; zentral galt er seinen Anhängern und Anhängerinnen jedoch als eschatologischer Prophet. Zeugnisse wie Mk 6,15; 8,28; 9,11-13 lassen darüber hinaus vermuten, "daß die Menschen in Jesus, wie schon in Johannes dem Täufer, die Gestalt Elias, des thaumaturgischen Propheten, gesehen haben, dem die jüdische Tradition eine Sendung für die letzten Zeiten zuschrieb" (129). Die eschatologische Ausrichtung Jesu kommt vor allem in seinem Umgang mit dem für seine Verkündigung zentralen Begriff der Gottesherrschaft zum Ausdruck. Hier liegt für Sch. denn auch das entscheidende Argument gegen die These von Jesus als einem galiläischen Kyniker: Deren Versuch, das Eschatologische als sekundäre Zutat zur Botschaft von der Gottesherrschaft auszuscheiden, erweist sich als unmöglich. Im Gegenzug dazu plädiert er sogar für eine stärkere Betonung von deren eschatologischer Komponente. Jesus war weder ein Sozialrevolutionär, noch erwartete er eine Verwandlung gegenwärtiger irdischer Verhältnisse. Gottes Heil betrifft zwar auch den Bereich des Leiblichen und wirkt durch Jesu Heilungen in die Gegenwart hinein, doch sind diese nur Hinweise auf das, was Gott sich allein als zukünftiges heilschaffendes Handeln vorbehalten hat (152 f.).

Wichtig ist für Sch. insbesondere die völlige Übereinstimmung zwischen Jesu Verkündigung des Reiches und seinen Taten, den "Zeichen des Reiches", wobei er zu diesen Taten auch die Hinwendung zu Kindern, Prostituierten, Zöllnern und Sündern zählt: Jesus war überzeugt, "daß sein eigenes Handeln der Bereich ist, wo das Handeln Gottes selbst erfolgt und das erwartete Heil bereits leibhaft wird" (175). Abgerundet wird das Bild des öffentlichen Wirkens Jesu durch eine Erörterung seiner Stellung zu den jüdischen Traditionen. Sch. beurteilt diese Stellung - sicher zu Recht - als überwiegend positiv: Auch das "relative Schweigen" Jesu zu bestimmten grundlegenden Überzeugungen des Judentums - wie etwa der Erwählung Israels als Volk des Bundes - berechtigt nicht zur Annahme einer ablehnenden Haltung (187). Unverkennbar ist jedoch eine folgenreiche Veränderung der Perspektive: Jesus gründete seine Heilszuversicht nicht durch den Rekurs auf vergangenes Handeln Gottes, sondern auf die Gewissheit der Gegenwart und Zukunft seiner Herrschaft. Kritisch äußerte er sich im Wesentlichen nur über das Gesetz. Aber weder handelte es sich dabei um ein vorherrschendes Thema seiner Verkündigung, noch waren seine Äußerungen (mit Ausnahme der strittigen Stelle Lk 16,15) grundsätzlicher Art. Seine Kritik galt einzelnen halachischen Bestimmungen. Er war "weder für, noch gegen das Gesetz"; er orientierte sich allein an der grenzenlos schenkenden Gnade Gottes (214).

Der relativ kurz gehaltene dritte Hauptteil ist dem Problem des Selbstverständnisses Jesu gewidmet. Dabei werden zunächst zwei Traditionselemente vorgestellt, die als authentische Zeugnisse einer impliziten Christologie gelten können, nämlich der prononcierte Gebrauch der "Amen"-Formel durch Jesus und das hervorgehobene "Ich" zahlreicher Logien. Hinsichtlich eines möglichen Gebrauchs expliziter Hoheitstitel durch Jesus bleibt Sch. begründetermaßen skeptisch. Was den Gesalbten-Titel anlangt, so rechnet er allenfalls damit, dass bereits vorösterlich Anhänger Jesu - "unter ihnen zweifellos Judas Ischariot" - von der Möglichkeit, dass Jesus der erwartete Messias sei, überzeugt waren (240). Das könnte immerhin die schnelle nachösterliche Karriere dieses Titels erklären. Für authentisch hält er zwar die Bezeichnung "Menschensohn" im Munde Jesu, nicht zuletzt wegen ihres Bezugs auf Dan 7 und die Gottesherrschaft, doch stellt er eine direkte Selbstidentifikation Jesu mit dem Menschensohn in Frage: Es gehe allenfalls um die Andeutung eines "solidarischen Verhältnisses" Jesu zum kommenden Menschensohn in symbolischer Sprache (257).

Thema des vierten Hauptteils ("Le dénouement") ist Jesu Lebensausgang. Sch. verzichtet - hier vielleicht allzu zurückhaltend - auf Spekulationen über die Motivation Jesu für seinen Zug nach Jerusalem und sein mögliches Todesbewusstsein: Wir wissen darüber nichts. Mit um so größerem Nachdruck stellt er die prophetische Aktion Jesu im Tempel als den Tod Jesu auslösendes Ereignis heraus: Diese den Tempel und seinen Kult in Frage stellende Symbolhandlung forderte zumindest die Priesterschaft zu gewaltsamen Gegenmaßnahmen heraus. Auf ihre Initiative hin wurde Jesus verhaftet und nach einer "nächtlichen Konfrontation mit jüdischen Autoritäten" - Sch. folgt hier der johanneischen Darstellung (Joh 18,13), die nichts von einer nächtlichen Synhedriumsversammlung weiß - dem römischen Präfekten überstellt, der das Todesurteil fällte. Auch für die Datierung des letzten Mahles folgt Sch. Johannes: Es war kein Pessachmahl, sondern ein Abschiedsmahl angesichts des nahen Todes, den Jesus in seinen Worten über Brot und Becher als letzten Akt eines Lebens deutete, das der Selbsthingabe an andere gewidmet war.

Die Auferstehung Jesu kommt lediglich in Form eines Epilogs zur Sprache, handelt es sich doch bei ihr um ein "metahistorisches" bzw. "transhistorisches Ereignis", das sich - wie schon die kanonischen Evangelien zeigen - beschreibender Darstellung entzieht. Mit historischen Mitteln erfassbar sind allenfalls die Leerfindung des Grabes und die Entstehung des Osterglaubens.

Sch. spart zwar keinen der für die wissenschaftliche Diskussion über Jesus relevanten Themenbereiche aus, beschränkt sich dabei jedoch auf die großen Linien. Untergeordnete Details - mögen sie für Fachleute auch noch so bedeutsam sein - muss er beiseite lassen. Die Darstellung komplizierter Sachverhalte in klarer, schlichter Sprache gelingt ihm durchweg ohne Substanzverlust. Fachbegriffe gebraucht er zwar da, wo sie unerlässlich sind, liefert aber in einem Appendix eingehende Erklärungen für sie nach.

Sicher: Wer einen Aufbruch in Neuland der Jesusforschung erwartet, wird nicht bedient. Sch. bleibt in vertrauten Gefilden der Forschung, wobei das Bemühen um die Einhaltung einer mittleren Linie deutlich ist. Extrempositionen der Forschung schildert er durchweg sachlich und objektiv, wobei er die Frage nach ihren Wahrheitsmomenten nicht beiseite lässt, um sich dann aber fast regelmäßig für einen Ort zwischen ihnen zu entscheiden. Für solche nachgerade programmatisch praktizierte Ausgewogenheit spricht, dass es ihr gelingt, gleichsam Konturen eines sich in der gegenwärtigen Jesusforschung abzeichnenden Konsenses sichtbar zu machen.

So gebührt dem Vf. Dank für ein gut lesbares, informatives Buch, das nicht zuletzt auch wegen der unaufgeregten, auf polemische Schärfe verzichtenden Sachlichkeit seiner Darstellungsweise für sich einnimmt.