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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

532–534

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mittmann-Richert, Ulrike

Titel/Untertitel:

Magnifikat und Benediktus. Die ältesten Zeugnisse der judenchristlichen Tradition von der Geburt des Messias.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1996. VIII, 303 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe 90. Kart. DM 98,-. ISBN 3-16-146590-3.

Rezensent:

Nikolaus Walter

Ulrike Mittmann-Richert legt hier die Druckfassung ihrer Tübinger Dissertation (von 1994) vor, und der Rez. muss um Entschuldigung dafür bitten, dass die Besprechung erst so spät erfolgt.

Der immer wieder reizvolle Text der beiden Hymnen aus der lukanischen Kindheitsgeschichte verdient auch nach der ausgiebigen Auslegungsgeschichte im vergangenen Jahrhundert gewiss eine weitere Bearbeitung. Dabei isoliert die Vfn. die beiden Hymnen (oder Psalmen oder Lieder; die Vfn. möchte sich da terminologisch ebenso wenig festlegen wie der Rez.) zunächst einmal völlig von dem Kontext, in dem sie auf uns gekommen sind, also von Lk 1. Dass diese Vorentscheidung erhebliche Konsequenzen hat, ist ihr bewusst; gerade auf diese Konsequenzen kommt es ihr aber an.

Im Teil I (7-33) untersucht M.-R. die alttestamentlichen Bezüge der beiden Hymnen. Die Untersuchung verdeutlicht (was ja schon vom Rand des Nestle-Aland abzulesen ist), in welchem Maße es sich in beiden Fällen um das handelt, was in der klassischen Philologie als "Cento" bezeichnet wird:1 um ein Mosaik zusammengefügter Bibelstellen, die insgesamt einen neuen, in sich sinnvollen Text ergeben (8-17). M.-R. will zeigen, dass dabei nicht, wie meist angenommen, das Lied der Hanna (1Sam 2,1-10) im Mittelpunkt steht, sondern insbesondere Stellen aus Königspsalmen (wie Ps 88, 19, 131, 71 - jeweils LXX). Später (20) kommt unvorbereitet noch Jes 12 und dann, beim Benediktus, ebenso Jes 9,1-6 (31) als "Motivhintergrund" (17) ins Spiel.

Gerade diese beiden Stellen bilden dann die Hauptstütze für die These, dass es sich bei beiden Hymnen um von Anfang an christliche messianische Geburtslieder handelt. Dass sie keinerlei expliziten Hinweis auf den Glauben an Jesus als den Christus (Messias) enthalten, ist der Vfn. natürlich bewusst (22). Dennoch bilden für sie die - nur aus christlicher Sicht messianisch zu verstehenden - Jesajastellen den Kern ihrer Interpretation (33). Da sie die Analyse konsequent unabhängig vom Kontext in Lk 1 vornimmt, spielt der klare Sachverhalt, dass Lukas zumindest das Benediktus von Zacharias, dem Vater des Täufers Johannes, auf seinen Sohn singen lässt, keine Rolle.

So wird im Teil II (34-62: "Der literarische Grundbestand der beiden Hymnen") die Analyse beider Lieder ohne Berücksichtigung des Kontextes durchgeführt, um "der Konfusion in der Benediktusforschung ein Ende" zu bereiten (34). Die Verse 1,76-77 sieht M.-L. - vermutlich zu Recht, aber mit einer Deutung im Sinne ihrer Grundthese - als nachträglichen Zuwachs zum Benediktus an, und nach weiteren Reduktionen bleiben die Verse 68-69.71-75.78-79 als das eigentliche, in sich zu interpretierende Benediktus übrig (49). Dagegen weist sie beim Magnifikat jeden Vorschlag einer Reduktion des Bestandes ab (50 f.) und erarbeitet nun die interne Kompositionsstruktur des Liedes. Dabei ist z. B. die Beachtung des Parallelismus membrorum nicht mehr aussagekräftig, weil dieser in jüdischer Dichtung um die Zeitenwende ohnehin nicht mehr beachtet worden sei (53 f.); vor allem werden aber alle Erwägungen, die vom (lukanischen) Kontext aus angestellt werden, als "argumentative Willkür" (52) abgewiesen.

Teil III (63-132) wendet sich dann dem "Entstehungskreis" der beiden Psalmen zu. Auch hier werden alle von außen, d. h. vom Kontext her argumentierenden Ansichten zurückgewiesen; nur die Analyse ausschließlich aus "dem Text der Lieder selbst" wird zugelassen. Und da läuft eben alles auf eine Provenienz der Lieder aus dem frühen Judenchristentum hinaus (97-100), obwohl die Vfn. ja selbst festgestellt hatte, dass in ihnen jedes eindeutige Zeichen christlicher Herkunft fehlt (die Erklärung dazu S. 152 ist wohl kaum überzeugend; ich wüsste im NT keine Stelle, wo beim Nachdenken über die Menschwerdung Jesu Hoheitsaussagen über ihn vermieden würden; M.-R. setzt hier einen eigenartigen "Historismus" voraus).

Hier ist nun freilich zu sagen, dass der Aufweis einer messianischen Thematik in den Liedern nicht besagt, dass diese nicht aus Täuferkreisen stammen könnten. Außer Lk 1 belegt ja insbesondere Joh 1 eine in spät-neutestamentlicher Zeit vorhandene messianische Schätzung des Täufers. Was sonst sollte den Vierten Evangelisten veranlassen, seinen Johannes in 1,19-23 (vgl. schon 1,8) so darzustellen, dass er sich selbst mit großem Nachdruck alle eschatologischen Prädikate, voran den Titel "Christus/Messias", abspricht? In Joh 1 geht es wie eben auch in Lk 1 um die vor- und unterordnende Einbindung der Johannes-Geschichte in die Jesus-Geschichte. Und wenn M.-R. in diesem Zusammenhang besonderen Wert auf die Aoristlesart "hat (uns) besucht" in 1,78 als nur aus christlicher Perspektive mögliche Aussage legt, dann ist daran zu erinnern, dass sie diese Lesart derjenigen mit dem Futur schon aus Sachgründen, nicht eigentlich auf Grund der handschriftlichen Bezeugung vorgezogent hatte (46).

Teil IV (133-153) fragt nun noch einmal, welches "messianische Geburtsgeschehen" im Blick der Hymnen stehe. Die Antwort ist nicht mehr zweifelhaft: Es ist - in beiden Hymnen - die Geburt Jesu, nicht etwa die des Täufers. Wichtig ist dabei die genauere Bestimmung des (weiblichen) "Ich", das im Magnifikat jubelt (135). Dass die Sängerin sich selbst als Frau darstellt, die Gott von ihrer schmachvollen Kinderlosigkeit erlöst hat, kann keine Rolle spielen; auf die "textlich umstrittenen Zeilen V. 48a und b" (?) darf man sich dafür nicht beziehen, sondern erst auf V. 49a (136), der die "Großtaten Gottes" in einem universalen Sinn besingt, was nur im Munde der "Messiasmutter", also der Maria, Sinn geben kann (141). Eine Überraschung hält die Vfn. bereit: Die Verse 48a und b beziehen sich auf die fruchtbare Lea (die Textbezüge auf Gen 29,32 und 30,13 sind unbestritten); denn Lea "stellt auf der weiblichen Seite den heilsgeschichtlichen Einsatzpunkt der Volksgeschichte Israels dar" (142; kursiv im Original). Solche Hochschätzung der Lea ist nun freilich kaum literarisch zu belegen (in Ruth 4,11 wird Lea in solcher Funktion genannt - nach Rahel!; Mt 1,1-16 nennt Lea gar nicht), aber diese Deutung macht nach M.-R. die Zugehörigkeit von V. 48 zum Lied der Maria verständlich - und sie hilft, die "Elisabethhypothese" (dazu 94-97) endlich aus dem Verkehr ziehen zu können.

Im Teil V (154-188) geht es um "Die Form der Hymnen", deren Untersuchung nun die gewonnenen Ergebnisse bestätigen soll. Teil VI (189-193) stellt die beiden Lieder in den "Rahmen der neutestamentlichen Hymnodik" hinein; in Teil VII (194-222) folgt dann die eigentliche "Texterklärung" beider Lieder, die natürlich ganz von den bereits feststehenden Ergebnissen bestimmt ist, aber dennoch beachtenswerte Einzelheiten erbringt. Schließlich kommt im Teil VIII (223-238) die lukanische Kindheitsgeschichte als (sekundärer) Rahmen zu einem gewissen Recht - spät, aber im Sinne der Methodik der Arbeit ganz "logisch": eben nach der "Befreiung" der beiden Hymnen "von allen Vorurteilen ..., die über Jahrzehnte hinweg ihr Verständnis verdunkelt und den Blick für ihre theologische Bedeutung getrübt haben" (223). Freilich: Diese "Trübung" währt schon viele Jahrhunderte länger, im Grunde schon seit Lukas (und seit der Meinung einiger Leser im 4./5. Jh., das Magnifikat müsse eigentlich von Elisabeth gesungen worden sein; vgl. die Lesart der altlateinischen Handschriften a, b und l).

Auch in diesem Kapitel geht es kaum um die theologische Konzeption der Kindheitsgeschichten in Lk 1-2, sondern viel mehr um den "Weg des Geburtsmotivs im Urchristentum" (224-231). Denn das ist ein für die Vfn. wichtiges Ergebnis ihrer Arbeit: zu zeigen, wie früh in der Theologie- bzw. Christologiegeschichte des Urchristentums das theologische Nachdenken über die Geburt des Messias begonnen habe. Auch die Betonung der Bedeutung von Jes 12 und 9,1-6 für die Hymnen hat dieses Ziel. Sicher: Die Entwicklung von Geburtserzählungen ist gegenüber der Ausarbeitung von Theologumena über die Messiasgeburt sekundär. Aber die Erzählungen liegen erst gegen Ende des 1. Jh.s vor, und ihre fundamentale Unterschiedlichkeit in Lk 1-2 und Mt 1-2 belegt alles andere als eine schon lange zuvor vorhandene Urstufe. Auch der Bezug auf Gal 4,4 (226 f.) leistet nicht das, was er soll: Paulus reflektiert hier nicht über das Geheimnis der Menschwerdung und entwirft keine Mariologie, sondern sagt etwas über die Einordnung des Gottessohnes in das allgemeine Menschsein. Ohne Mariologie (im engeren Sinne) kommt er genauso aus wie z. B. Markus und noch der Vierte Evangelist (trotz des Hymnus von der Fleischwerdung des Logos).

Man würde die Arbeit unvoreingenommener lesen können, wenn Ulrike Mittmann-Richert sie nicht schon in der "Einführung" (1-6, und dann oftmals wieder) mit einer pauschalen Diskriminierung der gesamten exegetischen Arbeit zum Thema (bis auf vereinzelte Ausnahmen) belastet hätte. Mit solchen Tönen steht die Vfn. sich selbst und der Wirkung ihrer Arbeit ganz unnötig im Wege. Es sei deshalb eigens angemerkt, dass der fachliche Umgang mit der von ihr diskutierten Literatur im Wesentlichen sachgemäß und auch für den anders Urteilenden lehrreich ist. Dafür ist ihr zu danken; ja es kann gesagt werden, dass mit der vorgelegten Arbeit ein neuer Markstein in der Geschichte der Magnifikat- und Benediktusforschung gesetzt wurde, den links liegen zu lassen kein Interessent der beiden Hymnen gut beraten wäre.

Fussnoten:

1) Dazu vgl. jetzt Dirk Schinkel, Das Magnifikat Lk 1,46-55 - ein Hymnus in Harlekinsjacke?, ZNW 90, 1999, 273-279; der ziemlich abwegige Titel verdankt sich vielleicht dem Wohnort des Autors (Schalksmühle, bei Lüdenscheid) - "patch-work" (273, aus Liddell-Scott zitiert) wäre zwar (im Deutschen) nicht schöner, aber schon klarer gewesen; Cento ist der Fach-Terminus, den der Autor denn auch durchweg benutzt.