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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

525–528

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Daly-Denton, Margaret

Titel/Untertitel:

David in the Fourth Gospel. The Johannine Reception of the Psalms.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2000. XIV, 375 S., 1 Taf. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 47. Lw. hfl 200,54. ISBN 90-04-11448-3.

Rezensent:

Rainer Metzner

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer bei Seán Freyne (Dublin) gefertigten Dissertation. Die Arbeit steht in der Tradition atl. Rezeptionsforschung am 4. Evangelium durch M. J. J. Menken, B. Schuchard, E. D. Freed, A. T. Hanson, G. Reim und A. Obermann. (Die Studie von Obermann wurde leider nicht benutzt.) Die Vfn. geht der bisher vernachlässigten Frage nach, welche Rolle David im 4. Evangelium einnimmt. Die These, dass der 4. Evangelist Jesus als neuen und idealen David verstanden hat, wird in feinen Analysen entfaltet. Ausgangspunkt für die Fragestellung der Arbeit ist die Beobachtung, dass der Psalter als Werk Davids ("writer") eine besondere Rolle im 4. Evangelium einnimmt. Von dieser literarischen Davidrezeption ergeben sich Weichenstellungen für die Wahrnehmung eher subtiler Davidresonanzen ("written about").

In der Einleitung stellt die Vfn. ihre Methodik vor. Sie orientiert sich am literarischen Modell der Intertextualität (T. S. Eliot). Johannes benutzt den Psalter nicht nur als Zitatenquelle, sondern erschafft in der Mischung von Psalter und Jesusgeschichte ein neues Ganzes mit eigener Individualität. Der Psalter wird so als transformierter Bezugstext zum Zeugnis der joh Jesusgeschichte. Intertextuelle Bezüge bestehen als Zitate mit erkennbarer Quellenbenutzung, als Anspielungen mit z. T. verbalen oder thematischen Einflüssen und als Echos mit eher unbewussten und subtilen Resonanzen. Die Vfn. weiß sich daher nicht nur auf die expliziten Psalmzitate, sondern auch auf die mehr subtilen Psalmresonanzen und die narrativen Davidtraditionen des AT und der frühjüdischen Davidrezeption verwiesen. Nachneutestamentliche Quellen wie der Psalmentargum oder der Midrasch Tehilim werden mit berücksichtigt, da sie nach Sicht der Vfn. wertvolle ältere jüdische Interpretationsmethoden bewahren.

Der 1. Teil der Studie vergleicht den joh Psalmgebrauch mit der Psalmrezeption im übrigen NT. Die Vfn. zeigt, dass Johannes den Psalmen eine größere Rolle beigemessen hat als etwa die Synoptiker. Statistisch bietet der 4. Evangelist unter den Schriftzitaten den größten Anteil an Psalmzitaten (76 % gegenüber durchschnittlich 25 % bei den Synoptikern). Auch konzentriert Johannes die Psalmzitate nicht nur auf die Passionsgeschichte, sondern verteilt sie über das ganze Werk. Auswahl, Form und Ort im Text zeigen, dass die joh Psalmzitate eine integrale Rolle für den Gedankengang des ganzen Evangeliums haben.

Der 2. Teil weist in einer detaillierten und fundierten Analyse frühjüdischer Psalmrezeption die Annahme der davidischen Autorschaft der Psalmen nach. Die Vfn. zeigt im Einzelnen, wie alte Überlieferungen von David als Gründer des Tempels und des Kultes, als Beter und Psalmist sowie die historische Überschriftentradition einen Davidisierungsprozess der Psalmen auslösten (Ps 151 LXX; 4QMMT; 11QPsa), der zu einer allgemeinen Anerkennung der davidischen Autorschaft des Psalters im frühen Judentum und Christentum führte. Johannes musste daher bei der Rezeption der Psalmen an David und seine Geschichte denken. Er nimmt eine frühjüdische Interpretationslinie auf, die David nicht als Dynastiegründer oder als Chiffre für Messianismus, sondern als Psalmist, Beter, Prophet, Kultgründer und Weisen versteht. Von daher erklärt sich das Fehlen davidisch-messianischer Interpretationen des Jesusmaterials im 4. Evangelium ("Sohn Davids"). Johannes verzichtet auf die Zitation bekannter Psalmtexte wie Ps 2,7 und Ps 110,1, die der joh Präexistenzchristologie widersprechen.

Teil 3-4 untersucht der Reihe nach die 10 expliziten Psalmzitate des 4. Evangeliums. Naturgemäß nimmt dieser Teil den größten Raum der Studie ein. In kenntnisreichen und kompetenten Einzelnachweisen wird der Leser auf die Spur Davids im 4. Evangelium gebracht. Die Ergebnisse können hier nur in Kürze genannt werden.

Davidassoziationen werden in Joh 2,17 (Ps 68,10LXX) über das Tempelmotiv (2Sam 24,18-25; 4Q522; Joh 2,14-22) aufgedeckt. Joh 6,31 (Ps 77,24LXX) wird auf dem Hintergrund mahlgemeinschaftlicher Davidszenen (2Sam 6,19; 1Chr 12,38-40; 16,3) und eschatologischer Daviderwartungen bezüglich einer erneuten Mannaspeisung (QohR 1,9,123) interpretiert. Für Joh 7,38 (Ps 77,16.20LXX) verweist die Vfn. auf mit dem Tempelfelsen Davids verbundene frühjüdische Lebenswassermotive. Joh 10,34 (Ps 81,6LXX) wird im Kontext der Hirtenfunktion Davids (Ez 34,23; 37,24; Joh 10,1-18) und des Richteramtes Gottes/Jesu (Ps 82,1; Joh 10,22-39) interpretiert. Davidische Resonanzen ergeben sich in Joh12,13 (Ps 117, 26LXX) durch 1Sam 17,45, durch das Königsmotiv (Sach 9,9.10; Ps 72,1.8), durch die Palmenzweige für den Altar beim Laubhüttenfest, das auf den Bund mit David verweist (1Kön 8,66), und durch die in jüdischer Exegese vorkommende Verbindung von Ps 118 mit David (MTeh 118,21). Joh 13,18 (Ps 41,10) erinnert an den Verrat Davids durch einen Freund (Ps 55,13 f.; 2Sam 18,28). Die Darbietung von Brot und die Ablehnung Jesu durch einen Teil seiner Gefolgsleute (Joh 6) hat in einer rabbinischen Davidinterpretation eine Parallele (MTeh 41,7). Joh15,25 (Ps 68,5LXX) verweist auf den grundlosen Hass Sauls, mit dem er David töten wollte (1Sam 19,5). Das Teilen der Kleider in Joh 19,24 (Ps 21,19LXX) erinnert an die Übertragung der Königswürde auf David (1Sam 15,27 f.; 24,1-22; MTeh 57,3). Das ungenähte Gewand symbolisiert den dauernden königlichen Status Jesu analog zur ewigen Königsherrschaft Davids. Der Durst Jesu in Joh 19,28 (Ps 68,22LXX) erinnert an die Sehnsucht Davids, Gottes Herrlichkeit zu sehen (Ps 42,3; 63,1-3; vgl. Joh 18,11). Schließlich wird die Aufnahme von Ps 33,21LXX in Joh 19,36 von Davids Königtum her gedeutet. Das Sacharja-Zitat (Joh 19,37) mit den königlichen Assoziationen in Sach 12 stützt diese Annahme.

Teil 5 untersucht die mehr subtilen Formen intertextueller Anspielungen und Echos. Hier zeigt sich eine tiefe Vertrautheit des Evangelisten mit Sprache und Vorstellungswelt des Psalters. Dabei werden u. a. königliche Davidtraditionen (2Sam 7,12 f.; Ps 89) im Kontext der Messiaserwartung (Joh 7,42; 12,34) und der joh Erhöhungsvorstellung, die Treue gegenüber dem Willen des Vaters (Ps 40,8 f.; Joh 4,34; 6,38), Passionsmotive wie die Erschütterung der Seele (Ps 42,6.7.12; 43,5; Joh 12,27; 13,21), das Hirtenmotiv (Ps 23; 95,7; Joh 10,1-18) sowie christologisch rezipierte Motive (Licht [Ps 27,1; Joh 8,12], Wahrheit [Ps 45,5; Joh 18,37], "Gott" [Ps 35,23; 45,7 f.; Joh 1,1; 20,28]) behandelt. Ps 110 nimmt Johannes subtil und verborgen in transformierter Gestalt seiner mit dem Kreuz verbundenen Erhöhungsvorstellung auf. Schließlich soll der Psalter-Prolog (Ps 1-2) die Zweiteilung des Johannesevangeliums beeinflusst haben: Der Zwei-Wege-Dualismus von Ps 1 spiegelt sich im Entscheidungsdualismus zwischen Glaube und Unglaube, Leben und Tod von Joh 1-12 wider. Der Plan gegen Jesus, die Rechtfertigung des Erhöhten vor Gott und die Seligpreisung der Glaubenden (Joh 20,29) in der Passions- und Auferweckungsgeschichte nehmen Ps 2,1-3, Ps 2,4-9 und Ps 2,12 thematisch auf. Joh 20,30 f. bietet eine Zusammenfassung von Ps 1-2: Der Glaube an Jesus Christus als Sohn Gottes vergegenwärtigt Ps 2, die Verheißung ewigen Lebens Ps 1. Die Kenntnis solcher Anspielungen wird zum einen in der Vertrautheit der ersten Leser mit den Psalmen begründet, zum anderen damit, dass der Evangelist spontan in die durch sein Schriftstudium erworbene Sprache und Gedankenwelt der Psalmen eintaucht.

Der 6. Teil der Arbeit spürt Davidschattierungen im joh Jesusbild auf. Hier werden die vielfältigen Vernetzungen zum atl. Davidbild offengelegt. Die joh Passionsgeschichte wird auf dem Hintergrund der Verschwörung Absaloms gelesen (2Sam 15-18). Dabei werden u. a. Motive wie Leidensnachfolge der Anhänger (Joh 12,26; 15,20; 1Sam 22,23; 2Sam 15,21), Zerstreuung der Gefolgsleute in Bedrängnis (Joh 16,32; 2Sam 17,1-4), Verrat eines Vertrauten bei Nacht (Joh 13,27.30; 2Sam 15,7-9; 17,1), der Tod eines Menschen für viele (2Sam 17,3; Joh 11,50) sowie mehr unscheinbare Anklänge wie der Bach Kidron (2Sam 15,23; Joh 18,1) oder der Aufbruchbefehl an die Gefolgsleute (Joh 14,31; 2Sam 15,14) genannt.

Die Täuferszene Joh 1,29-34 wird auf dem Hintergrund der Salbung Davids zum König in 1Sam 16,1-13 interpretiert. Die größte Davidähnlichkeit Jesu wird durch das Hirtenbild nahegelegt: Jesus ist wie David der gute Hirte, der sein Leben für die Herde Gottes einsetzt (1Sam 17,34-37; 19,5; 2Sam 24,17; Joh 10,11.14). Er wird wie der in der Zukunft erwartete David der eine Hirte sein (Ez 34,23; 37,24; Joh 10,16), der das Volk zusammenführt (Ez 34,23; 37,17; Joh 10,16.28-30; 11,51f.). Johannes orientiert sich dabei an den nicht dynastisch geprägten Daviderwartungen eines idealen Königs und Garanten der Wahrheit z. Z. des Zweiten Tempels (Ez; Jes 55,1-5; Ps 45,5; vgl. Joh 18,37).

Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung. Die joh Daviderinnerungen haben einen kumulativen Effekt, der den joh Jesus als idealen David erscheinen lässt. Motive wie Leiden, Sohnschaft, Eifer für Gott, Hirtenamt, ewiges Königtum und endgültige Rechtfertigung durch Gott lassen das joh Jesusbild auf dem Hintergrund der Daviderwartungen zur Zeit des Zweiten Tempels aufleuchten. Die Meinung, dass Johannes keine positiven Beziehungen zwischen David und Jesus erkennen lässt, muss daher nach Sicht der Vfn. aufgegeben werden.

Der Vfn. gelingt es, ein eindrucksvolles Bild joh Davidresonanzen aufzubauen. Nicht immer ist jedoch der Leser gewillt, ihren Gedanken zu folgen.

Die Davidanklänge in Joh 7,38 (144-161) werden über extensive exegetische Umwege geöffnet: Mosefelsen - Tempelfelsen - Lebenswasser - David als Gründer des Tempels und als Wächter über die Tempelquellen. Ob die ersten Leser sich dieser weitreichenden Assoziationen bewusst waren, bleibt zweifelhaft. - Joh 19,28 wird u. a. auf dem Hintergrund von 2Sam 23,13-17 gedeutet (226). Die Parallelsymbolik eines königlichen "Siegestrankes" wirkt überzogen. Anders als Jesus trinkt David nicht von dem gereichten Getränk. - Die Samuel-Täufer-Typologie (303-307) kann nicht überzeugen. Anders als in 1Sam 16,1-13 kommt es in Joh 1,29-34 nicht zu einer der Salbung Davids entsprechenden messianischen Taufe Jesu. Deshalb lässt sich Joh 1,29-34 nicht als Inthronisationsbericht verstehen. Geist und Gottessohnschaft kommen Jesus von Ewigkeit her zu (Joh 1,32-34), nicht erst durch den Akt einer messianischen Adoption (vgl. H.-C. Kammler, Jesus und der Geistparaklet, in: O. Hofius/H.-C. Kammler, Johannesstudien, Tübingen 1996, 87-190, hier: 155-169).

Die angenommenen strukturellen Verbindungen zwischen Ps 1-2 und Joh (278-286.322f.) sind nicht so eindeutig. Der Entscheidungsdualismus (Ps 1) begegnet nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten Teil des Evangeliums (vgl. 14,23 f.; 15,1-8). Die Abschiedsreden Joh 13-17 haben in Ps 1-2 keine Entsprechung. Die Beziehung von Sehen und Glauben in Joh 20,29 spielt im Makarismus Ps 2,12 keine Rolle. Die Verheißung des Lebens ist in Ps 1 mit dem Gesetzesgehorsam, nicht mit dem Glauben an den Sohn Gottes (Joh 20,31) verbunden. Die Bedeutung von Ps 1-2 für die Komposition des Joh wird m. E. überschätzt. - Unbedacht bleiben schließlich daviduntypische Züge im joh Jesusbild, wie Jesu Sündlosigkeit (Joh 7,18; 8,46; vgl. dagegen 2Sam 11; 12,10 f.; 1Chr 21 - Davids Sünden wurden von rabbinischen Autoren diskutiert [vgl. TRE 8, 386]), sein göttliches Vorauswissen und seine Souveränität im Leiden. Wie sind solche christologischen Züge mit dem Davidbild zu vereinbaren?

Die aufgeführten Bedenken können jedoch den Wert der Arbeit nicht schmälern. Methodische Klarheit, exegetische Kenntnis und Kompetenz, souveräner Umgang mit der Primär- und Sekundärliteratur sowie im Ganzen überzeugende Forschungsergebnisse werden diese intertextuelle Arbeit den ihr gebührenden Platz in der Johannesforschung finden lassen.