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Ausgabe: | Mai/2001 |
Spalte: | 521–525 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | (1) Crossan, John Dominic (2) Kampling, Rainer [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | (1) Wer tötete Jesus? Die Ursprünge des christlichen Antisemitismus in den Evangelien. Aus dem Engl. von P. Hahlbrock. |
Verlag: | (1) München: Beck 1999. 281 S. gr.8. Lw. DM 48,-. ISBN 3-406-44553-5. |
Rezensent: | Dieter Sänger |
Die Untertitel präzisieren, worum es jeweils geht. Gefragt wird nach den ntl. Wurzeln des christlichen Antijudaismus und danach, wie christliche Theologie angesichts der Schoah mit diesem Erbe selbstkritisch und verantwortlich umzugehen hat. Von daher versteht es sich, dass methodische und hermeneutische Reflexionen einen relativ breiten Raum einnehmen. Sieht man jedoch einmal von dem gemeinsamen Anliegen ab, den in der Christentumsgeschichte und auch in der Schriftauslegung latent bis offen zu Tage tretenden Antijudaismus aus dem christlichen Denken zu verbannen, verfolgen beide Publikationen unterschiedliche Absichten.
Die von Kampling herausgegebenen Beiträge liefern anhand der wichtigsten in diesem Zusammenhang diskutierten neutestamentlichen Zeugnisse (Synoptiker, Joh, Paulus [Röm, 2Kor, Gal], Past, Hebr) eine aktuelle Bestandsaufnahme der die gegenwärtige exegetische Debatte bestimmenden Positionen. Ergänzt wird sie durch systematisch-theologische Überlegungen zur Schriftinterpretation und eine aus religionspädagogischer Perspektive formulierte Anfrage an das traditionelle Selbstverständnis historisch-kritischer Exegese. Crossan hat sein Ziel enger gesteckt. In seiner Studie1, einer gegen R. E. Browns monumentales Werk The Death of the Messiah2 gerichteten Streitschrift, konzentriert er sich im Wesentlichen auf die Passionsberichte der kanonischen Evangelien. Darüber hinaus bezieht er nur noch das EvPetr in die Untersuchung ein, das für ihn die älteste literarische Gestalt der Passionsüberlieferung (PÜ) aufbewahrt hat.
Zunächst zu C., dann zu den Beiträgen in K.s Sammelband: Die Überzeugungskraft von C.s These, die kanonischen Passionserzählungen seien von Beginn an als "erfinderische Polemik" (54) und tendenziell judenfeindlich zu charakterisieren (112-118.189 f.195.241 f.), hängt nicht zuletzt von der Plausibilität seines mehrschichtigen Stufen- und Erweiterungsmodells ab, in das er die Genese der PÜ einpasst.
Am Anfang der Entwicklung steht ein sog. "Kreuzevangelium" (KrEv), das C. aus dem EvPetr extrahiert. Es wurde bereits in den 40er Jahren schriftlich fixiert und besteht aus drei organisch miteinander verknüpften Sequenzen: Kreuzigung und Kreuzesabnahme (EvPetr 1,1 f.; 2,5b-6,22), Begräbnis und Grabwache (7,25; 8,28-9,34), Auferstehung und Zeugnis der Wächter (9,35-10,42; 11,45-49). Das KrEv lag zunächst Mk vor, der es als alleinige Quelle seiner Passionsdarstellung benutzte, um dann später unabhängig von ihm und neben Mk auch von den drei anderen Evangelisten rezipiert zu werden, jeweils angereichert durch weiteres Material. Die überschießenden Teile des EvPetr gelten als sekundäre Zuwächse aus den kanonischen Evv. bzw. als redaktionelle Überleitungen (36-41.270-272, vgl. 264 f.).
Trotz seines relativ kurzen zeitlichen Abstands zum Passionsgeschehen ist das KrEv historisch nahezu wertlos. Es enthält keine "erinnerte Geschichte", sondern ist ganz nach dem Muster "historisierter Prophetie" gestaltet (13.148.171.196 u. ö.). Darunter versteht C. in narrativer Form vergegenwärtigte Erinnerung an atl. Prophetenworte (z. B. Jes 50,6 f.; 53,7.12; Am 8,9; Sach 12,10; Ps 2,1; 22,1.18; 69,21), deren Motive ihrem jetzigen Kontext so einverleibt worden sind, dass ihr eigentlicher geschichtlich-prophetischer Charakter kaum mehr erkennbar ist. Bereits das KrEv belastet die Juden mit dem Tod Jesu, während es die Römer freispricht. Doch diese einer unterprivilegierten Randgruppe entstammende judenfeindliche Propaganda wäre wirkungslos geblieben, hätten nicht die vier Evangelisten sich ihrer bemächtigt und sie weiter verschärft, am intensivsten Mt. Nach der Erhebung des Christentums zur offiziellen Reichsreligion schlug der von den Evv zur Entfaltung gebrachte, ursprünglich religiös motivierte Antijudaismus ins Politische um und wurde gefährlich. Seine Mutation zu einer "potentiell mörderischen Lehre" (11) war jedoch nicht die Folge eines verhängnisvollen Missverständnisses, sondern die notwendige Konsequenz einer fatalen Lüge (10, vgl. 55). Ihr Wesenskern besteht im anhaltenden Verschweigen des Faktums, dass in der PÜ von Anfang an eine Kette fiktionaler Ereignisse in "tatsächlich geschehene Geschichte" umgeschrieben worden ist (54).
Dem Buch ist auf Schritt und Tritt die persönliche Betroffenheit des Autors abzuspüren. Sein engagierter Appell, sich nicht länger der Einsicht in die wahren Bedingungsfaktoren des christlichen Antijudaismus zu verschließen, ist für C. aber auch ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit. Doch die kaum problematisierten methodischen und traditionsgeschichtlichen Vorentscheidungen wecken massive Zweifel an den Resultaten. C. kann nämlich die ihn bewegende, das ganze Werk strukturierende Hauptfrage, ob die Passionserzählungen der Evv als "Geschichte oder Propaganda" (10) zu beurteilen sind, nur deshalb im Sinne der zuletzt genannten Alternative beantworten, weil er von zwei sich wechselseitig stützenden Prämissen ausgeht: Erstens führt kein Weg vom KrEv zur historischen Passion, und zweitens bildet das KrEv in seiner aus dem EvPetr rekonstruierten Form die literarische "Hauptquelle" (172) der kanonischen Passionsberichte. Freilich bleibt C. den Nachweis für die eine wie für die andere Behauptung schuldig. Vor allem vermag er keine überzeugende Erklärung für den von ihm selbst als merkwürdig empfundenen Tatbestand zu geben, dass die Evv kein einziges Textsegment des angeblich von jedem Einzelnen benutzten KrEv gemeinsam haben. Die lapidare Auskunft, es habe sich "zufällig eben so ereignet" (173), die Verfasser der Evv hätten "es eben getan und fertig" (174), macht ungewollt deutlich, auf welch brüchigem Fundament C. baut. Am entscheidenden Punkt entzieht sich seine Argumentation der methodischen Kontrolle. Zudem weisen alle Indizien darauf hin, dass es sich genau umgekehrt verhält. Das EvPetr setzt die kanonischen Evv. voraus und ist von ihnen abhängig. Einen eigenständigen Zeugniswert besitzt es nicht (vgl. J. B. Green, ZNW 78, 1987, 291-301). Entpuppt sich demnach das sog. KrEv als ein reines Konstrukt, gilt dies in gleicher Weise für die weitergehende These einer von antijüdischen Ressentiments geleiteten Fortschreibung des KrEv durch die Evv. Niemand wird C. widersprechen, wenn er die schon früh einsetzende judenfeindliche Inanspruchnahme der Passionserzählungen anprangert und hier ein radikales Umdenken fordert. Auf nichts anderes zielt aber auch der mit großem Ernst betriebene Versuch R. E. Browns, die Ergebnisse seiner exegetischen und historischen Rückfrage mit einer hermeneutisch reflektierten Sachkritik der zur Debatte stehenden Texte zu verbinden. Insofern stößt der gegen ihn erhobene Vorwurf ins Leere, sein Beharren auf der prinzipiellen Möglichkeit, den von den Evv geschilderten Handlungsablauf der Passion Jesu mit einem gewissen Grad an historischer Wahrscheinlichkeit noch ermitteln zu können, salviere unter der Hand einen subkutan immer noch vorhandenen christlichen Antijudaismus.
Nimmt man C. zum Maßstab, bewegen sich die meisten Beiträge des von Rainer Kampling herausgegebenen Sammelbands in konventionelleren Bahnen. Obwohl sie kaum umstürzend Neues bieten, vermitteln sie doch eine Fülle von Impulsen, die hoffentlich dazu führen werden, bisherige Fehleinschätzungen und Einseitigkeiten zu korrigieren. Dass angesichts der Thematik positionelle Differenzen nicht ausbleiben können, versteht sich beinahe von selbst. Diese Vielstimmigkeit ist aber kein Manko, sondern ein qualitatives Plus. Sie zeigt nicht nur, dass "die Exegeten von der guten Kontroverse" leben (12), sondern bestätigt einmal mehr den positiven Effekt des Schriftprinzips, nach dem das Eigengewicht der Texte Vorrang vor dem erkenntnisleitenden Interesse des interpretierenden Subjekts hat.
Franz Mußner, einer der exegetischen Pioniere des christl.-jüd. Dialogs, eröffnet den Band. Die Frage "Was macht das Mysterium Israels aus?" (15-30) beantwortet er im Rückgriff auf schon früher Gesagtes. Der Bund Gottes mit seinem Volk und die Erwählung sind die Eckpfeiler, auf denen auch nach der Schoah die "Sonderexistenz der Juden" gründet. Rainer Kampling, "'Und er ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge'. Jesuanisches zur Frage nach dem Ursprung des christlichen Antijudaismus" (54-72), problematisiert die Vermutung, dass durch Jesus selbst Abgrenzungen und polemische Elemente in die Tradition eingeflossen sind, die, losgelöst von ihrem Kontext, eine Eigendynamik entfalten und entgegen ihrem Ursprungssinn antijüdisch funktionalisiert und instrumentalisiert werden konnten. Hubert Frankemölle beklagt in seinem Aufsatz "Antijudaismus im Matthäusevangelium? Reflexionen zu einer angemessenen Auslegung" (73-106) eine babylonische Sprachverwirrung bei der Verwendung des Begriffs "Antijudaismus". Mt werde er nicht gerecht, da sein Ev einen innerjüdischen Konflikt dokumentiere. Zwischen einer antijudaistischen Rezeption der mit diesem Verdikt belegten Texte "als Rezeption des Lesers" und einer solchen "als Wirkung des Textes selbst" (104) müsse streng unterschieden werden.
Für eine differenzierte Wertung des Befunds plädiert auch Matthias Blum, "Antijudaismus im lukanischen Doppelwerk? Zur These eines lukanischen Antijudaismus" (107-149). Die negative Darstellung der jüdischen Oberen vor allem in der Passionsgeschichte habe sicher eine antijüdische Auslegung begünstigt. Gleiches gelte für die an jüdisches Publikum adressierten Paulusreden der Apg. Polemische Diffamierung liege Lk aber fern, da seine Primärintention darin bestehe, "mit harschen Worten zur Buße und Umkehr zu ermahnen" (148). Ein Antijudaismus um der Heiden willen finde sich bei ihm nicht. Klaus Scholtissek unterstreicht in seinem Artikel "Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag" (151-181) die Ambivalenz der joh Aussagen über die Juden, die er als Reflex des Streites um das rechte Schriftverständnis einsichtig zu machen sucht. Dem JohEv gehe es nicht um "die Bestreitung des erwählenden Geschichtshandelns Gottes an und in Israel", sondern darum, das Christusereignis in den "Horizont der biblischen Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem erwählten Volk" einzuschreiben (176).
Die drei Paulus gewidmeten Studien von Michael Theobald ("Der ,strittige Punkt' [Rhet. a. Her. I,26] im Diskurs des Römerbriefs. Die propositio 1,16 f. und das Mysterium der Errettung ganz Israels" [183-228]), Gerhard Dautzenberg ("Alter und neuer Bund nach 2Kor 3" [229-249]) und Peter Fiedler ("Antijudaismus als Argumentationsfigur. Gegen die Verabsolutierung von Kampfesäußerungen des Paulus im Galaterbrief" [251-279]) sind einander komplementär zuzuordnen. Struktur- und argumentationsanalytische Detailuntersuchungen führen die beiden Erstgenannten zu dem Schluss, dass weder der Röm einer (heiden-)christlichen Israelvergessenheit das Wort redet, noch dass die exegetisch wie hermeneutisch schwierigen Verse 2Kor 3,14 f. trotz ihrer "antijüdische[n] polemische[n] Spitze" eine zeitlos gültige Auslegungsnorm formulieren (248). F. wirft dem Apostel zwar im Gal einen massiven Angriff auf "das jüdische Selbst- und Glaubensverständnis" vor (272), konzediert aber zugleich, dass es auch für Paulus "den Christusglauben ... nur auf der Grundlage des biblisch-jüdischen Gottesglaubens" gibt (275).
Für Franz Oberlinner, "Antijudaismus in den Pastoralbriefen?" (281-299), setzt der anonyme Verfasser der Past bei seinen Lesern eine latent antijüdische Haltung voraus, von der er selbst nicht frei ist. Der bereits negativ vorgeprägte Begriff "jüdisch" werde freilich unspezifisch gebraucht. Er kennzeichne metonymisch die aktuelle Frontstellung, die allerdings nicht zwischen Juden und Christen, sondern zwischen Rechtgläubigen und (christlichen) Falschlehrern verlaufe. Daher impliziere die vom Judentum sich distanzierende Begrifflichkeit auch kein religiös-ethnisches Konkurrenzverhältnis. Sie habe vielmehr stabilisierende Funktion und diene zur Vergewisserung der eigenen Identität. Knut Backhaus beendet den exegetischen Durchgang mit Erwägungen zu "Das wandernde Gottesvolk - am Scheideweg. Der Hebräerbrief und Israel" (301-320). Er gelangt zu dem m. E. überzeugend begründeten Ergebnis, dass der Hebr "erweislich keine antijudaistische Schrift" ist, sofern man unter "Antijudaismus" eine literarische Äußerung versteht, "die textpragmatisch auf eine polemisch-apologetische Depotenzierung Israels", seiner religiösen und ethischen Geltungsansprüche zielt. Jedoch war auch der Hebr, eine aus "der biblischen Theozentrik und der biblischen Verheißung" (319) lebende Trostschrift, nicht davor geschützt, judenfeindlich vereinnahmt (Irenäus, Origenes) und zu Gunsten des heilsgeschichtlichen Substitutionsmodells missdeutet zu werden. Damit teilt er das Schicksal anderer neutestamentlicher Zeugnisse. Wie sie musste er dem in jeder Textrezeption liegenden "Risikopotential" Tribut zahlen (320).
Es gehört sicher zu den großen Vorzügen der in dem Sammelband vereinigten Studien, dass sich ihre Verfasser einer Streitkultur verpflichtet wissen, die auf unnötige Polarisierung verzichtet und konträren Positionen ihr relatives Recht belässt. Angesichts der Schärfe, mit der sich gerade auf diesem brisanten Themenfeld Theologen oftmals befehden, ist dies keineswegs selbstverständlich. So wenig es angeht, dass Christen ihre Identität auf Kosten ihrer älteren jüdischen Geschwister definieren, so wenig ist es statthaft, den unabdingbaren innerchristlichen Diskurs über die - tatsächliche oder vermeintliche- antijüdische Grundstruktur der eigenen Glaubensurkunde durch Abgrenzungs- und Immunisierungsstrategien zu belasten, wenn nicht gar zum Scheitern zu verurteilen.
Es bleiben, wie könnte es anders sein, eine Reihe von Fragen offen. Die wichtigste Frage durchzieht nahezu alle Beiträge: Ist der christliche Antijudaismus ein Ursprungs- oder ein Degenerationsphänomen? Ist er christologisch essentiell und folglich mit dem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus selbst gesetzt, oder gehört es zur wirkungsgeschichtlichen Tragik der neutestamentlichen Texte, ihrer auktorialen Absicht zuwider als autoritative Legitimationsinstanz missbraucht und zu Gunsten einer von ihren Rezipienten eingeleiteten antijüdischen Funktionsbestimmung instrumentalisiert zu werden? Die meisten votieren für die zweite Option.
Zu den Ausnahmen zählt Heike Bee-Schroedter, "Die Schoah als Herausforderung an das traditionelle Selbstverständnis historisch-kritischer Exegese. Religionspädagogische Impulse für eine kontextuelle bibeltheologische Hermeneutik" (321-363). Sie lehnt diese Alternative generell als hermeneutisch defizitär ab und konfrontiert sie mit der Forderung, judenkritische Texte müssten innertextlich relativiert "und als vermittlungsbedingt, nicht jedoch als wesentlich zur christlichen Botschaft gehörend" charakterisiert werden (362). Nur - wer darf sich auf Grund welcher Kriterien hier Entscheidungskompetenz anmaßen und den verlangten Reinigungsprozess in die Wege leiten? Und würden die inkriminierten Texte damit nicht gerade doch der Wirkungsgeschichte als dem eigentlichen Ort ihrer Wahrheit übergeben?
Nicht allein über die theologischen Konsequenzen der sich hier schürzenden hermeneutischen, exegetischen und historischen Problemfelder muss weiter nachgedacht werden, sondern auch über die spätestens an diesem Punkt aufbrechende Kanonsfrage. Dafür, dass der Band hierzu anregt, indem er den status quaestionis bilanziert und daraus erwachsende Perspektiven formuliert, sei dem Herausgeber und allen, die an seinem Zustandekommen mitgewirkt haben, herzlich gedankt.
Fussnoten:
1) Es handelt sich um die deutsche Übersetzung von Who killed Jesus? Exposing the Roots of Anti-Semitism in the Gospel Story of the Death of Jesus, San Francisco 21996.
2) The Death of the Messiah. From Gethsemane to the Grave. A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels, 2 Bde. (The Ancor Bible Reference Library), New York u. a. 21998.