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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

446–448

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kumlehn, Martina

Titel/Untertitel:

Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 1999. 351 S. 8. Kart. DM 84,-. ISBN 3-579-02642-9.

Rezensent:

Christoph Dinkel

Ist Religion primär ein innerliches Ereignis? Wenn man der Schleiermacherinterpretation von K.s kenntnis- und verweisungsreicher Göttinger Dissertation folgt, so lautet die Antwort eindeutig: Ja! Religion konstituiert sich zuallererst "am Orte des Subjektes" (51, 55, 122, 285, 310 u. ö.). In der Innerlichkeit des Gefühls offenbart sich uns das Universum. Erst sekundär drängt dieses "unverfügbare individuelle Ursprungsgeschehen" (52) zur Äußerung und damit zur Kommunikation. Mittels des individuellen Symbolisierens generiert der soziale Trieb des Menschen aus der inneren Erfahrung eine Mitteilung. "Das religiöse Urerlebnis" ist jedoch "vor allem dadurch charakterisiert, dass es selbst vom Bewusstsein nicht eingeholt und adäquat begrifflich fixiert werden kann." (54 f.) Daher bleibt jede konkrete Form, in der sich das innere Gefühl mitteilt, notwendig vorläufig und fragwürdig. Daraus ergibt sich zum einen, "daß Religion nur über individuelle Teilhabe authentisch erlebt und gelebt werden kann." (58) Zum anderen folgt daraus, dass man Religion "nicht in ein für alle Mal festgelegter Weise haben" kann (62). Der Religion eignet somit ein negativer Zug: Sie stößt sich von allen "vorgegebenen Beständen religiöser Kultur" (62) ab. Dieser "Negativität der Religion" (ebd.) steht zwar ihre "Positivität" (66) gegenüber: Religion existiert nur in einer Pluralität geschichtlich-konkreter Formen. Doch erhält die Negativität der Religion in K.s Argumentation eindeutig das Übergewicht: Die "positiv bestimmte Religion" muss sich jeweils "unter Abstoßung überkommener Formen am Orte des Subjektes neu" (122) generieren. Die religiöse Sprach- und Sozialform ist somit das Fluide, während das subjektive religiöse Urereignis die feste Größe darstellt.

K. ist in ihrem Interpretationsansatz ganz der subjektivitätstheoretischen Schleiermacherinterpretation verpflichtet, wie sie auch Wilhelm Gräb als Betreuer der Arbeit vertritt. Allerdings nimmt die Autorin auch solche Passagen und Theorieelemente Schleiermachers wahr, die sich nur schwer in dieses Interpretationsmuster integrieren lassen. So hält K. fest, dass nach Schleiermachers Reden "Über die Religion" der prototypische Mensch Adam erst durch die Kommunikation mit seinesgleichen zur Gottesbeziehung fähig wird (vgl. 67). Sie registriert auch, dass sich das Individuum immer schon in den Kontext einer positiven Religion gestellt sieht (vgl. 73) und dass Schleiermacher die Religion daher als "mütterlichen Leib" charakterisieren kann, in dem ein junges Leben genährt und auf die Welt vorbereitet wird (vgl. 122). Schleiermachers wichtige Erkenntnis, dass die Sprache den Denkprozess eines Menschen wesentlich prägt und formt (vgl. 133), bleibt ihr ebenfalls nicht verborgen. Doch wertet K. diese für den subjektivitätstheoretischen Ansatz sperrigen Beobachtungen nicht systematisch aus. Dazu fehlt ihr das systemtheoretische Instrumentarium, mit dessen Hilfe sich die Kommunikation als gegenüber den Bewusstseinsinhalten der Individuen eigenständige und emergente Ebene beschreiben ließe. Dann würde auch deutlich werden, dass bei Schleiermacher dem von K. mit Sorgfalt und unter Verarbeitung einer Fülle von Sekundärliteratur dargestellten Weg von der inneren Erfahrung zur nach außen gerichteten Mitteilung auch ein umgekehrter Weg korrespondiert: nämlich der Weg von der religiösen Kommunikation als primärer Ebene hin zu den einzelnen Bewusstseinssystemen der Gläubigen, deren Gefühl und religiöses Wahrnehmen durch die Inhalte der religiösen Kommunikation maßgeblich bestimmt und geformt werden. Die ganze Ekklesiologie der Glaubenslehre beruht auf dem Gedankengang, dass das "neue Leben jedes Einzelnen aus dem Gesamtleben hervorgeht" (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube 1830/31, Berlin/New York 1999, 113, Bd. II, 207), dass also die Gläubigen ihren Glauben im Wesentlichen aus dem in der Gemeinschaft zirkulierenden Glauben beziehen, auch wenn sie sich ihn dann individuell aneignen. Dieser Weg von der Zirkulation des Glaubens in der Gemeinschaft hin zum Glauben des Individuums ist beim frühromantisch-elitären und kirchenskeptischen Schleiermacher der Erstauflage der Reden, auf die sich K. vor allem bezieht, zwar eher angedeutet (insbes. in der fünften Rede, vgl. K., 70-73) als wirklich ausgearbeitet. Aber für den reifen und theoretisch durchreflektierten Schleiermacher des dogmatischen Hauptteils der Glaubenslehre und weiter Passagen der Sittenlehre ist das Prä des Glaubens der Gemeinschaft vor dem Glauben des einzelnen Individuums konstitutiv. Dass der kirchenorientierte Schleiermacher von der subjektivitätstheoretischen Schule der Schleiermacherinterpretation tendenziell abgeblendet wird, kann man K. nicht anlasten. Viel eher ist bemerkenswert, dass K. trotz der Schultradition, in der sie steht, auch den anderen Schleiermacher wenigstens ansatzweise wahrnimmt und explizit einer "Verabsolutierung des Subjekts" (290) entgegentritt. Ihre Gründlichkeit bei der Schleiermacheruntersuchung und ihr Realitätssinn bewahrt K. vor einer reduktionistischen Schleiermacherwahrnehmung.

K. teilt ihre Arbeit in eine Einleitung, drei Hauptteile und einen Ausblick. Der einleitende Abschnitt informiert über Thema, fundamentale Theorieentscheidungen, die Disposition und die Quellenlage. Dass K. auch die Quellenlage bedenkt, ist bei einer nicht historisch, sondern praktisch-theologisch ausgerichteten Schleiermacherarbeit bemerkenswert und illustriert das hohe Reflexionsniveau der Autorin. Im ersten Teil rekonstruiert K. ausgehend von der Erstauflage der Reden und von der philosophischen Ethik Schleiermachers Theorie des individuellen Symbolisierens und reichert sie durch Beobachtungen zum Verhältnis von Religion und Kunst und von Religion und Geselligkeit an. Im zweiten Teil untersucht K. Schleiermachers Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins und ihr Verhältnis zu seinen sprachtheoretischen und hermeneutischen Überlegungen. Der dritte Teil der Arbeit wendet sich Schleiermachers Frömmigkeitstheorie zu. Er gipfelt in der zutreffenden, aber auf Grund des religionspädagogischen Interesses der Autorin leider nicht weiter fruchtbar gemachten Erkenntnis, dass "alle wesentlichen Elemente des Schleiermacherschen Denkens" (255) in seiner Theorie der religiösen Rede, also in seiner Predigtlehre zusammenlaufen. Als Abschluss des dritten Teils illustriert K. ihre theoretischen Erkenntnisse anhand einer äußerst beobachtungsreichen Interpretation von Schleiermachers Weihnachtsfeier (256-273). Hier kommt K.s auch sonst auffallende Sprachgewandtheit besonders zur Geltung. Vor allem aber ist es erhellend, wie feinsinnig K. Schleiermachers Bemühen beobachtet, seine Theorie des geselligen Betragens in diesem literarischen Kleinod in Szene zu setzen.

Den drei Hauptteilen der Arbeit ist ein relativ ausführlicher Ausblick angefügt, der die gewonnenen Einsichten zu aktuellen religionspädagogischen Entwürfen und Problemlagen in Beziehung zu setzen versucht. K. sucht dabei auch Anschlüsse an die semiotische Theorie Umberto Ecos, wie sie in der Praktischen Theologie u. a. von W. Engemann und M. Meyer-Blanck rezipiert wurde. Ob jedoch das semiotische Modell eines prinzipiell unabschließbaren Zeichenprozesses von K. durch den religiös motivierten Hinweis ausgehebelt werden kann, "daß bei Gott endgültig alle Zeichenprozesse ... aufgehoben sein werden und die unendliche Semiose damit an ihr Ziel gekommen sein wird" (314), erscheint vor allem im Hinblick auf Schleiermachers Eschatologie fraglich. Denn für Schleiermacher wird am Ende der Zeiten zwar jedes wirksame Handeln aufhören, aber das darstellend-symbolisierende Handeln - der Gegenstand von K.s Untersuchung - wird in der Form des Gotteslobs der Seligen von ewiger Dauer sein (vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 163, Bd. II, 433-437) - und was sollte das anderes sein als ein unabschließbarer Zeichenprozess? Wichtiger am Ausblick der Arbeit ist allerdings K.s Grundthese, dass "das Schleiermachersche Paradigma religiöser Kommunikation in einer entsprechend modifizierten, den gegenwärtigen Bedingungen angepassten Reformulierung und praktischen Umsetzung dazu beitragen könnte, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Deutungskompetenz in Vollzügen religiöser Kommunikation jeweils so zu entwickeln und zu fördern, dass die Schülerinnen und Schüler zu individueller Aneignung religiöser Gehalte angeregt und zum Dialog zwischen unterschiedlichen Positionen befähigt werden" (277 f.).

Doch stellt sich bei diesem Unterfangen die Frage, ob K.s unablässige Hervorhebung der Individualitiät des religiösen Symbolisierens und ihr unkritisches Eingehen auf die moderne Semantik des Selberwählens auch in religiösen Fragen zu hilfreichen religionspädagogischen Schlüssen führt. Denn die Problemlage hat sich seit Schleiermachers Zeiten fundamental gewandelt. Der Kampf gegen die dogmatische Unterdrückung des individuellen Glaubens ist längst gewonnen. Unter heutigen Modernitätsbedingungen scheint es daher kaum erforderlich, die Negativität der Religion und ihr Sich-Abstoßen von religiösen Traditionen zu betonen als vielmehr den Schülerinnen und Schülern zuallererst religöse Formen, Symbole und Anschauungen zu vermitteln, damit sie überhaupt eine Erfahrungsbasis für selbständiges Urteilen in Glaubensfragen gewinnen können. Religion entspringt zwar nach Schleiermachers erster Rede aus jeder besseren Seele von selbst, aber nur, wenn diese Seele vorher an der religiösen Kommunikation einer Gemeinschaft partizipiert hat.