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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

442–444

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Möller, Ulrich

Titel/Untertitel:

Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957-1962.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. XIV, 479 S. 8 = Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie, 24. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7887-1733-5.

Rezensent:

Gottfried Orth

Das Buch kommt zur rechten Zeit und bietet wichtige Orientierung am Anfang der Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen "overcome the violence" und in einer bundesdeutschen Situation, in der ökumenische Fragen und in Sonderheit Fragen der Friedensethik - trotz weltweiter wie innergesellschaftlicher politischer Notwendigkeit - weder theologisch noch zivilgesellschaftlich Konjunktur haben.

Die Kernfrage, zu deren Beantwortung das Buch eine Hilfestellung geben will, lautet: "Wie können die Kirchen im Horizont der ,Einen Welt' eine ökumenische Friedensethik und -praxis im ganzheitlichen Sinne des biblischen ,Schalom' entwickeln?" (IX) Es geht also "im Prozeß des Bekennens" um ethische und ekklesiologische Fragen im Horizont der Ökumene.

Dabei ist die Arbeit einem doppelten Erkenntnisinteresse verpflichtet: Zum einen geht es Möller darum, die kirchliche Atomwaffendiskussion zwischen 1957 und 1962 anhand ihrer Hauptakteure, den kirchlichen Bruderschaften, der Kommission der Evangelischen Studiengemeinschaft "Krieg im Atomzeitalter" und des Ausschusses der EKD für Atomfragen, zeitgeschichtlich und systematisch-theologisch zu rekonstruieren; dazu wird bisher noch weithin unentdecktes und unbearbeitetes Archivmaterial in breitem Umfang hinzugezogen. So entsteht ein lebendiges Bild der die EKD bis zur Zerreißprobe führenden Auseinandersetzung um die Atombewaffnung der Bundeswehr in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Zum anderen möchte der Autor mit der historischen und theologischen Rekonstruktion dieser Debatte einen Beitrag leisten zur aktuellen Diskussion um die Fragen eines status oder processus confessionis im Blick auf die ökumenischen Fragen des Friedens, der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit (379 ff.).

Zur Gliederung: Auf eine einführende Klärung der Aktualität, des Themas und der Anlage der Arbeit folgt eine zusammenfassende Darstellung der historischen Voraussetzungen der fünfziger Jahre im Blick auf die kirchliche Atomwaffendiskussion. In diesem Kontext werden nun die drei entscheidenden Akteure der Diskussion - die kirchlichen Bruderschaften, die Kommission der Evangelischen Studiengemeinschaft und der Ausschuss der EKD untersucht. Dies geschieht zunächst im Rahmen einer genauen, eine Fülle von öffentlichen und privaten Archiven auswertenden Rekonstruktion der historischen Entwicklung der Diskussionen und Auseinandersetzungen innerhalb sowie zwischen den einzelnen Gruppen, sodann hinsichtlich ausgewählter theologischer Positionen, die jeweils an einzelnen Persönlichkeiten der entsprechenden Gruppen verdeutlicht werden. Je eine zeitgeschichtliche sowie eine systematische, ethische und ekklesiologische Zusammenfassung beschließt diesen Teil. Folgerungen für das heutige ökumenische Zeugnis im Prozess des Bekennens schließen die Schrift des Autors ab, der ein Dokumentenanhang, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein biographischer Anhang und ein hilfreicher Index beigegeben sind.

Nur wenige Ergebnisse dieser gelehrten Arbeit, die auf eine 1991 in Heidelberg eingereichte und für die Veröffentlichung überarbeitete und aktualisierte Dissertation zurückgeht, können hier dargestellt werden. In der zeitgeschichtlichen Analyse wird zum einen deutlich, wie sehr "die Ungleichzeitigkeit von militärstrategischer Entwicklung und öffentlicher Verarbeitung ihrer ethischen Relevanz den Prozeß kirchlicher Urteilsbildung" (337) bestimmte und zum anderen, dass von Anfang bis zum Ende der Auseinandersetzung cum grano salis zwei Positionen sich unversöhnlich gegenüberstanden: Einerseits die kirchlichen Bruderschaften, Karl Barth und die Dekane der theologischen Fakultäten und die Bischöfe in der DDR, andererseits die VELKD und als "liberalere Variante" H. Thielicke (336). Theologisch ging es um die Differenz zwischen einem klaren Nein gegenüber den Massenvernichtungsmitteln durch das christliche Bekenntnis der Kirchen angesichts der beispiellosen Bedrohung des Lebens und der Zukunft der Menschheit und andererseits der ordnungstheologischen Ablehnung eines solchen wegen der darin deutlich werdenden unzulässigen kirchlichen Grenzüberschreitung (vgl. ebd.). Da die letztere Position die der Mehrheit innerhalb der EKD bedeutete, war dies die faktische Unterstützung der von der Regierung betriebenen Politik. In der Darstellung der Auseinandersetzung beider Positionen kann M. nun einsichtig machen,

- dass die Bruderschaften sehr schnell vom "einladenden Ruf zum gemeinsamen Bekennen auf die Forderung zur Entscheidung" drangen und mit ihrem "friedensethischen Vorstoß eine kaum zu überbietende ekklesiologische Zuspitzung" verbanden (339), was den Konflikt sofort erheblich verschärfte,

- dass der Begriff des status confessionis - aus dem Kirchenkampf übernommen und von dort her mit der Verwerfung von Irrlehren verknüpft - in der gesamten Auseinandersetzung zu unscharf blieb (340);

- "daß eine Analogisierung der aktuellen Auseinandersetzung mit der Situation des Kirchenkampfes unangemessen war" (340);

- dass die Bruderschaften zwischen der Synode im April 1958 (42 ff.) und der Frankfurter Erklärung vom Oktober 1958 (85ff.) im Hören auf die Argumente ihrer Gegner dazu kamen, eine "selbstverpflichtende Bekenntniserklärung zur Initiierung eines verbindlichen Prozesses gesamtkirchlichen Bekennens" (341) zu formulieren und so die Situation wiederum öffneten zu einem processus confessionis;

- dass Gollwitzer (251 f.) eine sachlich ebenso formulierte Position vertrat und "damit auf der Suche nach ethischer und ekklesiologischer Vereinbarkeit gegensätzlicher Gewissensentscheidungen auf der ekklesiologischen Verbindlichkeit dieses Prozesses beharrte" (342), während es der Heidelberger Kommission (186 ff.) letztendlich um eine Entschärfung der Konfrontation ging, indem sie prüfte, "unter welchen Kriterien politischer Ethik die gegensätzlichen Positionen miteinander koexistieren können" (342) und es dem EKD-Ausschuss nicht gelang, im Konflikt zu vermitteln, was daran lag, "daß E. Müller, E. Wilkens und H. Thielicke auf Grundlage ihres ordnungstheologischen Ansatzes und ihrer damit verbundenen defizitären Ekklesiologie nicht in der Lage waren, die besondere theologische Herausforderung des Atomzeitalters zu erkennen und die Friedensfrage als Aufgabe gesamtkirchlichen Zeugnisses zu begreifen" (345).

"So versandete die kirchliche Auseinandersetzung um die Atombewaffnung Anfang der 60er Jahre ergebnislos im Nebeneinander gegensätzlicher Positionen, die sich weitgehend innerhalb der alten innerkirchlichen Frontstellungen bewegten ..." (ebd.) und bis heute - so lässt sich fortfahren - weitgehend weiter bewegen. Nicht zuletzt zur Diskussion und Aufweichung dieser Frontstellungen hat M. seinen Versuch einer begründenden Rekonstruktion der Debatte um die Atombewaffnung in ihren historischen und theologischen Kontext geleistet. Doch er bleibt dabei nicht stehen, sondern er versucht dabei - wenigstens in einem Ausblick - eine "argumentative abgesicherte Übersetzung in die aktuelle Situation" (350) der gegenwärtigen Auseinandersetzung um Gerechtigkeit, Frieden und ökologische Nachhaltigkeit, da hier "auf absehbare Zeit die zentralen Herausforderungen des kirchlichen Friedenszeugnisses als ganzheitliches Zeugnis im Sinne des biblischen Schalom" liegen (379). Im Rahmen der Diskussionen des Reformierten Weltbundes seit 1997 (Debrecen, Ungarn) und des Ökumenischen Rates der Kirchen (1998 in Harare, Simbabwe) weist M. abschließend auf das auch m. E. zentrale "Problem hin, von dessen Lösung das Gelingen auch des gegenwärtigen processus confessionis wesentlich abhängen wird: Wie kann im Rahmen einer auf konfliktvermeidende Integration bedachten Volkskirche, ein verbindlicher Prozeß des Bekennens so institutionalisiert werden, daß die Verbindlichkeit nicht ihre Grenze an der jeweiligen Akzeptanz des Durchschnittsbewußtseins der Betreuungskirche findet, sondern umgekehrt dieser Prozeß des Bekennens die Kirche so verändert, daß sie in all ihren Gestalten zunehmend als Kirche erkennbar wird, die im Dienst des Friedens und der Gerechtigkeit Gottes steht - auch wenn dadurch bestehende Gestalten der Kirche transformiert werden müssen?" (387) Mit seiner Studie hat M. die zentralen Richtungen aufgezeigt, in der die Antworten theoretisch-theologisch wie praktisch-kirchlich zu suchen sein werden.