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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

423–426

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wittekind, Folkart

Titel/Untertitel:

Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909-1916).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XII, 270 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 113. Lw. DM 128,-. ISBN 3-16-147301-9.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Nach dieser dem Andenken Falk Wagners gewidmeten Habilitationsschrift kann die Ritschlschule durch die Entfaltung eines gemeinsamen Glaubensbegriffs charakterisiert werden. Dieser vermittle die Erkenntnis Gottes mit der Selbsterkenntnis des individuellen Bewusstseins im Raum der Geschichte durch die Realisierung des Guten. In der Generationenfolge Ritschl - Kaftan - Barth verändere sich die Gewichtung von Normativität und Individualität. Ritschl vertrete als Hegelianer den Begriff Gottes als Zielpunkt "eines zu sich selbst kommenden Selbstbewußtseinsprozesses" (31). Das menschliche Ich müsse zwar im Glauben an diesem Prozess teilnehmen, damit er überhaupt an sein Ziel komme. Aber das Subjekt habe keine begründende Funktion für die Wahrheit dieses Prozesses (253). Kaftan dagegen entwerfe eine Protestantismustheorie, nach der es im Glauben "in keiner Weise auf die Inhalte des Christentums und deren Wahrheit an[komme], sondern allein auf die formale Qualität, Ausdruck des inneren Bewußtseins zu sein" (123). Kaftan widerspreche sich jedoch, weil er gleichzeitig darauf bestehe, dass die Christusoffenbarung als historischer Kern des Glaubens anerkannt werden müsse (124 f.)

Raumgründe verbieten es, darauf ausführlich einzugehen. W. bezeichnet auch selbst den Barth-Teil als das Zentrum seines Buches (257). Bemerkt werden muss, dass Ritschls Zeichnung als des "besseren Hegelianer[s]" (19) eine Verzeichnung darstellt. Sie erklärt sich z. T. daraus, dass W. die Theologie Ritschls anhand eines schmalen Aufsatzes erarbeitet, in dem sich Ritschl mit der Tübinger Schule auseinander setzt. Die dort erhobene Theologie erprobt W. an einem anderen kurzen Text, Ritschls "Unterricht", einem Schulbuch. Ritschls Hauptwerke sind nicht benutzt. W. stellt Ritschls Schrift "Über historische Methode" so dar, als verteidige er eine bessere Hegelinterpretation gegen die schlechtere der Tübinger (vgl. 19 f., 24, 33 u. ö.) bzw. als korrigiere er Hegel durch Hegel (vgl. 23 f., 36, 41). In Wirklichkeit hat Ritschl in dieser Schrift ausgesprochen, dass beide Ausprägungen der hegelschen Philosophie nur Trübungen für das geschichtliche Verständnis Jesu seien (Ritschl 448, vgl. 433 f.). Ritschl wollte durch seine religiöse Erkenntnistheorie die hegelsche Philosophie auch nicht "erweitern" (W. 27), sondern er hat beide einander "entgegengesetzt" (Ritschl 441 - von Ritschl gesperrt). Schließlich hat Ritschl bei seiner Aussage, jedes Individuum sei eine wunderbare Schöpfung Gottes, gerade nicht seinen vollen Wunderbegriff ausgesprochen, sondern nur einen Aspekt, von dem er hoffte, ein Hegelianer könne ihn akzeptieren. Es ist völlig falsch zu behaupten, Ritschl und Zeller seien sich in der Ablehnung des supranaturalistischen Wunderbegriffs einig (8). Die relevante Sekundärliteratur ist hier einstimmig.

Kaftans Selbstwiderspruch ähnelt in W.s Darstellung stark der Diskrepanz des Spätwerkes von W. Herrmann. Kaftan geriet aber nicht in einen ungewollten Widerspruch zwischen Offenbarung und Subjektivität, sondern er vermeinte, wie Ritschl in der Tradition der Vermittlungstheologie beide Größen in Balance setzen zu können. Dass ihm dies gelungen sei, kann freilich mit guten Gründen problematisiert werden.

Der junge Barth gehöre zur Ritschlschule, weil auch er "Glaube als Beschreibung (wahren) individuellen personalen Selbstbewußtseins" auffasse (157). Er radikalisiere den Ansatz der Schule, weil Troeltschs Angriff auf Herrmann ihn davon überzeugt habe, dass zur Begründung des Glaubens keinerlei historische Fakten aus dem Leben Jesu herangezogen werden dürfen (146, 149, 160). Religion müsse vielmehr rein aus der Individualität des Menschen entwickelt werden, um jede Heteronomie zu vermeiden (156). Doch auch diese Religion kenne eine Norm: das Sittengesetz, das jeder in sich entdecken könne. "Barth verbindet ... Kants Ethik der Autonomie mit Schleiermachers individualitätsbezogener Religionstheorie", wodurch er der Fortsetzer von Herrmann werde (162).

Barth sei so eigenständig, dass er eine neue Disziplin entdeckte (die transzendentale Psychologie), die der Quadratur des Kreises gleiche. Religion werde als eine Bewusstseinsform verstanden, die gegenüber Gefühl, Wille und Vernunft eigenständig (gegen Natorp), grundsätzlich anders verfasst (gegen Troeltsch), nicht isoliert gegen jene (gegen Herrmann), sondern positiv auf sie bezogen (gegen Cohen) sei (169). Dies sei möglich, da Religion teilhabe an der "Idee" Gottes (als eines regulativen und teleologischen Prinzips), durch die ein durch die anderen Bewusstseinsformen nur mögliches Bewusstsein in einem Individuum verwirklicht werde (170, 195, 204). Jesus fasse Barth als "Urbild" wahrer Menschlichkeit auf (180, 208). "Das Kreuz ist ... Ausdruck für das völlige Aufgeben eigener, selbstsüchtiger und zweckbestimmter heteronomer Handlungsziele sowie für die völlige Unterstellung des eigenen Willens unter das allgemeine Sittengesetz" (187). Wie bei Herrmann sei damit aber kein Rekurs auf den historischen Jesus intendiert, sondern auf ein erlebbares Faktum, vermittelt durch die biblischen Quellen (188).

Man fragt sich: Wenn Herrmann nicht auf den historischen Jesus rekurriert, warum muss er dann angesichts des Historismus weiterentwickelt werden? Und wenn Herrmanns Bezug auf den historischen Jesus inkonsequent ist, warum nicht ebenso Barths? Die Idee Gottes sei teleologisch bestimmt (207). In Christus sei die sittliche Entwicklung der Menschheit vorausgeprägt (190). "In der Anschauung Jesu Christi ereignet sich innerhalb der Geschichte eine Bewegung des Bewußtseins, die diesem verdeutlicht, wie es in Wahrheit immer schon beschaffen war und ist" (192). Der ethische Impuls des sittlichen Bewusstseins richte sich auf die Idee der allgemeinen Menschheit, wie im kategorischen Imperativ ausgesprochen (194). Barth fasse dies religiös als "Ruf zur Buße, zur Umkehr, zur sozialen Erneuerung" (196) auf.

Mit diesem Ruf werde "der ursprüngliche Sinn des modernen, in der idealistischen Philosophie begründeten liberalen Gesellschaftsverständnisses von Barth gegen ein kapitalisiertes, einseitig auf Legitimation bloßer Privatinteressen gedeutetes Liberalismusverständnis des Bürgertums gewendet. Barth ist nicht Sozialist, sondern rigoroser Liberaler" (200). - Ein kleines Versehen: Barths Diskussionspartner war der praktische Theologe Paul Drews, nicht der Verfasser der "Christusmythe" Arthur Drews (160). 1914 habe Barth erkannt, dass Rade und Herrmann mit der gemeinsamen Religionstheorie die deutschen Kriegshandlungen religiös rechtfertigten (217-219). Daraus habe Barth den Schluss gezogen, dass der individualistische Ansatz nicht geeignet sei, absolute Normen in konkrete Handlungen umzusetzen. Dass aber im Glauben eine absolute ethische Norm liege, verbinde den Barth nach 1914 mit dem früheren (211f., 237, 249). Da es nicht mehr das Individuum sei, welches die Norm aus sich heraus setzen könne, müsse sie als Moment der Selbstverwirklichung Gottes gefasst werden (227, 240, 246). Wie bei Ritschl ist es also der Selbstverwirklichungsprozess Gottes, der die Konstitution des glaubenden Individuums bewirkt. Indem Barth an die Stelle der transzendentalen Analyse des menschlichen Bewusstseins eine "offenbarungstheologische Prozeßphilosophie der Geschichte" setze (252), sei Troeltsch auch nach 1914 sowohl Recht gegeben als auch widersprochen. Recht gegeben, da nun der relativistische Historismus auch auf die frühere individualistische Begründung der Religion angewendet werde; widersprochen, da nach wie vor eine Norm festgehalten werde, die nun nicht mehr ethisch, sondern theologisch formuliert sei (247).

So weit ist W.s Beschreibung von Barths Entwicklung konsistent mit der, die dieser im Rückblick auf den dies ater von 1914 gegeben hat. W. bestreitet aber die Vollständigkeit der Wahrheit dieser autobiographischen Reflexion (wie in einem ähnlichen Fall bei Kaftan, 81, 210) und will den späten Barth in möglichst große Kontinuität zu seinen Anfängen stellen. Solche Kontinuitäten hat W. zweifellos aufgezeigt. Doch wie soll des späten Barth Stellung zur Geistesgeschichte des 19. Jh.s insgesamt beurteilt werden? W. sieht ihn als Vollender, indem Barth den Historismus von Troeltsch auf jede mögliche rationale Begründung der Theologie anwende und sie damit ad absurdum führe (241). Indem Barth aber die Idee der Normativität nicht aufgab und nicht in die Bahnen des postmodernen anything goes einbog, sondern die überindividuelle Norm in Gottes Offenbarung setzte, geriet er auch in einen Gegensatz zum Historismus, der mir gewichtiger zu sein scheint als jene Kontinuität. Indessen muss darin kein Manko liegen; Barth selbst hat dies nicht so empfunden.