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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

419–421

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Jakubowski-Tiessen, Manfred, Lehmann, Hartmut, Schilling, Johannes, u. Reinhart Staats [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 402 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 155. Lw. DM 78,-. ISBN 3-525-35471-1.

Rezensent:

Matthias Pohlig

Im letzten Jahr sind einige Bücher erschienen, denen gleichsam ein Verfallsdatum aufgedruckt ist: die zahlreichen Veröffentlichungen zu Jahrhundert- und Jahrtausendwenden, die ein kritisches Korrektiv, gleichzeitig aber auch einen integralen Bestandteil der in erster Linie medienproduzierten Millenniumseuphorie und -hysterie ausmachten, die in der Silvesternacht in der Angst vor dem Ende der Datenübertragung gipfelte und nach dem Jahreswechsel sanft ausklang.

Zu den Büchern, die aus gegebenem Anlass das Phänomen der Jahrhundertwende untersuchten, gehört neben dem anzuzeigenden Sammelband auch die Münchener Dissertation von Arndt Brendecke ("Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung", Frankfurt a. M./New York 1999), die deshalb hier zu erwähnen ist, weil sie sich konzeptuell nicht unwesentlich von dem Sammelband unterscheidet. Brendecke stellt die phänomenologische Frage, ab wann überhaupt das Konzept des "Jahrhunderts" als chronologischer Begriff, aber auch als emphatische Epochenbezeichnung zur Verfügung stand und wie sich dies auf die Publizistik, die Jubiläen, allgemeiner: die Deutung der Jahrhundertwenden zwischen 1300 - dem ersten päpstlichen Jubeljahr, das aber mit der Jahrhundertwende in keinem inhaltlichen Zusammenhang steht - und 1900 auswirkte. Anders als Brendeckes Arbeit operiert der hier in Rede stehende Tagungsband des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte mit der Hypothese, dass eine enge Beziehung zwischen "Jahrhundertwenden" und "Endzeit- und Zukunftsvorstellungen" (so Ober- und Untertitel des Sammelbandes) bestehe. Das Ereignis Jahrhundertwende sei, so die Herausgeber, "immer wieder" zum Anlass genommen worden, "in besonderer Weise" über Vergangenheit und Zukunft nachzudenken (10).

Diese Hypothese erweist sich bei der Lektüre zunehmend als Hypothek. Die Jahrhundertwenden, so der Tenor des Bandes, spielten für eine Reflexion über Zukunft oder gar eschatologische Endzeit (bzw. deren säkulare Analogie, die Wendezeit) bis 1800 kaum eine Rolle. Die für eine interpretatorische Aufladung von Jahrhundertwenden unerlässliche Konzeption eines chronologischen, aber auch qualitativen Jahrhundertbegriffs, der Bilanz, Ausblick und Epochenperiodisierung zulässt, bürgerte sich in der Historiographie erst ab dem späteren 16. Jh. ein; erst im Zuge der neuzeitlichen Beschleunigung des Geschichtsprozesses und der Herausbildung eines entsprechenden Geschichtsverständnisses scheint den Jahrhundertwenden eine größere Bedeutung zugefallen zu sein. Diese Deutung nun ist allerdings nur bei Brendecke nachzulesen - der Sammelband verstellt sich die Erkenntnis diachroner Entwicklungen durch seine Aufteilung in mehrere Sektionen zu den einzelnen Jahrhundertwenden, die unverbunden nebeneinander stehen. Die diachrone Perspektive ist nur durch einen diffusen Säkularisierungsbegriff angedeutet.

Dass den Jahrhundertwenden als markantes Datum zumindest in der frühen Neuzeit kaum Bedeutung beigemessen wurde, konstatieren die Autoren durchweg. Die meisten von ihnen haben sich daher entschlossen, den Untertitel des Bandes ernster zu nehmen als seinen Haupttitel: Sie stellen Konzepte apokalyptischer (so die Aufsätze von Johannes Schilling zur Frömmigkeitsgeschichte und von Heinrich Dormeier zu apokalyptischen Tendenzen in der italienischen Kunst um 1500, die Beiträge von Thomas Kaufmann, Robin B. Barnes und Hartmut Lehmann zum Luthertum um 1600) oder chiliastischer Provenienz (so z. B. Hans Schneiders Ausführungen zum radikalen Pietismus um 1700) sowie diverse säkulare geschichtsphilosophische Konzepte (z. B. Ludwig Stockingers Beitrag zum Kairosbewußtsein der Frühromantiker oder Harry Oelkes Analyse der politischen Deutungsmuster des deutschen Protestantismus um 1900) vor, die die jeweilige Vergangenheit deuteten und eine spezifische Zukunftsvorstellung propagierten. Das Problem mit diesen zum Großteil lesenswerten Aufsätzen besteht darin, dass sie nur diejenigen Zukunftsspekulationen in den Blick bekommen, die zufällig im Umkreis einer Jahrhundertwende liegen. Erst ab 1800, verstärkt ab 1900 wurde die Jahrhundertwende selbst zum Kristallisationspunkt des Geschichtsbewusstseins. Das Bild der Jahrhundertwende 1900, des berühmten "fin de siècle", bleibt im Rahmen des relativ frühneuzeitlastigen Bandes ein wenig konturlos, weil der eine Beitrag (H. Oelke) - im Übrigen überzeugend - nur eine sehr spezielle Gruppe von Texten, nämlich die protestantische Publizistik, analysiert, die um 1900 sicher keinen gesellschaftlichen Leitdiskurs mehr darstellte. Die Skizze der Reflexion von Ende und Wende in der bildenden Kunst um 1900, die im Beitrag von Ulrike Wolff-Thomsen geleistet werden soll, erhellt die komplizierte Verschränkung von Fortschrittsglaube und Zukunftsangst der noch jungen Moderne nur unwesentlich.

Zu einigen Beiträgen sei einzeln Stellung genommen: In ihrer anschaulichen Untersuchung zur Rolle des Datums 1500 in Prognostik, Jubeljahr-Propaganda und schließlich der Propaganda zur Wahl Karls V. im Jahr 1519 verkündet Helga Robinson-Hammerstein apodiktisch: "Eines sollte klar sein: im Rahmen der Wahlpropaganda wurde dem Jahr 1500 eine ganze Kette von höchst differenzierten, ausgeklügelten Traditionen angehängt", die aber "nicht explizit an die Jahrhundertwende angebunden" wurden (65). Dem Rez. ist allerdings nicht klar geworden (auch weil hier Quellenbelege fehlen), inwiefern die Erinnerung an das Geburtsjahr KarlsV. - das Jahr 1500 - in der Propaganda instrumentalisiert wurde.

Robin B. Barnes und Hartmut Lehmann beschäftigen sich mit apokalyptischen Vorstellungen im deutschen Luthertum um 1600. Lehmann analysiert am Beispiel des Stendaler Pfarrers Daniel Schaller die Argumente des apokalyptischen Diskurses, den er vor allem auf die Klimaverschlechterung und die sozialökonomischen Krisensymptome seit den 1570er Jahren zurückführt. Warum aber gerade im Luthertum, wie Barnes konstatiert, die apokalyptische Erwartung stärker gewesen sein dürfte als in allen anderen Konfessionen der Zeit um 1600, kann Lehmanns strikt kontextualisierender Ansatz kaum erklären - hier müssten konfessionsspezifische Deutungsmuster stärker beachtet werden, so wichtig auch immer wieder sozioökonomische und politische Umbruchssituationen für die Intensitätssteigerung von Endzeitbewusstsein waren (vgl. v. a. die Beiträge von Heinrich Dormeier und Hans Schneider).

Thomas Kaufmann arbeitet heraus, wie das Datum 1600 von lutherischen Predigern zum Anlass genommen wurde, ein eigenes, apokalyptisch gefärbtes, antirömisches "Jubeljahr" mit der Erinnerung an die Ereignisse des Reformationsjahrhunderts zu initiieren, das auf das Reformationsjubiläum 1617 vorausweist. Die geschichtstheologische Selbstverortung wurde nun auch auf territorialer und lokaler Ebene vorangetrieben; Kaufmann spricht von der "Geburt der ,Territorialkirchengeschichte' aus dem Geist des Reformationsgedächtnisses" (127) - ein wichtiger Hinweis, der in weiterer Forschung zum lutherischen Geschichtsbewusstsein zu überprüfen wäre.

Am Ende des Bandes, dem leider Register und Kurzviten der Autoren fehlen, fragt Gerhard Sauter: "Liegen uns nicht Metaphern wie Ende, Wende, Veränderung, Neues, Neuanfang allzu leicht auf der Zunge? Wenn ich recht sehe, hat sich in dieser Beziehung seit dem 19. Jahhundert eine unbekümmerte Redseligkeit breitgemacht." (398) Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Die Erforschung apokalyptischen und chiliastischen Denkens ist sowohl frömmigkeits- als auch gesellschaftsgeschichtlich geboten; eine klare Begrifflichkeit erscheint hierzu allerdings genauso notwendig wie der Abschied von einem anachronistischen Konzept wie der Jahrhundertwende.