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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

417–419

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Lietaert Peerbolte, Lambertus J.

Titel/Untertitel:

The Antecedents of Antichrist. A Traditio-Historical Study of the Earliest Christian Views on Eschatological Opponents.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. XIV, 380 S. gr.8 = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 49. Lw. hfl 190.-. ISBN 90-04-10455-0.

Rezensent:

Wolfram Kinzig

Die Bezeichnung antichristos für den eschatologischen Gegenspieler Christi begegnet bekanntlich zuerst in den späten Schriften des Neuen Testamentes, im johanneischen Corpus (1Joh 2,18.22; 4,3; 2Joh 7). Aber auch in der Zeit danach haben die christlichen Autoren auffallend wenig Interesse am Antichristen. Lediglich Polykarp nimmt in einem Zitat aus 1Joh 4,2 f. beiläufig auf ihn Bezug. Erst Irenäus hat dieser bemerkenswerten religionsgeschichtlichen Vorstellung zu ihrer künftigen Popularität und - das sollte man nicht vergessen - auch zu ihrer antijüdischen Zuspitzung verholfen.

Nachdem es nach J. Ernsts Untersuchung zu den eschatologischen Gegenspielern in den Schriften des Neuen Testaments von 1967 einige Zeit um den Antichrist still gewesen war, ist die Forschung in neuester Zeit wieder in Fluss gekommen. Gleich drei Monographien (G. C. Jenks1, St. Heid2 und B. McGinn3) sind in diesem Jahrzehnt zum Thema erschienen,4 so dass die Frage naheliegen mag, was die vorliegende Untersuchung noch Neues zutage fördern könnte. Heids und McGinns Arbeiten differieren indessen in ihrer Ausrichtung sowie in ihren Ergebnissen beträchtlich von denen des Vf.s. Der Schwerpunkt Heids liegt in der Entwicklung der Vorstellung im frühen Christentum, während der Mediävist McGinn einen kursorischen Überblick über "Zweitausend Jahre menschlicher Faszination mit dem Bösen" bietet und dementsprechend den Ursprüngen nur wenige Seiten widmen kann. Anders ist dies bei Jenks, der weithin dieselben Quellen wie der Vf. traktiert, ja im Umfang seiner Quellenlektüre noch weiter ausholt. Zwar haben die Untersuchungen unterschiedliche methodologische Schwerpunkte, insofern Jenks aus den christlichen Quellen einen Antichristmythos erhebt und sodann formgeschichtlich nach den Bestandteilen dieses Mythos in der älteren Literatur fragt, während der Vf. konsequent traditionsgeschichtlich vorgeht - doch faktisch überlappen sich die beiden Arbeiten. Dies ist angesichts der Komplexität des Problems durchaus kein Schaden. Vielmehr wird am Thema Interessierten bei der parallelen Lektüre der beiden Studien erst richtig deutlich werden, wie vielschichtig der Befund ist und wie viele Deutungsmöglichkeiten er eröffnet.

Der Vf. des vorliegenden Bandes, dem eine Leidener Dissertation zu Grunde liegt, möchte drei Ausgangsfragen beantworten, nämlich: "1) exactly which views on eschatological opponents are contained in the literature, 2) why did early Christian authors incorporate traditions concerning eschatological opponents in their writings, and 3) what are the traditio-historical backgrounds of the expectations of eschatological opponents found in the literature?" (15).

Die Untersuchung konzentriert sich in ihrem ersten Teil auf frühchristliche Vorstellungskreise, die eschatologische Widersacher beinhalten. In ausführlichen Einzelanalysen werden Mk 13 parr; 2Thess 2,1-12; 1Joh 2,18.22; 4,3; 2Joh 7; Apk; Did 16; Barn 4, AscJes 4; ApkPetr 2,7-13 und Justin, dial. 32; 110 auf ihre Antichrist-Vorstellungen hin befragt. Deren Vorgeschichte im Frühjudentum ist Thema des zweiten Teils. Hier stehen die Schriften Dan, Jub, äthHen, Texte aus Qumran sowie AssMos, 4Esra, syrBar und Sib im Vordergrund.

Auffällig und verwirrend zugleich ist dabei zunächst die Fülle der Endzeitspekulationen. Die frühchristlichen Erwartungen eschatologischer Widersacher sind weithin heterogen. Es finden sich falsche Propheten und falsche Messiasse (Mk und ApkPetr), der "Mensch der Sünde"/"Sohn des Verderbens" (2Thess und Justin), der Antichrist (im Corpus Johanneum), der Drachen, das Tier und der falsche Prophet (Apk), der Weltverführer (Did), der eschatologische Tyrann (Barn) und Beliar (AscJes). Diese unterschiedlichen Vorstellungen wurden aus jüdischer Eschatologie übernommen und adaptiert. Sie konvergierten allerdings in ihrer christlichen Ausformung insofern, als die eschatologischen Widersacher zu Widersachern Christi wurden, der nun als der für das Weltende erwartete Messias galt. (Der Vf. spricht dabei etwas unglücklich von "christological concentration", 344.) Diese Gegnerschaft zu Christus implizierte auch die Vorstellung, der Widersacher sei ein Nachahmer Christi. Hieraus erklärt sich auch das Zusammenwachsen zu einer Tradition des Antichristen seit Irenäus.

Die Feststellung, dass sich Spekulationen über eschatologische Widersacher in christlicher Literatur erst sehr spät finden, begründet der Vf. damit, dass die erhöhte Aufmerksamkeit, die man den eschatologischen Ereignissen schenkte, Resultat der Enttäuschung über die Parusieverzögerung sei. Er konstatiert eine dreistufige Entwicklung von der frühesten christlichen Literatur, in denen der Antichristmythos fehlt, über die Zeugnisse in Mk, 2Thess, 1 und 2Joh und Apk hin zu den späteren Schriften: Die Vorstellungen eschatologischer Widersacher hätten sich von "existentiell bedeutsamen Erwartungen", etwa in den paulinischen Briefen, in "dogmatische Standarderwartungen" gewandelt. Einzige Ausnahme sei ApkPetr, wo eine "echte und existentiell bedeutsame Krise vermittels der Tradition eines eschatologischen falschen Propheten gedeutet" werde (217). Diese Entwicklung sei verursacht durch das Verblassen der Naherwartung. Je länger die Christen auf die Vollendung von Gottes Sieg warten mussten, um so größeres Gewicht legten sie auf seinen "vorläufigen Triumph" in Passion und Auferstehung Christi. In dieser zweiten Phase der frühchristlichen Eschatologie sei vermehrt über den genauen Zeitpunkt der Parusie und der dieser vorausgehenden Endereignisse spekuliert worden, und zwar als Reaktion auf konkrete existentielle und theologische Fragen. Diese Spekulationen dienten dazu, die Nähe und die Gewissheit der Parusie zu betonen (Mk; 1 und 2Joh), ihr Ausbleiben zu rechtfertigen (2Thess) oder Gottes und Christi Sieg hervorzuheben (Apk). In der dritten Phase degenerierten die eschatologischen Themen zum Standardinventar christlicher Dogmatik. Sie waren zwar nicht irrelevant, aber ihr Einfluss auf das alltägliche Leben war deutlich geringer als in den früheren Stadien der Entwicklung (218-220).

Das Buch ist klar gegliedert und verständlich geschrieben. Die einschlägige Literatur zum Thema ist i. A. berücksichtigt.

Es fehlt allerdings die wichtige Studie zum Barnabasbrief von James Carleton Paget (The Epistle of Barnabas. Outlook and Background, Tübingen 1994). Auch lag der erste Band des RAC vollständig nicht 1941 [vgl. S. 11, Anm. 1 und Bibliographie s. v. Lohmeyer], sondern erst 1950 vor- 1941 erschien lediglich die erste Lieferung.) Ein Stellenregister erschließt das reichhaltige Quellenmaterial. Vergeblich sucht man jedoch ein Sachregister. Die Zahl der Druckfehler ist gering. Auf S. 224, Anm. 2 ist mindestens eine Zeile Text ausgefallen.

Das Buch hat seine Stärken in den recht gründlichen Quellenanalysen. Es ist aber merkwürdig erklärungsschwach in der Deutung des erhobenen Befundes.

Folgende Einwände lassen sich dagegen u. a. erheben: (1) Der Rückgriff auf die Parusieverzögerung zur Erklärung der Adaption der Widersachervorstellungen im frühen Christentum ist kaum überzeugend. Dass man über das Weltende spekulieren konnte, auch wenn man es unmittelbar erwartete, geht ja schon aus 1Kor 15,35-38 oder Mk 13 parr im Vergleich mit den Terminworten 1Kor 15,51 bzw. Mk 9,1; 13,30 hervor. (2) Ob die Tatsache, dass Antichrist-Vorstellungen in der frühchristlichen Literatur erst relativ spät auftauchen, angesichts der Spärlichkeit der Quellenlage überhaupt signifikant ist, müsste erst noch erwogen werden. (3) Die Unterscheidung in "frühere" und "spätere" Quellen ist hochhypothetisch und wirkt im Übrigen reichlich künstlich. So sind selbst nach Ansicht des Vf.s 1 und 2Joh ("Frühschriften") und die "Spätschriften" ungefähr zeitgleich, jedenfalls mit nicht mehr als zwei bis drei Jahrzehnten Differenz entstanden. (4) Problematisch erscheint auch die Behauptung einer abnehmenden "existentiellen Relevanz" eschatologischer Vorstellungen bei gleichzeitig gesteigerter Spekulations"dichte". Wie will man dann die massiven eschatologischen Spekulationen eines Laktanz zur Zeit der diokletianischen Christenverfolgung erklären, der dennoch das Weltende erst in etwa 200 Jahren erwartete (inst. 7,25,5)? Eschatologische Spekulation, Naherwartung und "existentielle Relevanz" sind nicht ohne weiteres voneinander abhängig!

Diese Erklärungsschwäche ist sicher auch durch den gewählten methodologischen Zugang zu den Quellen verursacht: Eine ganz überwiegend traditionsgeschichtliche Untersuchung, die von weiterreichenden Überlegungen zum sozialen Milieu oder zu den historischen Umständen absieht, wird kaum eine plausible Hypothese zur Entstehung des Antichrist-Mythos entwerfen können. Der Leser erfährt viel über die Diversität dieses Vorstellungskomplexes. Zu den Gründen, warum diese unterschiedlichen Traditionsströme schließlich in der einen Antichrist-Konzeption zusammengeflossen sein sollten, verlautet hingegen allzu wenig.

Nur beiläufig sei erwähnt, dass sich eschatologische Widersacher neben dem Antichristen (falsche Propheten und Messiasse, feindliche Mächte wie Gog und Magog usw.) selbstverständlich auch in späterer Zeit noch finden (z. B. bei Laktanz, Ambrosius, Hieronymus). Commodian kann sogar von zwei Antichristussen sprechen (vgl. carmen apologeticum 835ff., 891 ff.)! Gar nicht geht der Vf. auf das sich wandelnde Verhältnis des Antichristen zu den Juden in der Eschatologie der Kirchenväter ein - eine in vielerlei Hinsicht hochproblematische Entwicklung! Von der behaupteten Uniformität der Antichrist-Vorstellung kann jedenfalls keine Rede sein.

Während also der Vf. die erste und die dritte der eingangs gestellten Fragen weitgehend beantwortet hat, bleibt das Problem nach dem "Warum" der Rezeption dieser Vorstellung im frühen Christentum ungelöst.

Fussnoten:

1) The Origins and Early Development of the Antichrist Myth, Berlin/New York 1991 (BZNW 59).

2) Chiliasmus und Antichrist-Mythos. Eine frühchristliche Kontroverse um das Heilige Land, Bonn 1993 (Hereditas 6).

3) Antichrist. Two Thousand Years of the Human Fascination with Evil, San Francisco 1994.

4) Seit Erscheinen ist noch das ebenso anregende wie kontroverse Buch von Elain Pagels, The Origin of Satan, New York 1995 (dt.: Satans Ursprung, Berlin 1996 [TB Frankfurt/M.1998, st 2868]) hinzugekommen.