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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

413 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wider, David

Titel/Untertitel:

Theozentrik und Bekenntnis. Untersuchungen zur Theologie des Redens Gottes im Hebräerbrief.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. IX, 230 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 87. Lw. DM 158,-. ISBN 3-11-015554-0.

Rezensent:

Claus-Peter März

Der Hebräerbrief wird, auch wenn sich in der Forschung durchaus eine Reihe von weithin anerkannten Interpretationsmustern etabliert haben, noch immer zu den Rätseln des NT gezählt. Namentlich die Zuordnung der verschiedenen, das Schreiben doch auf recht unterschiedliche Weise bestimmenden thematischen Linien wird von vielen Autoren nach wie vor als offenes hermeneutisches Problem empfunden. Wider setzt denn auch mit seiner bei V. Hasler gearbeiteten Berner Dissertation bei diesem Problemfeld an und geht pointiert dem Verhältnis von Theologie und Christologie im Hebr nach. Er greift damit zugleich einen derzeit die biblische Exegese insgesamt bewegenden Fragenkomplex auf.

W. geht von der allgemein vertretenen Vorstellung aus, dass die Argumentation des Hebr "auf eine fundamentale Deutung gläubiger Existenz in der Welt" (7) abzielt. Seiner Meinung nach sind dabei freilich die verschiedenen, den Hebr prägenden theologischen Orientierungen und praktischen Intentionen vom "worttheologischen Ansatz" (7) und damit von einer theozentrischen Grundorientierung des Schreibens umgriffen. Auch mit "der christologischen Neuauslegung" des Bekenntnisses sei letztlich "auf das theozentrische ,Woher' aller Christologie insistiert" (6) und so die Theozentrik als "einheitlicher Interpretationshorizont" geltend gemacht, von dem her "auch die Vernetzung christologisch-lehrhafter und ermahnender Teile erfaßt werden" (7) könne.

Die Studie geht dieser These auf drei Argumentationsebenen nach: Ein erster Teil - "Das Reden Gottes" (11-117) - will zunächst die Bedeutung des Redens Gottes für die Gesamtkomposition des Schreibens erheben und bietet im Wesentlichen Auslegungen von Hebr 1,1-3: 4,12-13; 12,18-29. Ein zweiter Teil - "Wort und Hören - soteriologische Perspektiven im Zeichen des Redens Gottes" (119-178) - möchte das im ersten Teil "gewonnene Verständnis an der soteriologischen Thematik zur Diskussion ... stellen" (9) und untersucht die paränetischen Abschnitte 2,1-4; 3,1-6.7-19; 4,1-11. Ein dritter Teil - "Weltperspektive im Horizont des Redens Gottes" (179-204) - sucht das "worttheologisch entworfene Verständnis des Bekenntnisvollzugs an der Glaubensreflexion (10,32-39; 11,1f.) und der Schilderung der Glaubenshelden in Kap. 11" (9) zu vertiefen. Abschließend entwirft W. "Perspektiven des Gottesredens" (205-210), in denen die drei Argumentationsgänge nochmals zusammengefasst werden: Das Reden Gottes beruft von Anfang an mit dem schöpfungstheologischen Horizont "eine seinsmäßige Beanspruchung von Welt und Mensch" (203) durch Gott und dringt bei den Adressaten "auf Anerkenntnis geschöpflicher Nichtigkeit" (ebd.). Das Christusgeschehen wird dabei - um der bei den Adressaten diagnostizierten Verunsicherung beizukommen - "in die bekenntnishafte Unbedingtheit des Gottesgedankens gewiesen" (ebd.). Das bedeutet: "Nicht die Explikation des Christusbildes, sondern die im Gottesgedanken begründete unbedingte Beanspruchung des Selbst- und Weltbildes" (203) ist das Anliegen der im Hebr entfalteten Mystagogie.

An dieser Stelle werden freilich auch Fragen an die von W. vorgelegte These gestellt werden müssen: Fraglich erscheint vor allem, dass sich die hermeneutisch aufwendige Argumentation des christologischen Mittelteils (Hebr 4,14-10,18) tatsächlich aus dem von der Studie entworfenen Begründungsgefälle her verständlich machen lässt. Die Qualifizierung des Mittelteils in 8,1 f., die "propädeutische" Vorbereitung der Hohepriesterchristologie in 2,5-18, die Akzentuierung des soteriologischen "Habens" der Christen in 4,14 ff. und 10,19 ff. scheinen ebenso wie die hermeneutische Vorbereitung der Argumentation in 5,11-6,20 andere Akzente einzubringen, als sie von W. vorausgesetzt werden. Damit aber stellt sich eine weitere und grundsätzlichere Frage: Ob generell der Versuch einer systematischen Vermittlung der unterschiedlichen Abschnitte des Schreibens tatsächlich der Intention des auctor ad Hebraeos entspricht oder ob dieser den Leser nicht doch eher auf offene Spannungsfelder und die Eröffnung unterschiedlicher Zugänge orientieren möchte?

Die reflektierte rhetorische Architektur des Textes lässt eher vermuten, dass der Hebr sehr bewusst unterschiedlich geartete Ansätze großräumig einander zuordnet, ohne in jedem Fall einen systematischen Ausgleich zu suchen (vgl. nur die unterschiedlichen und nicht in jeder Hinsicht zu vermittelnden Argumentationsmuster zur Hohepriesterchristologie in 2,5-18; 5,1-10; 7,1-28; 8,1-13; 9,1-10,18). Damit aber stellt sich noch eine dritte Frage: Ob W., wenn er angesichts dieser Grundanlage des Hebr allein bei den auf die Worttheologie ausgerichteten Texten ansetzt und den Mittelteil des Schreibens nicht direkt in die Untersuchung einbezieht, nicht schon eine Vorentscheidung fällt, die das Ergebnis nachhaltig präjudizieren muss? Dies bedeutet, dass bei aller Zustimmung zu vielen exegetischen Einzelergebnissen und bei allem Respekt vor der beeindruckenden systematischen Energie der von W. vorgelegten Argumentation hinsichtlich der von ihm vorgeschlagenen Vernetzung der unterschiedlichen thematischen Linien des Hebr doch eher Skepsis angebracht sein dürfte.

W. hat ohne Zweifel mit viel Berechtigung auf das Gewicht des theozentrischen Denkens im Hebr hingewiesen und eine Studie vorgelegt, die mit großer systematischer Konsequenz die "Mitte" des Hebr im "Reden Gottes" zu bestimmen sucht. Auch wenn gerade diese übergreifende Orientierung u. E. Fragen offen lässt, hat W. doch ein für die Hebr-Auslegung wichtiges Thema mit Nachdruck aufgerufen und mit seiner These die Forschung nicht nur auf dem Feld der historisch-kritischen Textauslegung theologisch herausgefordert.