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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

409–413

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2000. 455 S. gr.8. Lw. DM 78,-. ISBN 3-579-02623-2.

Während im Bereich der alttestamentlichen Wissenschaft schon seit geraumer Zeit eine eingehende Debatte über Sinn und Möglichkeiten einer Religionsgeschichte Israels geführt wird und Rainer Albertz 1992 auch eine solche vorgelegt hat (Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit [GAT 8/1 u. 2], 21996/1997 [s. ThLZ 119, 1994, 3-14]), ist seit einigen Jahren auch innerhalb der neutestamentlichen Schwesterdisziplin eine vergleichbare Diskussion zu beobachten. Hier geht es darum, ob die Theologie des Neuen Testaments um eine urchristliche Religionsgeschichte ergänzt oder gar von dieser abgelöst werden soll. Wenn auch William Wrede bereits 1897 seine wegweisende Programmschrift "Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie" veröffentlicht hatte, so dauerte es mehr als hundert Jahre - nicht zuletzt bedingt durch den theologischen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg -, bis dieses Programm von Gerd Theißen in der vorliegenden Monographie umgesetzt wurde,1 in methodischer Hinsicht ergänzt um semiotische, sozialgeschichtliche und psychologische Fragestellungen. Ihr liegen seine Oxforder "Speaker's Lectures" von 1998/1999 zu Grunde, die zunächst in englischer Sprache unter dem Titel "A Theory of Primitive Christian Religion" (London: SCM 1999) erschienen und in der deutschen Fassung erweitert worden sind.

Wrede hatte als Aufgabe einer Religionsgeschichte des Urchristentums bestimmt, unabhängig von den Grenzen des neutestamentlichen Kanons darzustellen, "was in der Urzeit des Christentums geglaubt, gedacht, gelehrt, gehofft, gefordert und erstrebt worden ist, nicht aber, was bestimmte Schriften über Glauben, Lehre, Hoffnung usw. enthalten" (zit. nach: Georg Strecker [Hrsg.], Das Problem der Theologie des Neuen Testaments [WdF 367], 1975, 109). In Übereinstimmung mit Wrede wendet sich auch Th. gegen eine lediglich deskriptiv verfahrende Theologie des Neuen Testaments, weil diese nicht in der Lage sei, "den urchristlichen Glauben in seiner ganzen Dynamik zu erfassen" (17). "Um zu erkennen, was die ersten Christen in ihrem Innersten bewegte", müsse man vielmehr "ihr ganzes Leben untersuchen und ihre theologischen Aussagen in semiotische, soziale, psychische und historische Zusammenhänge hineinstellen, die nicht unmittelbar ,theologisch' sind" (ebd.). Mit seinem Buch möchte Th. Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Einstellung einen Zugang zur urchristlichen Religion eröffnen (13).

Einleitend behandelt Th. das "Programm einer Theorie der urchristlichen Religion" (17-44). Mit Bezug auf Clifford Geertz definiert er Religion als "ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt" (19), wobei als die drei Ausdrucksformen des religiösen Zeichensystems Mythos, Ritus und Ethos gelten (21-24). Th. unternimmt nun den Versuch, die urchristliche Religion als ein auf dem Boden der jüdischen Religion errichtetes Zeichensystem zu beschreiben, als "eine semiotische Kathedrale aus narrativen, rituellen und ethischen Materialien" (385). Während das Judentum von einem exklusiven Monotheismus und Bundesnomismus2 als den beiden Grundaxiomen bestimmt wird, behält das Urchristentum zwar das monotheistische Axiom bei, modifiziert dieses aber zugleich durch sein zweites Grundaxiom: den Erlöserglauben. Der Glaube an Christus als den einzigen Erlöser wird nämlich von jüdischer Seite als Infragestellung eines konsequenten Monotheismus erfahren, zugleich aber öffnet er die jüdische Religion für alle Menschen (37 f.). Viele religiöse Grundmotive (Schöpfungs-, Glaubens-, Umkehr- und Distanzmotiv) teilt das Christentum mit der jüdischen Mutterreligion; jedoch werden sie von der christologischen Mitte her neu ausgerichtet (38 f.).

Im Anschluss an die methodische Grundlegung erörtert Th. zunächst die genannten drei Ausdrucksformen des urchristlichen Zeichensystems. Der mit "Mythos und Geschichte im Urchristentum" überschriebene erste Teil (45-98) bringt die Bedeutung des historischen Jesus für die Entstehung der urchristlichen Religion zur Sprache. Diese wird darin gesehen, dass er das monotheistische Grundaxiom revitalisierte. Der historische Jesus "lebte im Mythos vom kommenden Gottesreich, bei dem endlich Realität werden sollte, was der jüdische Monotheismus schon immer postuliert hatte: Dass Gott zur alles bestimmenden Realität wird" (70). Den eschatologischen Mythos hat Jesus historisiert, poetisiert und entmilitarisiert (51-55). In diesem Kontext bespricht Th. auch das Verhältnis der Verkündigung Jesu zum Ethos des Judentums (55-59) und zu den jüdischen Riten (59-63). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass Jesus "keinen Exodus aus dem Judentum" einleitete, "sondern eine jüdische Erneuerungsbewegung" (62 f.). Dass es dennoch zur Trennung zwischen Christentum und Judentum kam, führt Th. auf die nach Ostern einsetzende Vergöttlichung Jesu zurück (71-98). Diese ist Ausdruck der Bewältigung der kognitiven Dissonanzerfahrung, dass derjenige, der nach der Erwartung seiner Anhängerschaft die entscheidende Rolle im Endzeitgeschehen spielen sollte, den schmachvollen Kreuzestod erlitt (72). Th. zufolge vermochten die Ostererscheinungen allein nicht den Glauben an die Erhöhung Jesu zu göttlichem Rang hervorzurufen, sondern nur in Verbindung mit der dem jüdischen Monotheismus innewohnenden Dynamik. Wie die Krise des babylonischen Exils durch die "Erhebung JHWHs zum einen und einzigen Gott" bewältigt wurde, so die Krise der Kreuzigung durch die "Erhebung Jesu zu einzigartigem göttlichen Rang" (73). In der Begegnung mit paganer Religiosität wird die monotheistische Dynamik zu einem "Überbietungssynkretismus": Zum einen handelt es sich dabei um Machtüberbietung durch Erhöhung (zu beobachten beim Verhältnis von Christusglauben und Kaiserkult) und zum anderen um Heilsüberbietung durch Nähe zum menschlichen Geschick (Inkarnationsglaube und Sakramentsfrömmigkeit, 83-98).

Im zweiten Teil behandelt Th. "Das Ethos des Urchristentums" (99-167), wobei er in der Verbindung der beiden Werte Liebe und Demut bzw. Statusverzicht die Grundstruktur und das Neue des urchristlichen Ethos erkennt (113). Dieses Ethos sucht ethische Ansätze im Judentum durch Radikalisierung zu überbieten. Gegenüber heidnischen Werten und Normen findet sich sowohl Anpassung als auch Widerspruch (102). Mythos und Ethos im Urchristentum gehören für Th. auf das Engste zusammen, bestimmen doch die beiden ethischen Grundwerte den urchristlichen Mythos: So korrespondiert dem Grundwert der Liebe die Sendung und Inkarnation des Gottessohnes, und der Grundwert des Statusverzichts entspricht der Selbsterniedrigung des Präexistenten bis zum Tod am Kreuz (120). Inwiefern die beiden Grundwerte andere ethische Werte und Normen prägen, zeigt Th. daran, wie man im Urchristentum einerseits mit Macht und Besitz (123-146) und andererseits mit Weisheit und Heiligkeit (147-167) umgegangen ist. Das Nebeneinander eines radikalen und eines moderaten Ethos wird sozialgeschichtlich erklärt (144 f.).

Auf die Besprechung der narrativen und präskriptiven Zeichensprache des Urchristentums folgt schließlich im dritten Teil die der rituellen Zeichensprache (169-222). Th. legt dar, wie die prophetischen Symbolhandlungen der Johannestaufe und der Mahlgemeinschaft Jesu "durch ihren sekundären Bezug auf Jesu Geschick, insbesondere auf seinen als Opfer gedeuteten Tod, zu urchristlichen Sakramenten" (178) wurden (171-194). Dass der als Sühnopfer verstandene Tod Jesu das Ende der Opfer bedeutete, erklärt sich nach Th. aus dem Glauben an die Auferstehung Jesu: "Das antike Opferwesen wurde überwunden, weil das eine Menschenopfer, das nach urchristlicher Überzeugung Überwindung der Sünden brachte, durch die Auferstehung überwunden war." (221)

Der vierte Teil "Die urchristliche Religion als autonome Zeichenwelt" (223-280) bietet eine Skizze der Geschichte der urchristlichen Religion. Einen wichtigen Schritt auf dem Weg der urchristlichen Religion zu einer autonomen Zeichenwelt bedeutete der Verzicht auf Beschneidung und Speisegebote, was zu einem Schisma innerhalb der jüdischen Gemeinschaft führte (227-233). Die Evangelienschreibung beurteilt Th. dann als einen weiteren entscheidenden Schritt zur definitiven Trennung der christlichen und jüdischen Religion; denn: "Mit der Form des Evangeliums gibt sich das Urchristentum eine eigene Grunderzählung und scheidet aus der Erzählgemeinschaft des Judentums aus." (233) Bei den synoptischen Evangelien erkennt Th. jeweils eine besondere Abgrenzung gegenüber dem Judentum: beim Markusevangelium in ritueller (236-241), beim Matthäusevangelium in ethischer (242-247) und beim Lukasevangelium in narrativ-historischer Hinsicht (247-253). Ein dritter und letzter Schritt im Ablösungsprozess des Urchristentums vom Judentum erfolgte, als sich jenes seiner inneren Autonomie bewusst wurde, was im Johannesevangelium der Fall ist (255-280). Damit ist für Th. das vierte Evangelium ein "Höhepunkt in der Entstehungsgeschichte der urchristlichen Religion" (280).

Der abschließende fünfte Teil ist der Thematik "Krisen und Konsolidierung des Urchristentums" (281-411) gewidmet. Was die Krisen des Urchristentums betrifft - verstanden als Krisen seiner Autonomie -, so behandelt Th. folgende drei Phänomene: die judaistische Krise im 1. Jh. (286-314), die gnostische Krise im 2. Jh. (314-326) sowie die prophetischen Krisen im 1. und 2. Jh. (326-337). Dabei bezieht sich jedes dieser Krisenphänomene auf eine andere Ausdrucksform des urchristlichen Zeichensystems. In der judaistischen Krise verteidigte Paulus die Autonomie der christlichen Religion mit Hilfe der Rechtfertigungslehre, mit der er den theologischen Gehalt seiner Bekehrung bzw. Berufung begrifflich ausarbeitete, im Bereich des Ritus (beschneidungsfreie Heidenmission, 284.298). Gegenüber einer radikalen Abwertung der Welt hielt das Urchristentum in der gnostischen Krise an der Bindung an den einen und einzigen Gott des Judentums und dessen Inkarnation in Jesus fest und wahrte somit die Einheit von Mythos und Geschichte (285.323).

In den durch den ethischen Radikalismus verursachten prophetischen Krisen (Jesusbewegung, Johannesapokalypse, Hirt des Hermas, Montanismus) musste das Urchristentum der Versuchung widerstehen, sich der Umwelt einfach anzupassen (336). Marcion, der Elemente aus allen drei Krisenphänomenen vereinigte, beurteilt Th. als die "größte Herausforderung der Kirche", die darauf mit der Herausbildung des Kanons reagierte (336 f.). Diesem kommt die Funktion zu, einerseits die Pluralität des Urchristentums zu bewahren und andererseits im Sinne der Einheit zu begrenzen (339-368). Nach Th. verbindet die Texte des neutestamentlichen Kanons eine gemeinsame religiöse Sprache, deren "Grammatik" er folgendermaßen rekonstruiert: Monotheismus und Erlöserglaube bilden als die zwei Grundaxiome die fundamentalen Regeln. Als begrenzte Regeln fungieren Basismotive (Schöpfungs-, Weisheits-, Wunder-, Erneuerungs-, Stellvertretungs-, Einwohnungs-, Glaubens-, Agape-, Positionswechsel- und Gerichtsmotiv, 368-381). Allerdings ist Th. der Auffassung, dass etliche judenchristliche Schriften (Nazaräerevangelium, Ebionäerevangelium, Hebräerevangelium, Didache und Thomasevangelium) der "Grammatik des urchristlichen Glaubens" entsprechen, ohne in den Kanon aufgenommen worden zu sein (381-384). In seiner Schlussbetrachtung bietet Th. zuerst unter der Überschrift "Die Konstruktion der urchristlichen Religion" eine Zusammenfassung seiner bisherigen Ausführungen (385-391), bevor er dann die "Plausibilität der urchristlichen Religion" vor Augen führt (392-409). Th.s These lautet hier: "Weniger die inhaltlichen Aussagen der Religion schaffen Plausibilität als das Netz von Grundaxiomen und Basismotiven, das seine Grammatik bildet." (392)

Literaturverzeichnis, Stellenregister sowie Sach- und Namenregister (413-455) runden den Band ab.

Th. hat mit "Die Religion der ersten Christen" einen glänzend geschriebenen Entwurf einer urchristlichen Religionsgeschichte vorgelegt, der durch seine wohl durchdachte Systematik und Geschlossenheit besticht und eine echte Alternative zu der Vielzahl der innerhalb der letzten Jahre erschienenen Theologien bzw. Theologiegeschichten des Neuen Testaments darstellt. Das Buch ist frei von jeglicher apologetischer Rücksichtnahme; so werden in aller wünschenswerten Klarheit die Einflüsse paganer Religiosität auf urchristliche Christologie und Sakramente (83-98) beschrieben.

Hingewiesen sei auf einige kritische Bemerkungen von Heikki Räisänen (Neutestamentliche Theologie? Eine religionsgeschichtliche Alternative [SBS 186], 2000, 62-65). Bei einer Neuauflage wäre es wünschenswert, die psychologische Erklärung der Ostervisionen mit einzubeziehen (vgl. bes. Ulrich B. Müller, Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu. Historische Aspekte und Bedingungen [SBS 172], 1998). Wie Th. selbst ausgeführt hat (409-411), ist seine Theorie der urchristlichen Religion darauf angelegt, durch eine Psychologie, eine Soziologie und eine Philosophie der urchristlichen Religion vertieft zu werden - hoffentlich aus seiner eigenen Feder! Th.s Buch verspricht, ein Standardwerk neutestamentlicher Forschung zu werden.

Fussnoten:

1) Sieht man einmal ab von Heinrich Weinel, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Die Religion Jesu und des Urchristentums (GThW III/2), 41928 (11911); vgl. dazu Rudolf Bultmann, Vier neue Darstellungen der Theologie des Neuen Testaments, in: MPTh 8 (1911/12), (432-443) 437-439.

2) Im Anschluss an Edward P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977 = Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (StUNT 17), 1985.