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Ausgabe:

April/2001

Spalte:

407–409

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Noack, Christian

Titel/Untertitel:

Gottesbewußtsein. Exegetische Studien zur Soteriologie und Mystik bei Philo von Alexandria.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XIII, 300 S. gr.8 = WUNT 2. Reihe, 116. Kart. DM 98,-. ISBN 3-16-147239-X.

Rezensent:

Gerhard Sellin

Eine Philo-Monographie in deutscher Sprache - das gab es m. W. zuletzt vor zwölf Jahren. Die Philoforschung wird heute überwiegend im internationalen Kreis um das Studia Philonica Annual betrieben: ein spannendes Unternehmen für Spezialisten und Eingeweihte. Noacks Buch, seine überarbeitete Dissertation, die bei D. Georgi in Frankfurt geschrieben wurde, dürfte auch jenseits der Philospezialisten Interesse wecken. Der Vf. versteht es nämlich, hinter der Fassade, deren oberflächliche Betrachtung einst bei einigen zu dem Urteil geführt hatte, Philo sei ein unsystematischer "Schwätzer", die gewaltige Kraft der philonischen Theologie aufzudecken. Gegen Ende des Buches gelangt er zu mitreißenden Formulierungen, die ihn selbst seinem Thema (der Ekstase des Gottesbewusstseins) anzugleichen scheinen.

Sehr prägnant wird die Fragetellung skizziert: Ist, wie Hans Jonas meinte, das soteriologische Ziel bei Philo die Ekstase, in der zeitweilig das Bewusstsein (der nous) des Menschen ausgeschaltet und durch den göttlichen Geist ersetzt wird?

Die Hauptthese des Vfs. läuft darauf hinaus, dass Philo in seinen drei exegetischen Hauptwerken (der Expositio Legis: Opif, Abr, Jos, Mos 1-2, Decal, Spec 1-4, Virt, Praem; den Quaestiones et Solutiones: QG 1-4, QE 1-2; den Allegorischen Kommentar) je nach pragmatischer Gattungsfunktion unterschiedliche "soteriologische Profile" des Gottesbewusstseins vorstellt.

In der Expositio Legis (EL), die der Vf. mit den übrigen Einzeltraktaten als "missionstheologische Schriften" zusammenfasst, wird als soteriologisches Ziel nicht nur eine Überhöhung des ÓÔÜ durch die Inspiration vertreten, sondern auch eine Veredelung des Leibes. In der Tat ist ja auffällig der Unterschied der Adamfigur in Opif einerseits (Adams überragende körperliche Schönheit und Vollkommenheit) und im Allegorischen Kommentar andererseits (Adam als Symbol des irdischen nous, der ohne Erlösung "tot" ist). Die "Hochschätzung der geschöpflichen Vernunft" in der Expositio Legis erklärt sich durch die "missionarische Tendenz" dieses Werkes, seiner "Werbung ... für eine Lebenspraxis". Exemplarisch wird an Virt 211-219 gezeigt: Abrahams Inspiration bewirkt keinen "Untergang" des menschlichen Geistes. "Es liegt ... eine synergistische, rationalistische Inspirations- und Ekstasedarstellung vor" (216 f.). Adam, Abraham, Josef und Mose werden nach dem Muster der theios aner-Vorstellung präsentiert.

In den Quaestiones et Solutiones (QS) wird dagegen ein "ekstatische[s] Gottesbewußtsein" entworfen - vom Vf. exemplarisch gezeigt an QE 2.29 (er nennt das auch "monadisches Gottesbewußtsein": ontologische Mystik, bei der die Zahlensymbolik, insbesondere die "Eins", eine Rolle spielt). Der "Sitz im Leben" der QS ist die "wissenschaftliche Einführung in die anspruchsvolle Exegese" (die QS enthalten sowohl literale als auch allegorische Exegesen). Diese Form der Ekstase ist nicht permanent. Das ekstatische Gottesbewusstsein vergeht, hat aber bleibende soteriologische Wirkung auf den nous.

Der Allegorische Kommentar (AK) schließlich verschärft den Begriff des Gottesbewusstseins im Sinne des Dualismus. Hier ist Philos soteriologische Mystik am Weitesten entwickelt und am Tiefsten theologisch durchdacht. Gezeigt wird das exemplarisch an Her 63-74. Das Gottesbewusstsein entmachtet den selbstmächtigen, sich für autonom haltenden ÓÔÜ: Der Mensch erfährt sich als dem transzendenten Gott ausgeliefert. Dieses Bewusstsein geschieht durch die charis Gottes und entspricht weitgehend dem paulinischen Begriff von "Glauben". Im Unterschied zum ekstatischen Gottesbewusstsein ist es von Dauer: eine Demutshaltung vor Gott und ein nicht zu verlierendes Vertrauen in ihn (als wahres Bewusstsein gegenüber einem hybriden: insofern "dualistisch").

Bevor diese exemplarischen Analysen durchgeführt werden (40-250), stellt der Vf. "erkenntnisleitende Beobachtungen" vor (4-39), die auf knappstem Raum den neuesten Stand der Philoforschung repräsentieren und die der Vf. in seinen Textanalysen berücksichtigt (und an einem Punkt noch vorantreibt): Philo ist in erster Linie Exeget; er verbindet das Interesse an "allegorischer Kontemplation und traditioneller Orthopraxie" (13). Vor allem aber postuliert der Vf. eine genaue synchrone Exegese (im Sinne einer interpretatio continua) der Schriften Philos, um der "Steinbruch"-Methode zu entgehen. Das erklärt zugleich, warum er nur exemplarische Exegesen durchführen kann. Hier liegt dann freilich auch ein Problem, das mit seinem wichtigsten Beitrag zur Philoforschung zusammenhängt, der gattungsanalytischen Erklärung der inhaltlichen Differenzen in den drei Schriftengruppen. Die Bestimmungen der pragmatischen Funktionen sind an sich plausibel: öffentliches Werben um die gebildeten Heiden (EL) - exegetisches Handbuch für das Studium (QS) - mystagogische Entbergung der theologischen Tiefen der Tora (AK).

Das heißt aber nicht, dass Philo für jede der drei Gattungen eine durchgehende eigene Form der Mystik entwickelt hat. Für den AK nimmt der Vf. dann auch vier Formen "veränderter Bewußtseinszustände" an: (1) prophetische Mantik (possession-trance)", (2) "zeitlich begrenzte mystische Ekstase (vision-trance), (3) "Erleuchtung bei der exegetischen Arbeit" und schließlich (4) "zeitlich unbegrenzte nichtekstatische Mystik der Gotteshingabe" (204 f.).

Weder kommt die "zeitlich begrenzte" Ekstase nur in den QS vor noch die (nach Meinung des Vf.s) "unbegrenzte" nur im AK. Die "unbegrenzte" ist auch kein Habitus, sondern - wie der Glaube im Neuen Testament - ein Widerfahrnis. Darum kann auch die "begrenzte" eben diesen Glauben ausdrücken. Der Aufstieg des Mose auf den Sinai ist ebenso wie das Eintreten des Hohenpriesters ins Allerheiligste ein vorübergehendes Ereignis, und Philo erklärt den Abstieg bzw. das Verlassen des Allerheiligsten explizit als Begrenztheit der mystischen Erfahrung des nous. Der Vf. beruft sich für seine These von der Permanenz der Gotteshingabe auf Her 63-74, doch steht Her 84 (Motiv des Hinein- und Hinausgehens des Hohenpriesters) noch im gleichen Zusammenhang. Und Her 69 enthält explizite Ekstaseterminologie. So konstatiert der Vf. dann auch eine "Verschränkung von ekstatischer und nichtekstatischer Mystik" im AK (213-215). Dann kann man aber sagen, dass die Ekstase (wie der Sinai-Aufstieg, der Seelenflug und die Pneuma-Inspiration) ein Modell darstellt für den soteriologischen Prozess überhaupt (vgl. 4, Anm. 11).

Neu in der Philoforschung ist auch das Bestreben des Vf.s, den Texten "psychagogische Übungen" zu entnehmen, wie etwa "ständige Widerholung", "Zuhören, Lesen, Schreiben und ... ständige innere Beherzigung der Lehren" (58; vgl. 2; 58-63; 147-154; 213). Hier werden (ähnlich wie bei der Einteilung der mystischen "Bewußtseinszustände") moderne religionsphänomenologische Kriterien herangezogen. Überhaupt geht es dem Vf. um die "menschlichen Erfahrungen" und das "soziale Leben" hinter den Texten, "das sie hat entstehen lassen" (4, Anm. 11). Dabei scheinen mir jedoch hermeneutische Vorbehalte angebracht zu sein. Zweifel habe ich auch an der These von der unio mystica mit Gott - allenfalls gibt es diese Einung des Menschen mit dem Logos (wie denn auch Philos negative Theologie etwas zu kurz kommt). Überhaupt hängt Philos Mystik wohl mehr von der antiken Ontologie ab als von Bewusstseinszuständen. Und schließlich ist der Begriff theios aner (für Adam, Mose und die Erzväter) problematisch (Philo spricht in Anlehnung an die Septuaginta immer nur vom anthropos theou).

Gegen Ende des Buches, in einem großartigen (in manchen Formulierungen auch erschreckenden) Finale, identifiziert sich der Vf. mit der Mystik des AK und kommt dabei zu wunderbaren Formulierungen:

"Gottes Logos und nicht der endliche Nous ... wird zum Axiom aller Wirklichkeitserkenntnis. Und damit kommt es zu einer radikalen ,Erniedrigung' der menschlichen Intellektualität vor Gott, nicht als Entwertung der Vernunft, sondern als Reaktion auf ihre Absolutsetzung. Es ist gerade das Höchste im Menschen, das seine Niedrigkeit eingestehen muß, um realistisch zu bleiben. Philo hat damit den objektiven Idealismus Platons entscheidend vertieft" (232).

"Weil es ... keinen von Gott unabhängigen, verobjektivierbaren Besitz gibt, so gibt es auch keinen rational absteckbaren exegetischen Besitz. Exegese setzt darum als charismatisches Gnadengeschehen (Cher 27 f.), als Widerfahrnis der Gnade Gottes, immer erneut ein, läßt sich überraschen, kann gar nicht mit den Texten fertigwerden, sondern wird ein Spiel, das immer neue Einsichten zeigt" (233 - zur Allegorese).

"Mystik ist nicht einfach Weltflucht, sondern politisch reflektierte kritische Distanz zur Welt, die durchaus in revolutionäres Handeln umschlagen kann" (247, Anm. 721).

Unter dem Begriff "zentrale ,dogmatische Grundwahrheiten'" nennt der Vf. acht "polare Aussagenpaare" (wie "Nichts ist mein Besitz - Alles ist Gottes Besitz" oder "Nicht ich habe mich in der Hand - Ich bin in Gottes Hand"), darunter auch eine, die für Philo zutrifft, mit der man sich aber als Christ nicht ohne weiteres identifizieren kann: "Das Besondere ist vergänglich - das Allgemeine ist unvergänglich". Liebe ist immer Zuwendung zum Besonderen, nicht zum Allgemeinen, zur Idee, Philo spricht deshalb niemals von Gottes "Liebe" (agape), sondern von Gottes "Vollkommenheit" (agathotes). Sein Gottesbewusstsein lässt Leidenschaft nicht zu. - Trotz der angedeuteten Kritik halte ich dieses Buch für eines der bewegendsten und spannendsten, die ich zum Thema Philo kenne.